Die Perspektive des 19. Jahrhunderts auf den Deutschen Bund
Der Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren charakterisierte den Deutschen Bund 1816 als "Centralstaat" von Europa und als europäischen Friedensstaat. Er sei ein wesentliches Element für das europäische Gleichgewicht und stehe im Gegensatz zur napoleonischen "Universalmonarchie" über Europa. Seine geographische Lage mache den deutschen Bundesstaat zum "Mittelpunct dieses Systems". Mit fast allen europäischen "Hauptstaaten" habe er gemeinsame Grenzen. Europäische Ereignisse könnten ihm ebenso wenig gleichgültig bleiben wie den anderen Mächten das politische System des Zentralstaates von Europa. Ein deutscher nationaler Einheitsstaat mit seinem Gesamtpotential könnte hegemoniale Tendenzen entwickeln. Er würde "binnen kurzem das Grab der Freyheit von Europa" werden.
Heeren verwies aus einer von ihm in seinen Werken unterstrichenen gesamteuropäischen Sichtweise auf ein Kernproblem deutscher Staatlichkeit: Die deutsche Frage und die Bedingungen ihrer Lösbarkeit sind ein Schlüsselproblem der europäischen Ordnung und des internationalen Systems geblieben. […] Seine positive Bewertung des Deutschen Bundes, seine Hoffnung, dass dieser als Föderativordnung den europäischen Frieden sichern und einen Machtstaat im europäischen Zentrum verhindern werde, trug dazu bei, dass dieser Gedanke, der "so etwas wie sein politisches Vermächtnis" war, seit dem Vormärz "das Haupthindernis der Heerenrezeption" (Christoph Becker-Schaum) wurde. Seine Sichtweise passte nicht in eine am Nationalstaat orientierte deutsche Geschichtsschreibung.
Arnold Hermann Ludwig Heeren und Ernst Moritz Arndt |
Der Deutsche Bund entsprach nicht der Vorstellung von einem machtvollen Staat. Schon 1815 hatte der 1860 verstorbene Ernst Moritz Arndt dem Bund die Fähigkeit abgesprochen, die politische Zerrissenheit Deutschlands zu überwinden. Er könne nicht begreifen, "wie die Deutsche Bundesversammlung den deutschen Kaiser ersetzen kann, wie ein Staat vieler Staaten bestehen kann ohne eine mächtige zwingende Gewalt". In der Schlussphase der Napoleonischen Kriege hatte Arndt Preußen und seine Tugenden als Retter "Germaniens" und der "Freiheit der Welt" gepriesen und geurteilt, dass "Teutschlands Heil am meisten von Preußen ausgehen kann". Heinrich von Treitschke, der Trommler für ein "preußisches Reich deutscher Nation", hatte seit den 1860er Jahren einen preußisch geführten nationalen Einheitsstaat gefordert und den "deutschen Beruf" Preußens ideologisch vorbereitet. In seinem Festvortrag zur 50-Jahrfeier der zum nationalen Mythos stilisierten Leipziger Völkerschlacht von 1813 wurde der "Geist von 1813" beschworen. Nun eröffne sich eine zweite Chance für ein einiges, freies Deutschland, nachdem die erste 1815 verpasst worden sei. Den Deutschen Bund charakterisierte Treitschke im Mai 1866 als die "Internierung des Leichnams der deutschen Einheit" und freute sich, dass er "die Leiche des deutschen Bundes noch unbegraben in Verwesung übergehen" sehe. Als Institution sei er "armseliger als ein Staat dritten Ranges" gewesen. Den preußischen Sieg kommentierte Treitschke Ende Juli 1866 so: "Mit der Beseitigung der kleinen Kronen vollzieht sich nur ein Act der historischen Nothwendigkeit. Wer aus der Vergangenheit aller Nationen Europas noch immer nicht gelernt hat, dass die Kleinstaaterei in gereiften Culturvölkern keine Stätte hat und der Zug der Geschichte auf das Zusammenballen großer Massen weist, dem müssen [ ... ] endlich sich die Augen öffnen." Das Ende des Deutschen Bundes bedeutete für den als Burschenschafter verfolgten Historiker Wolfgang Menzel, dass "die großen Hoffnungen der deutschen Nation in Erfüllung gehen" und der Deutsche Bund, "das jämmerlichste Pfuschwerk, das die Weltgeschichte je gesehen hat", von einem starken Nationalstaat abgelöst werde.
Heinrich von Treitschke und Wolfgang Menzel |
Das Negativbild Arndts über den Deutschen Bund und sein Bedauern, dass sich die auf Preußen gesetzten Hoffnungen der deutschen Nation wegen der Politik Metternichs nicht verwirklichen ließen, fand über Wolfgang Menzel, Heinrich von Treitschke und Heinrich von Sybel Eingang in das preußisch-deutsche Geschichtsbild. Die "kleindeutschen Geschichtsbaumeister" (Ernst Schulin) versuchten die Reichsgründung von 1870/71 historisch zu legitimieren. Sie verknüpften die vermeintlichen Erwartungen der deutschen Nation von 1813 auf Einheit und Freiheit und die historische Mission Preußens für Deutschland. Was 1815 Preußen in einer "Lebensfrage" der deutschen Nation verwehrt worden sei, werde nun endlich Wirklichkeit. Preußen habe seinen "deutschen Beruf" mit der Reichsgründung gegen den Widerstand Österreichs und anderer Partikulargewalten machtvoll durchgesetzt.
Die Reichshistoriographie prägte die deutsche Geschichtsschreibung. Eine von ihren "Geschichtsbaumeistern" entworfene und dominierte preußisch-kleindeutsche, am deutschen Nationalstaat ausgerichtete Nationalgeschichte des 19.Jahrhunderts hat wegen der internationalen Bedeutung und Wirkung der deutschen Geschichtswissenschaft — auch bis weit in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts — das Bild von der deutschen Geschichte zwischen 1800 und 1866/71 nachhaltig beeinflusst und geprägt. Es entstand ein falsches, verzerrtes, am nationalen Machtstaat orientiertes Bild vom Deutschen Bund. Er wurde, wie es der britische Historiker James Viscount Bryce formulierte, als "Notbehelf" gesehen und als "unbefriedigender Kompromiß" zwischen der "Realität lokaler Souveränität und dem Schein nationaler Einheit, der nach einem unedlen und über ein halbes Jahrhundert oft bedrohten Leben auf den Schlachtfeldern von Königsgrätz und Langensalza ohne Bedauern zu Tode kam". Der liberale britische Historiker William Harbutt Dawson verachtete ihn als die "organisierte Uneinigkeit". Er nannte den Bund ein "sterilisiertes Kind des Partikularismus".
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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