Soziale Frage
Soziale Frage und Reformbewegungen (1): Industrie
Der Reallohn der Industriearbeiter stieg zwischen 1860 und 1914 um etwa 100%. Das änderte nichts daran, dass die Arbeitszeiten lang und die Sicherheitsstandards bei der Arbeit niedrig waren. Die Frauen- und Kinderarbeit nahm zu: "Jede fünfte, im allgemeinen unverheiratete Frau über 16 Jahren war am Jahrhundertende berufstätig - durchweg in untergeordneten Berufen -, und die Zahl der arbeitenden Kinder hatte in den voraufgegangenen drei Jahrzehnten um 130% auf 1,8 Millionen zugenommen" (Dippel, a.a.O., S. 71). Daneben gab es Diskriminierung. Weiße verdienten mehr als Schwarze, Schwarze mehr als Asiaten, Männer mehr als Frauen, Protestanten mehr als Katholiken. Sozialversicherungen fehlten, Slums breiteten sich aus.
Streiks galten als Verschwörung und wurden unterbunden, wobei auch Polizei zum Einsatz kam und es Tote gab, wie etwa 1886 auf dem Haymarket Square in Chicago.
Zwar gab es gut gemeinte Antitrust-Gesetze gegen die wachsende Konzentration in der Wirtschaft, z.B. den 1890 verabschiedeten Sherman Antitrust Act, aber eine konservative Justiz wandte diese wirtschaftlich ziemlich wirkungslosen Gesetze gegen die Versuche der Arbeiter an, sich organisatorisch zusammenzuschließen.
Die Gewerkschaftsbewegung blieb schwach. Seit 1869 bestand der "Order of the Knights of Labor", der aber nach 1887 seine Bedeutung verlor. Die 1886 gegründete "American Federation of Labor" (AFL) stand nur Facharbeitern offen. Obwohl der Marxismus keine Chancen hatte und die Arbeiterbewegung reformorientiert war, standen ihr weit verbreitete wirtschaftsliberale Überzeugungen in der Bevölkerung, der American Dream vom allen möglichen Aufstieg, der Glaube, Gewerkschaften seien unamerikanisch und antinational, die Spaltung der Bevölkerung durch die oben genannten Diskriminierungen und die geschlossene Front von Big Business und konservativer Justiz entgegen. Erst im New Deal der 1930er-Jahre machten gewerkschaftliche Ansätze Fortschritte.
Soziale Frage und Reformbewegungen (2): Landwirtschaft
In der Landwirtschaft wuchs die Produktion durch die Ausweitung der Anbauflächen und die Maschinisierung gewaltig an. Aber gerade dies verhinderte den Wohlstand der Masse der Farmer, denn der Preis für landwirtschaftliche Güter sank gleichzeitig. "So stieg beispielsweise der Weizenertrag von 179 Bushel (1 Bushel = 35,23 l) im Jahre 1859 auf 599 Bushel im Jahre 1900. In der gleichen Zeitspanne sank aber der durchschnittliche Preis pro Bushel von ca. 2 Dollar auf 62 Cents" (Guggisheim, a.a.O., S. 146). Aus dem landwirtschaftlichen Selbstversorger war um 1900 längst ein spezialisierter landwirtschaftlicher Unternehmer geworden, der für Binnenmarkt und Export produzierte.
Die Preise für landwirtschaftliche Maschinen wie für Verbrauchsgüter überhaupt stiegen andererseits in dem durch Schutzzölle abgeschotteten und von monopolistischen Unternehmen geprägten amerikanischen Markt. So stieg die Verschuldung der Farmer dramatisch an, die immer mehr Darlehen aufnehmen oder sogar ihren Landbesitz verpfänden mussten. Kredite durch die Banken wurden deshalb auch immer knapper. Entsprechend sahen die Farmer die Schuldigen an ihrer Misere in den Eisenbahngesellschaften mit ihren hohen Frachtpreisen, in den Schutzzöllen und in der Kreditpolitik der Banken.
So entwickelte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine "agrarische Revolte". Es kam zur Gründung von Farmerorganisationen, die die agrarischen Interessen gegen die Vorherrschaft von Big Business in der Politik durchsetzen sollten. 1867 wurden die "Patrons of Husbandry" oder Grangers gegründet, die auch mit Kooperativen zu helfen versuchten, in den 1880ern entstand die "Farmer's Alliance", um 1889 der nationale Farmerbund und 1892 endlich eine dritte Partei neben Republikanern und Demokraten, die People's Party. Sie verlangte "eine abgestufte Einkommensteuer, ein nationales Kreditsystem für die Landwirtschaft, die Verstaatlichung der Eisenbahnen und die Wahl der Senatoren durch das Volk" (ebd., S. 147), außerdem die Kontrolle der Monopole, den Acht-Stundentag für Industriearbeiter, eine allgemeine Erhöhung der umlaufenden Geldmenge und die Beschränkung der Einwanderung. Die neue Partei errang im Westen und Süden in den 1890er-Jahren große Erfolge, so dass auch die Präsidenten die neue Bewegung nicht mehr auf Dauer ignorieren konnten, umfasste diese in der Zwischenzeit doch Industriearbeiter, Farmer, Frauen und Schwarze. Man sprach von der "populistischen Bewegung" bzw. dem "Progressive Movement".
