Der Angriff aus dem Westen
Der muslimische Blick auf Europa
Damals [um das Jahr 1000] wussten die Muslime so wenig von Westeuropa wie die Europäer zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Zentralafrika. Für die Muslime bestand der Kontinent zwischen Byzanz und Andalusien aus Urwäldern, in denen Menschen lebten, die so primitiv waren, dass sie sogar Schweinefleisch aßen. Wenn Muslime von "Christen" sprachen, dann meinten sie damit die Angehörigen der byzantinischen Kirche oder der kleineren Gemeinden in den von Muslimen beherrschten Gebieten. Sie wussten, dass einst weiter westlich eine Hochkultur bestanden hatte: In Italien und Teilen der Mittelmeerküste, die regelmäßig von Muslimen überfallen wurden, waren noch immer die Ruinen zu sehen. Doch diese Kultur war bereits im Zeitalter des Unwissens, lange vor der Ankunft des Islam, untergegangen und war kaum mehr als eine dunkle Erinnerung.
Mit dieser Ansicht lagen die Muslime gar nicht so falsch. Europa hatte sich lange in einem schrecklichen Zustand befunden. Unter den Angriffen der germanischen Stämme, der Hunnen, der Awaren, der Magyaren, der Muslime, der Nordmänner und anderer war es im Dunkel versunken. Die meisten Menschen in Europa waren Bauern, die sich von früh bis spät abrackerten, um nicht zu verhungern und eine kleine Oberschicht des Kriegeradels und des Klerus zu ernähren (und da die Angehörigen der Geistlichkeit nicht heiraten durften, rekrutierten diese sich zumeist aus dem Adel). Mit Ausnahme der wenigen, die in den Kirchendienst eintraten, lernten die Jungen der Oberschicht weder Lesen noch Schreiben und beschäftigten sich nur mit dem Kriegshandwerk.
Kreuzritter in einem Gefecht vor den Mauern Antiochias im Zuge der Belagerung der Stadt in den Jahren 1097 und 1098 |
Europäischer Aufbruch
Irgendwann im 11. Jahrhundert bewirkte eine Reihe kleiner technologischer Neuerungen einen entscheidenden Durchbruch. Diese Neuerungen waren für sich betrachtet derart unbedeutend, dass sie seinerzeit vermutlich kaum Beachtung fanden. Die erste war die Entwicklung eines "schweren" Pfluges mit metallener Pflugschar, mit deren Hilfe die Ackerflächen auf Land ausgeweitet werden konnten, das zuvor als nicht bewirtschaftbar galt. Die zweite war eine Weiterentwicklung des Jochs zu einem Pferdegeschirr; nun konnten die Bauern zum Pflügen statt der langsamen Ochsen Pferde einspannen, die das Pflügen um etwa 5o Prozent beschleunigten. Die dritte Neuerung war die Drei-Felder-Wirtschaft. Die Bauern ließen nun ihre Felder nur noch jedes dritte Jahr statt wie bislang jedes zweite Jahr brachliegen und konnten so ihre jährliche Anbaufläche um ein Sechstel erhöhen. Für sich genommen bewirkte jede dieser kleinen Neuerungen nicht viel, doch langfristig wurden die Auswirkungen deutlich.
Etwa um die Jahrtausendwende erlebte Europa einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Bevölkerungszahlen wuchsen, doch die europäischen Gebräuche hatten in zwei entscheidenden Punkten nicht mit dieser Entwicklung Schritt gehalten. Erstens waren die Adeligen nach wie vor der Ansicht, Arbeit sei unter ihrer Würde; sie meinten, ihre Aufgabe bestehe darin, Land zu besitzen und Kriege zu führen. Zweitens bestand nach wie vor der alte Brauch, dass mit dem Tod des Landbesitzers dessen sämtliche Güter an den ältesten Sohn fielen, während die Jüngsten zusehen mussten, wo sie blieben.
Kreuzzüge als Ventil
Mit jeder Generation wuchs daher die Zahl der landlosen Adeligen, für die nur das Kriegshandwerk in Frage kam, und da die Zahl der Eroberungsfeldzüge zurückging, gab es einfach nicht genug Krieg für alle. Die Wikinger, die letzte größere Welle der Invasoren, stellte keine Bedrohung mehr dar, seit sie sich im 11. Jahrhundert in Europa festgesetzt und niedergelassen hatten. Trotzdem brachte das System mehr und mehr Ritter hervor.
