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Götz Aly: Im Bannkreis des Bösen

Will man die innere Dynamik des nationalsozialistischen Staats begreifen, müssen die gesellschaftlichen Dunkelzonen, die jenseits aller Ideologie bestanden, ins Auge gefasst werden. Die Morde an zunächst 70 000 psychisch Kranken waren bis zum Sommer 1941 leichter vonstattengegangen, als die Organisatoren anfangs erwartet hatten. Oft wird gesagt, jene Männer von der Aktion T4, die erst Behinderte mittels Gas ermordeten und dann Juden, hätten die Euthanasiemorde zum Vorlauf des Holocaust werden lassen. Damit wird jedoch der entscheidende Zusammenhang hinter technischen und personellen Kontinuitäten verdeckt. Der Fall liegt weniger bequem.

Vor allem lehrte die Aktion T4 ihre Initiatoren: Ein solches Großverbrechen kann mitten in Deutschland durchgeführt werden. Weil die Deutschen den Mord an den eigenen Volksgenossen hinnahmen, gewannen die führenden Politiker die Zuversicht, sie könnten noch größere Verbrechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen. Wer zulässt, dass die eigene an Schizophrenie leidende Tante in der Gaskammer stirbt oder der fünfjährige spastisch gelähmte Sohn die Todesspritze erhält, den wird das Schicksal der als Welt- und Volksfeinde verfemten Juden nicht kümmern, der wird gleichgültig bleiben, wenn zwei Millionen sowjetische Gefangene binnen sechs Monaten verhungern, damit deutsche Soldaten und deren Familien mehr zu essen haben.

Wie bei der Aktion T4 ging die NS-Führung auch bei der "Endlösung der Judenfrage" tastend und schrittweise vor. Sie nahm bestimmte Gruppen von der Deportation aus, an denen sich Widerstand hätte kristallisieren können: sogenannte Halbjuden und jüdische Ehepartner von Nichtjuden. Sie behandelte Veteranen des Ersten Weltkrieges und Alte zunächst etwas milder. Erst wurden Ostjuden ermordet, dann die deutschen und westeuropäischen Juden; erst die Männer, dann alle; erst diejenigen, die als arbeitsunfähig galten, dann jedoch alle. Zunächst sollte das Zentrum der Vernichtung in Weißrussland fernab entstehen, dann stellte sich heraus, das Projekt "Endlösung" könnte auch weiter im Westen, selbst auf annektiertem deutschen Boden, in Auschwitz, ins Werk gesetzt werden.

Die Vorsicht und das Austesten möglicher Widerstände und Grenzen folgten den Erfahrungen aus der Aktion T4. Im einen wie im anderen Fall ermöglichten Hitler, seine Mitführer und Berater dem Volk das Wegsehen, erfanden mäßig verhüllende Tarnbegriffe. An die Stelle des Begriffs "Verlegung" rückten sie die Begriffe "Evakuierung" und "Arbeitseinsatz im Osten". All das geschah unter dem Stichwort "geheime Reichssache" mit dem einzigen Ziel, der eigenen Bevölkerung das Schweigen, das Hinnehmen zu erleichtern und sie damit zugleich umso fester an die Führung zu binden. Dafür war es erforderlich, dass in kontrollierter Weise spürbar blieb, dass jeder und jede Deutsche in den Sog ungeheuerlicher Verbrechen gerieten und halbbewusst in die Alternative Endsieg oder Untergang getrieben wurden — und sich hatten treiben lassen.

Zudem hatte das autoaggressive Moment der Aktion T4 die Mehrheit der Deutschen moralisch abgestumpft. Von Anfang an wohnte dem biopolitischen Programm Erbhygiene der Hang zur Selbstverstümmelung inne. Das galt für die Zwangssterilisierung von 350 000 Deutschen während der ersten nationalsozialistischen Jahre und erst recht für die physische Vernichtung körperlich und geistig Gebrechlicher. Eine Gesellschaft, die sich selbst fortwährend derartige Schmerzen und Verluste zufügt, verroht, wird auch nach außen immer aggressiver. Sie verliert die Skrupel, empfindet es sogar als gerecht, wenn Ähnliches und Schlimmeres anderen Menschen angetan wird, zumal solchen, die als fremd oder feindlich gelten.


(aus: Götz Aly, Die Belasteten, Frankfurt/Main: S. Fischer 2013, S. 287-289)


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