„Ich habe noch nie auch nur das leiseste Gefühl gehabt, dass ich mich einmal gegen die Menschenrechte vergangen hätte.“
Der ehemalige Landrat Paul Schraermeyer im Hechinger Deportationsprozess 1947/48

Hintergrund

Bedeutung

 

 

Aussage Schraermeyers vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Hechingen, 28. April 1947

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Aussage Paul Schraermeyers vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Hechingen, 28. April 1947

 

Die Mitwirkung des Hechinger Landrats Paul Schraermeyer an der Verschleppung der Haigerlocher und Hechinger Juden in den Jahren 1941 und 1942 verdeutlicht an einem konkreten Beispiel, dass die Shoah erst durch die Tätigkeit und Eigeninitiative Hunderttausender in vielzähligen Behörden und Organisationen ermöglicht wurde. Schraermeyer erscheint im Hechinger Deportationsprozess 1947/48 als „katholisch-konservativer“ Beamter, dessen Verhältnis zu den lokalen Nazigrößen keineswegs konfliktfrei war. Damit wird eine wesentliche Erkenntnis der Täter-Forschung der letzten Jahrzehnte konkret: Das Massenverbrechen der Shoah war nicht ausschließlich das Werk hochideologisierter und „linientreuer“ Gefolgsleute oder gar weniger blutrünstiger Exzess-Täter der Gestapo und SS. Es erschließt sich auch nicht in dem Bild eines anonymen bürokratisch-mechanistischen Prozesses ohne autonom handelnde Täter. Der Blick auf Mitwirkung und Eigeninitiative von Beamten der Zivilverwaltung veranschaulicht vielmehr die „arbeitsteilige Kollektivität“ eines Massenmordes, der der Mitwirkung und Eigeninitiative unzähliger „nachgeordneter“ Behörden bedurfte. Das Fallbeispiel Schraermeyer kann Lernende so dafür sensibilisieren, dass die Shoah eben nicht nur das Werk weniger „diabolischer“ Täter war und die einzelnen Maßnahmen keineswegs ausschließlich von Befehlsempfängern ohne eigene Spielräume vollzogen worden sind.

Die bei den Tätern anzutreffenden Rechtfertigungsargumentationen dienten nicht nur der nachträglichen Selbstentlastung. Sie können dem kriminellen Verhalten auch psychologisch den Weg geebnet haben. Die Analyse der Entlastungsstrategien bietet also auch Erklärungsansätze, warum so viele an den Massenverbrechen mitgewirkt haben.

Der Hechinger Deportationsprozess nimmt innerhalb der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Westdeutschland eine Sonderstellung ein. Erstmals widmete sich ein westdeutsches Gerichtsverfahren der Beteiligung von Angehörigen der Zivilverwaltung an der Verschleppung von jüdischen Deutschen aus dem Deutschen Reich. Es handelte sich um eines der wenigen Verfahren gegen die Zivilverwaltung. Der Freispruch Paul Schraermeyers in zweiter Instanz hatte Signalcharakter für die weitere Rechtsprechung: Angehörige der Zivilverwaltung wurden, abgesehen von zwei besonders gelagerten Fällen, nicht mehr angeklagt. Der Freispruch verdeutlicht damit ein Grundproblem der westdeutschen Justiz: die unzureichende juristische Verfolgung der NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit. Diese korrespondiert mit den Begleitumständen des Prozesses, die die mangelnde Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung zu einer adäquaten Aufarbeitung der Verantwortung und Mitverantwortung für NS-Verbrechen dokumentieren.


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -


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