Soziale Frage und Reformbewegungen (3): Die Reformen unter den Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson
Theodore Roosevelt (1901 - 1909): Programm des "Square Deal"
Folgende Maßnahmen wurden ergriffen:
- Roosevelt regte einige Prozesse gegen Trusts an, den bedeutendsten gegen die Northern Securities Company unter J.P. Morgan. Er endete mit deren Auflösung.
- Einrichtung des "Bureau of Corporations" durch den Kongress, das zur besseren Kontrolle der großen Gesellschaften dienen sollte, allerdings mit wenig Erfolg.
- Erlass des Elkins Act von 1903 (Die großen Gesellschaften mussten ihre Tariflisten veröffentlichen und Ermäßigungsbestimmungen einhalten) und des Hepburn Act von 1906. Dieses Gesetz verbot Sondertarife im Eisenbahnwesen und zielte auf Entflechtung von Eisenbahngesellschaften, Schifffahrtsgesellschaften und Kohlengruben.
- Gesetze zur Lebensmittel- und Arzneikontrolle (Meat Inspection Act und Pure Food and Drug Act 1906)
- Eingreifen der Bundesregierung in einen Streik der Kohlengrubenarbeiter vom Mai bis Oktober 1902, auch aus Angst vor einem Kohlenmangel. Die Minenbesitzer wurden angewiesen, sich einem Schiedsgerichtsverfahren zu unterziehen. Bei dem Streik ging es um die Einführung des Acht-Stundentags und eine beträchtliche Lohnerhöhung.
- Einsatz für den Naturschutz. Entstehung einzelstaatlicher Naturschutz-Kommissionen und 1909 Bildung des "Amerikanischen Naturschutzverbandes" (National Conservation Association).
- Einladung Booker T. Washingtons, eines schwarzen Pädagogen, Sozialreformers und Vorkämpfers für die Rechte der Afroamerikaner, ins Weiße Haus
Reformen unter Woodrow Wilson (1912 - 1919): "New Freedom"
Folgende Maßnahmen wurden ergriffen:
- Underwood Tariff 1913: Reduzierung der hohen Schutzzölle
- Federal Reserve Act 1913: Schaffung eines Zentralbanksystems. Es erlaubt die Steuerung der Konjunktur durch aktive Geldpolitik.
- Clayton Antitrust Act 1913: Verbot des Zusammenschlusses von Großunternehmen durch Verflechtung von Direktorenposten. Gewerkschaften fallen nicht unter antimonopolistische Maßnahmen. Erschwerter Einsatz juristischer Mittel durch Unternehmer bei Lohnkämpfen.
- Gesetz zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Seeleuten
- Acht-Stundentag für Eisenbahnarbeiter
- Kreditsystem für Farmer, das die Hypothekenzinsen reduzierte.
Mit diesen Reformen war das Prinzip des "Laissez faire" eingeschränkt, aber nicht komplett abgeschafft. Der nächste soziale und wirtschaftliche Reformschub kam nach dem Boom der 1920er-Jahre mit dem New Deal unter Franklin Delano Roosevelt in den 1930er-Jahren. Er nahm Ideen des Progressivismus wieder auf.
Aufgaben:
1. Vergleiche die Entwicklung der Industriearbeiterschaft in den USA mit der in Deutschland.
2. Erkläre den Zusammenhang von Modernisierung der Landwirtschaft und zunehmender Armut der Farmer.
3. Zeige, wie aus einer wirtschaftlichen Notlage politische Betätigung entsteht - am Beispiel des "Progressive Movement".
4. Vergleiche die sozialpolitschen Maßnahmen der refomorientierten Präsidenten mit denen im Deutschen Kaiserreich. Berücksichtige dabei die politischen Voraussetzungen.
Vertiefung/Binnendifferenzierung:
Finde heraus, wie mit einzelnen Streiks verfahren wurde - recherchiere hierzu im Internet.
Viele Zitate und Belege in diesem Artikel stammen aus folgenden Werken:
- Hans R. Guggisberg: Geschichte der USA, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975, Zweite Auflage, Band 1
- Horst Dippel: Geschichte der USA, München 1996
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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