Sinti und Roma im Geschichtsunterricht der Kursstufe
Befragt man Schülerinnen und Schüler über ihre Assoziationen zu „Sinti und Roma“, fällt auf, dass oftmals auch in der Oberstufe kein oder nur rudimentäres Vorwissen über die Minderheit vorhanden ist – obwohl etwa 8,5 Millionen Personen dieser Volksgruppe in Europa leben, davon etwa 70.000 in Deutschland, sodass sie als größte europäische Minderheit anzusehen sind.
Wenn Assoziationen vorhanden sind, dann vielmehr unter dem Terminus „Zigeuner“ – allerdings sind diese gruppenbezogen menschenfeindlich meistens negativ konnotiert, indem pauschal kriminelles Verhalten zugeschrieben wird, oder es werden romantisierende Klischees genannt, beispielsweise Freiheit und Naturverbundenheit und ein Leben auf der Reise. Angehörige der Minderheit werden nach wie vor häufig als „Zigeuner“ und „Zigeunerin“ bezeichnet, obwohl dieser Begriff von fast allen Interessenvertretungen der deutschen Sinti und Roma abgelehnt wird. Ferner werden sie immer noch häufig als Nicht-Deutsche wahrgenommen, wenngleich viele Familien seit Jahrhunderten in Deutschland leben und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.
Die genannten Vorurteile, die schon seit Jahrhunderten auf einen großen Teil der Minderheit nicht mehr zutreffen, führen zu einer kontinuierlichen Stigmatisierung. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die Problematik des „Zigeuner“-Begriffs, die vielschichtigen Lebenswelten von Sinti und Roma sowie ihre Geschichte, die von Ausgrenzung und Assimilation, von Abneigung und Romantisierung gekennzeichnet ist, nach wie vor nur wenigen bekannt ist, da die Minderheit im schulischen Kontext stiefmütterlich behandelt wird. So wird die Personengruppe zwar im aktuellen Bildungsplan Geschichte 2016 genannt (3.3.1 (3) [Bildungspläne Baden-Württemberg]), allerdings nur für Klasse 9/10, nicht jedoch für die Kursstufe, wohingegen Antisemitismus sowie Holocaust – Shoa nachvollziehbarerweise auch im Plan der Kursstufe enthalten sind (3.4.3 (4) (7) [Bildungspläne Baden-Württemberg]). Dies ist ein wichtiger Unterschied zum Bildungsplan 2004, da die Minderheit hier zwar nicht in Klasse 9, dafür aber für den zwei- und vierstündigen Kursstufenunterricht (2. Deutschland im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Diktatur) explizit ausgewiesen wurde. Gerade in der Kursstufe ist das Potenzial vorhanden, diese Thematik oberstufengerecht anhand differenzierter und anspruchsvoller Quellen zu erarbeiten und dadurch auch einen Beitrag zur rassismuskritischen Bildung zu leisten.
Deportation von Sinti und Roma aus Asperg, 22. Mai 1940.
Unterrichtsvorschlag
Der vorliegende Unterrichtsvorschlag (AB1 [pdf, 0,4 MB] und AB2 [pdf, 0,5 MB]) ist mit dem Ziel verbunden, diese Leerstelle zu füllen. Gleichzeitig bindet er an die oben genannten inhaltsbezogenen Kompetenzen Holocaust – Shoa an. Hierbei wird die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma zunächst kursorisch in Form eines Infoblattes mit Quellen und Arbeitsaufträgen skizziert, wobei auch auf die Forschungsfrage eingegangen wird, inwiefern es sich hierbei um einen Völkermord handelte. Im nächsten Schritt erhalten die Schülerinnen und Schüler Informationen über die Praxis der Wiedergutmachung nach 1945, da zu diesem Themenkomplex höchstwahrscheinlich wenig Vorwissen vorhanden ist. Die Wiedergutmachung für Sinti und Roma wird anhand von regionalen Fallbeispielen aus dem Raum Karlsruhe und Heidelberg thematisiert. Durch den regionalgeschichtlichen Ansatz kann Schülerinnen und Schülern einmal mehr bewusst gemacht werden, dass Ausgrenzung, Verfolgung und Deportation auch fernab zentraler Städte wie beispielsweise Berlin und München stattgefunden haben. Dies unterstützt auch die Forschungserkenntnisse, denen zufolge gerade die zunehmende Radikalisierung der Ausgrenzung und Verfolgung auf die Dynamik lokaler Initiativen und Machttragenden sowie Mittäterinnen und Mittätern aus der Bevölkerung zurückzuführen war.
Indem den Schülerinnen und Schülern die Verfolgungsgeschichte einer ihnen oftmals unbekannten oder nur in Stereotypen bekannten Personengruppe anhand von Einzelfällen nähergebracht wird, wird deren Schicksal für sie greifbarer. Ferner können sie die Kontinuität der Stigmatisierung über 1945 hinaus erkennen und dabei unterstützt werden, eigene Stereotype kritisch zu überprüfen. Hierbei muss beachtet werden, dass die vorhandenen Quellen aus den Entschädigungsakten in der Regel nicht objektiv sind und somit kritisch hinterfragt werden müssen. Die Geschichte der Sinti und Roma würde somit um die Jahre nach 1945 erweitert. Dies geht auch damit einher, dass ihre Geschichte nicht nur auf ihre Rolle als im Nationalsozialismus Verfolgte beschränkt wird, sondern gerade ihre bleibend schwierige Situation und ihren Kampf um Anerkennung der Verfolgung nach 1945 in den Fokus gerückt wird.
