Motive und Antriebskräfte: Zivilgesellschaft
Die Verflechtung der europäischen Gesellschaften hat in den letzten Jahrzehnten in einem Ausmaß zugenommen, wie sich das nach 1945 kaum jemand hätte vorstellen können. Reisen sind zur Selbstverständlichkeit geworden, die Fremdsprachenkenntnisse haben in ganz Europa vor allem über die lingua franca Englisch enorm zugenommen, der Transfer von Ideen und Lebensgewohnheiten innerhalb Europas beschleunigt sich zunehmend, sodass sich vieles in einem permanenten Prozess der Verflechtung und Anpassung innerhalb Europas annähert: vom Heiratsalter über die Familienstruktur bis zur Vereinheitlichung der Schulbildung, der Schulpflicht, von den Errungenschaften eines europäischen Sozialstaats bis zu ähnlichen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit.
Rückkehr von der Kavalierstour der Söhne des Grafen von Stadion nach Warthausen
J.H.Tischbein d.Ä. (?), ca. 1780
Foto: Wikipedia Commons
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Auch dies hat selbstverständlich historische Wurzeln: der kulturelle Austausch und die Reisetätigkeit lassen sich über die Grand Tour des 19. Jahrhunderts bis in die Renaissance zurückverfolgen. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der Massentourismus mit enormen Rückwirkungen auf die Massenkultur des Kontinents: mediterrane Essgewohnheiten bis hin zur Nachahmung eines (vermeintlich) Lebensstils einerseits, die Anpassung der Zielländer an die Bedürfnisse der Reisenden andererseits (Bsp.: Mallorca als 17. Bundesland) zeugen von einem permanenten Austauschprozess. Bis 1945 galten Fremdsprachenkenntnisse als ein Elitenphänomen – seither hat insbesondere im Hinblick auf Englischkenntnisse eine kulturelle Revolution stattgefunden. Man muss dem politischen Konstrukt EU ein Demokratiedefizit bescheinigen, das sich zunehmend auch zu einem Legitimitätsdefizit auswächst.
Pizza - ein interkulturelles europäisches Phänomen:
Mit dem Massentourismus haben sich auch die innereuropäischen Essgewohnheiten angeglichen.
Foto: Wikipedia Commons by Jakob Dettner
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Defizitär ist nach wie vor auch das, was man als europäische Öffentlichkeit bezeichnen kann: erst nach 1945 entsteht eine europäische Kulturszene. Im medialen Bereich spielt die Eurovision keine herausragende Rolle, auch wenn dies über das Leitmedium TV technisch möglich wäre (eine unwesentliche Ausnahme stellt der sog. ESC dar). Auch wenn es heute transnationale Netzwerke von Intellektuellen gibt, sind diese immer noch Teil einer Eliten-Öffentlichkeit.
Guido Thiemeyer schreibt hierzu:
"Welche waren nun die Antriebskräfte dieser gesellschaftlichen Angleichung und Verflechtung in Europa seit 1945? In der
Forschung lassen sich drei verschiedene Ansätze identifizieren, die einander zum Teil ergänzen: Der erste Ansatz sieht den
Prozess der Industrialisierung als den entscheidenden Motor der europäischen gesellschaftlichen Angleichung und
Verflechtung. Ein zweiter Ansatz betont die Bedeutung von politischen Entscheidungen für die gesellschaftliche
Integration Europas, während ein dritter als wichtigste Ursache gemeinsame Wertvorstellungen und Ideologien der Europäer
als Motor der Integration identifiziert."
(Thiemeyer, vgl. unten, S. 192)
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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