Situation im Heiligen Land und der Hilferuf an den Papst
Der Hilferuf des byzantinischen Kaisers, der in der Schlacht von Manzikert 1071 von den Seldschuken gefangen genommen worden war, mischte sich in die zunehmenden Klagen von christlichen Pilgern, die aus dem Heiligen Land zurückkehrten. Dort hatten ebenfalls die türkischen Seldschuken das Regiment übernommen. Als frisch Konvertierte neigten sie — im Gegensatz zu den toleranten Fatimiden oder den trägen Abbasiden — zu religiösem Eifer und machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die Anhänger anderer Religionen, ganz besonders, wenn diese aus abgelegenen primitiven Gegenden kamen. Die Christen wurden im Heiligen Land plötzlich nicht mehr mit der früheren Gastlichkeit aufgenommen und sahen sich stattdessen andauernden Schikanen und Belästigungen ausgesetzt. Sie konnten die heiligen Stätten nicht mehr ohne Genehmigung besuchen, überall wurden sie als Letzte bedacht, jede Kleinigkeit kostete Geld. Als sie wieder nach Europa kamen, hatten sie also reichlich Grund zu meckern und zu klagen. Hinzu kam dann noch der erwachende Neid angesichts der Reichtümer, die sie im Orient gesehen hatten, Paläste und Seidenkleider, feines Essen, Gewürze und vor allem Gold, Gold, Gold... Dies brachte schließlich Papst Urban II. im Jahr 1095 während eines Konzils im französischen Clermont zu einer flammenden Rede. Vor einer Versammlung von französischen, deutschen und italienischen Adeligen warnte er, die Christenheit sei in Gefahr. Er führte aus, welchen Erniedrigungen die christlichen Pilger im Heiligen Land ausgesetzt waren und rief die Christen auf, ihren Brüdern zu Hilfe zu kommen und die Türken aus Jerusalem zu vertreiben. Urban schlug vor, wer nach Osten aufbreche, solle sich ein Abzeichen in Form eines Kreuzes anheften. Die Expedition solle sich croisade nennen, was vom Französischen für "Kreuz" kam. Und so sollten Historiker das Unterfangen schließlich nennen: Kreuzzug.
Die Eroberung von Jerusalem beim Ersten Kreuzzug 1099 |
Bewaffnete Pilgerfahrt
Indem er den Blick auf Jerusalem richtete, verband Urban die Invasion des Ostens mit einer Pilgerfahrt und machte sie so zu einem religiösen Akt. Mit der Autorität, die er als Papst hatte, erklärte er, dass jedem, der nach Jerusalem zog, um Muslime zu töten, die Sünden erlassen würden. Wir können nur ahnen, wie seine Botschaft bei den Tausenden von rastlosen, rüpelhaften und orientierungslosen jungen Adeligen ankam. Im Grunde verkündete Urban: "Auf nach Osten! Tobt euch als die Kampfmaschinen aus, zu denen euch die Gesellschaft erzogen hat, stopft euch die Taschen voller Gold, nehmt euch das Land, das euch zusteht, und fahrt zum Dank dafür nach eurem Tod in den Himmel auf!"
Wie die Muslime die Kreuzfahrer erleben
Als die ersten Kreuzfahrer in die islamische Welt kamen, hatten die Einheimischen keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. Zunächst nahmen sie an, es handele sich um Söldner aus dem Balkan, die der Kaiser von Konstantinopel angeheuert hatte. Der erste muslimische Herrscher, der es mit ihnen zu tun bekam, war der Seldschukenfürst Kilidsch Arslan, der von der Stadt Nikäa aus, drei Tagesreisen von Byzanz entfernt, über Ostanatolien regierte. Eines Sommertags im Jahr 1096 erhielt Prinz Arslan die Nachricht, ein Trupp seltsam aussehender Krieger sei in sein Territorium eingedrungen. Seltsam deshalb, weil sie so miserabel ausgerüstet waren: Einige erinnerten tatsächlich entfernt an Krieger, aber die meisten schienen eher eine Art Gefolge darzustellen. Fast alle trugen sie ein kreuzförmiges rotes Abzeichen auf den Kleidern. Arslan ließ sie verfolgen und beobachten. Auf diese Weise erfuhr er, dass sich diese Menschen "Franken" nannten; die Türken und Araber der Region nannten sie al-Frandsch. Die Eindringlinge bekannten freimütig, sie seien von weit her gekommen, um Muslime zu töten und Jerusalem zu erobern, doch zuerst wollten sie Nikäa besetzen. Arslan kalkulierte, welchen Weg sie einschlugen, lockte sie in einen Hinterhalt und zertrat sie wie Ameisen - er tötete viele, nahm mehr gefangen und jagte den Rest zurück auf byzantinisches Gebiet. Es war so einfach, dass er keinen weiteren Gedanken an sie verschwendete. Er hatte keine Ahnung, dass diese "Armee" lediglich die bunt zusammengewürfelte Vorhut einer Bewegung war, die die Muslime an der Mittelmeerküste zwei Jahrhunderte lang ärgern sollte.
Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Frankfurt/Main: Campus 2010, S. 144-47.
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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