Differenzierungsmöglichkeiten für das Basis- und Leistungsfach
Differenzierungsmöglichkeiten gibt es in der Auswahl der Fallbeispiele. So könnte für das Basisfach nur das erste Fallbeispiel herangezogen werden. Dieses ist möglicherweise etwas einfacher zu bearbeiten, da es zum einen einen geringeren Quellenumfang aufweist und zum anderen die Quellen direkt an den Darstellungstext anschließen und somit mit dessen Hilfe bearbeitet werden können. Im fünfstündigen Leistungsfach könnten beide Fälle oder schwerpunktmäßig der zweite Fall besprochen werden. Dieser ist etwas umfangreicher, ferner sind die Schülerinnen und Schüler hier noch mehr als im anderen Fallbeispiel dazu angehalten, eine Quellenkritik vorzunehmen, um die Argumentationen gerade der zweiten und dritten Quelle kritisch zu überprüfen.
Verfolgung vor der Haustür - Regionalgeschichtliche Differenzierung für die Sekundarstufe I
Am Beispiel der württembergischen Kleinstadt Schorndorf werden Schicksale von Menschen untersucht, die nicht zur "Volksgemeinschaft" gehörten.
zum Unterrichtsvorschlag: Verfolgung vor der Haustür
Weiterführende Literatur (kommentiert)
Benz, Wolfgang, Sinti und Roma. Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus, Berlin 2014.
Der Autor stellt anhand verschiedener Beiträge mit unterschiedlichen Schwerpunkten Geschichte und Gegenwart des Antiziganismus dar. Der Band enthält sowohl wissenschaftliche Aufsätze des Autors als auch Gespräche mit verschiedenen Interviewten.
Fings, Karola / Sparing, Frank, Der Völkermord an den Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Lokale Vorstöße, zentrale Initiativen und europäische Dimensionen, in: Von Mengersen, Oliver (Hrsg.): Sinti und Roma. Eine Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation (= Schriftenreihe Bundeszentrale für Politische Bildung 1573), Bonn – München 2015, S. 101-123.
Dieser Aufsatz veranschaulicht, auf welche Weise Kommunen an der Verfolgung der Sinti und Roma gerade in ihrer ersten Phase mitwirkten und wie durch lokales Handeln die Radikalisierung der Verfolgung bedeutend vorangetrieben wurde.
Krausnick, Michail, Abfahrt Karlsruhe. 16.5.1940 – Die Deportation der Karlsruher Sinti und Roma, Ubstadt-Weiher – Heidelberg – Neustadt a.d.W.2 2015.
Anhand persönlicher Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie archivarischer Quellen wird in diesem Band die Geschichte der Verfolgung, Deportation und Wiedergutmachung der Karlsruher Sinti dargestellt.
Reuss, Anja, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015.
Die Studie setzt den Fokus auf die Ausgangssituation und Lebensverhältnisse von Sinti und Roma nach 1945 und thematisiert hierbei die kontinuierliche Diskriminierung und Kriminalisierung der Minderheit.
Reuter, Frank, Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners“, Göttingen 2014.
Bei dieser Studie handelt es sich um eine systematische Untersuchung der Fotografien sogenannter „Zigeuner“ und deren Rolle bei der Entstehung und Festlegung von Vorurteilen gegenüber der Minderheit. Der Autor setzt den Schwerpunkt auf die „Zigeuner“-Fotografie im Nationalsozialismus, beleuchtet aber auch die Entwicklung des „Zigeuner“-Bildes im 19. und 20. Jahrhundert sowie nach 1945 und nimmt hierfür unterschiedliche Formate und Medien in den Blick.
Reuter, Frank, Zentrale Direktive und lokale Dynamik: Der nationalsozialistische Völkermord an den südwestdeutschen Sinti und Roma, in: Steinbach, Peter – Stöckle, Thomas – Thelen, Sibylle – Weber, Reinhold (Hrsg.), Entrechtet – verfolgt – vernichtet. NS-Geschichte und Erinnerungskultur im deutschen Südwesten (= Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württemberg 45), Stuttgart 2016, S. 120-140.
Der Autor skizziert anschaulich anhand von Beispielen von verfolgten Sinti und Roma einerseits und Tätern aus Politik, Wissenschaft und Polizei andererseits die Geschichte der Minderheit. Hierbei setzt er den Schwerpunkt auf die nationalsozialistische Verfolgung, thematisiert aber auch die Situation der Sinti in der Frühen Neuzeit und nach 1945.
Von dem Knesebeck, Julia, The Roma Struggle for Compensation in Post-War Germany, Hatfield 2011.
Als eine der wenigen Arbeiten zur Nachkriegssituation von Sinti und Roma untersucht Julia von dem Knesebeck schwerpunktmäßig die Wiedergutmachung für Sinti und Roma und zieht hierfür nicht nur veröffentlichte Urteile, sondern auch Wiedergutmachungsakten Betroffener heran.
Großer Dank gilt Vanessa Hilss für die kollegiale Kooperation bei der Erstellung dieses Moduls.
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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