Von Lackfrüchten und dem Guineawurm: Die Familie Friedmann in Indien
"Idu ore nalle Passu" ("Dies ist eine nette Kuh"), war der erste Satz, den der damals zwölfjährige Herbert Friedmann auf Tamil lernte, als er 1939 auf die St. Bede's School in Madras (heute Chennai) kam. Nur wenige Monate zuvor war Herbert Friedmann noch auf das altehrwürdige Karl-Friedrich- Gymnasium in Mannheim gegangen und hatte dort Latein gepaukt. Und auch sonst hatte sich die Kindheit von Herbert Friedmann und seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Gerhart lange in nichts von der ihrer arischen Altersgenossen unterschieden. In den Ferien waren sie mit ihrer Mutter zur Sommerfrische nach Holland ans Meer gefahren, und von den Sorgen ihres Vaters, des auf Haut- und Geschlechtskrankheiten spezialisierten Facharztes Martin Friedmann, dessen Praxis [...] seit 1933 immer mehr Patienten verlor, hatten die Kinder nichts mitbekommen.
Beim Reichspogrom im November 1938 aber wurden Wohnung und Praxis verwüstet, Martin Friedmann wurde ins KZ Dachau gebracht. Die Postkarte, die man ihm dort am 15.11.1938 gestattete, an seine Familie zu schreiben — "Ich bin in Dachau und gesund" —, lässt nicht ansatzweise erahnen, mit welchen Schreckensbildern der Arzt im Konzentrationslager konfrontiert wurde und dass er dort unter anderem mit ansehen musste, wie direkt neben ihm ein Mann brutal ermordet wurde. Nach den Tagen in Dachau war Martin Friedmann, wie seine Frau später berichtete, ein „veränderter gebrochener Mensch". Derweil trieb sie, Lili Friedmann, in Mannheim mit aller Energie die bereits vor dem Pogrom geplante Emigration nach Indien voran. Als sie bei der Gestapo in Karlsruhe den Pass ihres Mannes mit einem Visum für Indien vorlegen konnte, erreichte sie dessen Freilassung aus dem KZ. Martin Friedmann verließ Deutschland noch im November 1938. Seine Familie folgte ihm wenig später und kam im Januar 1939 in Madras an.
Lili und Martin Friedmann, 1926, Foto privat
Freilich blieb den Friedmanns wenig Zeit, sich an die neue Umgebung in Madras, ihr Haus mit einem Mangobaum im Garten, zu gewöhnen. Denn Martin Friedmann wurde unmittelbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 als feindlicher Ausländer inhaftiert und erst nach einigen Wochen in einem Militärlager in Ahmednagar im Norden Indiens wieder freigelassen. Nur wenige Monate später, Mitte August 1940, wurde die ganze Familie interniert und nach Yercaud gebracht, ein kleines Dorf in 1.500 Metern Höhe in den Shevaroy-Bergen [...]. Zwar konnten sich Friedmanns und die anderen Internierten [...] im Ort frei bewegen, doch gab es kilometerweit kein Dorf und keine Stadt, sodass ein Entkommen praktisch unmöglich war. Anders als die nichtjüdischen Internierten, die über den Schweizer Konsul finanzielle Unterstützung vom Deutschen Reich erhielten, waren die Friedmans in Yercaud mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Sie bekamen zwar während der Internierung Unterhalt und hatten einen Koch, doch lebte die Familie in bescheidenen Verhältnissen, in einem kleinen Häuschen, das weder über eine Toilette noch über fließend Wasser verfügte. Das Wasser musste in einem Brunnen geschöpft und abgekocht werden, bevor man es trinken konnte. Gegen ein geringes Entgelt behandelte Martin Friedmann zudem die übrigen Gefangenen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entschloss sich Martin Friedmann in Yercaud zu bleiben. Nun behandelte er dort die "Ärmsten der Armen", die Kulis der Kaffeeplantagen, die an Malaria, Tuberkulose oder Würmern litten. [...] Indes konnten viele der armen Plantagenarbeiter keine Honorare zahlen, und so verdiente Martin Friedmann weniger als 4.000 Rupien pro Jahr, umgerechnet nicht ganz 1.000 $. Zwar brachten viele Patienten ihrem Doktor Obst statt Geld, vor allem Jackfrüchte — süße und bis zu 15 Kilo schwere Brotfrüchte —, doch von Jackfrüchten allein konnte die Familie schlecht leben, und so erhielten die Friedmanns ab 1945 eine monatliche Unterstützung in Höhe von 150 Rupien von der Jewish Relief Association. [...]
Die ohnehin angespannte finanzielle Lage der Friedmanns verschlechterte sich dramatisch im Frühjahr 1953, als Martin Friedmann schwer krank wurde. [...] Freilich war er selbst „zu stolz", seinem Anwalt [...], der sich in Deutschland um die Wiedergutmachung für die Friedmanns kümmerte, davon zu berichten. Deshalb schrieb Lili Friedmann im April 1953, offenbar hinter dem Rücken ihres Mannes, einen Brief [...] und bat [den Anwalt] eindringlich darum, sich um die "beschleunigte Erledigung" der Wiedergutmachungsansprüche zu kümmern. Schließlich war es ihr "ein Rätsel & Martin eine entsetzliche Sorge", wie die Familie ohne das Einkommen aus der Praxis [...] über die Runden kommen sollte. Vermutlich ebenfalls auf Lili Friedmanns Initiative hin stellte Martin Friedmann im Mai 1953 einen Antrag auf laufende Unterstützungszahlungen beim bundesdeutschen Generalkonsulat in Bombay. Tatsächlich erhielten Friedmanns ab Juni 1953 monatlich etwa 440 DM vom Konsulat.
Unterdessen verschlechterte sich Martin Friedmanns Gesundheitszustand, denn zusätzlich zu seinem Herzleiden hatte er sich mit Amöbenruhr infiziert, einer bevorzugt in tropischen Gebieten auftretenden Darminfektion. Am 28.8.1953 starb Martin Friedmann mit nur 63 Jahren. Für seine Witwe und die beiden Söhne setzte sich nun der Vizekonsul des deutschen Generalkonsulats höchstpersönlich ein und bat wegen ihrer "dringende[n] Notlage" das Landesamt für Wiedergutmachung in Karlsruhe um die rasche Bearbeitung der Wiedergutmachungsanträge. Lili Friedmann war inzwischen offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Denn im März 1954 war noch immer keine Entschädigung aus Deutschland eingetroffen, außerdem kürzte ihr nach einer Weisung des Auswärtigen Amts das Generalkonsulat die Unterstützung um die Hälfte. Empört wandte sich Lili Friedmann daraufhin an die deutschen Behörden und empfahl, falls diese mit ihrer "Juden-Ausrottungspolitik noch weiter zu machen" gedächten, sollten sie ihr "das nötige Cyanid" schicken und die Beerdigungskosten übernehmen. Ob dieser wütende Brief etwas ausrichtete, sei dahingestellt. Fest steht nur, dass im Mai 1954 das Landesamt für Wiedergutmachung einen ersten Bescheid erließ und der Familie Friedmann eine Wiedergutmachungszahlung in Höhe von gut 12.600 DM zusprach.
Lili Friedmann und Kinder, um 1932, Foto privat
Als nun auch die Entschädigungszahlungen aus diversen Restitutionsverfahren gegen das Deutsche Reich nach und nach eintrafen, entspannte sich die finanzielle Lage der Familie. In den 1950er Jahren siedelten Friedmanns in die USA bzw. nach Kanada über.
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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