„Ich habe noch nie auch nur das leiseste Gefühl gehabt, dass ich mich einmal gegen die Menschenrechte vergangen hätte.“
Der ehemalige Landrat Paul Schraermeyer im Hechinger Deportationsprozess 1947/48

Hintergrund

Zeittafel


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Zeugnis für das jahrhundertelange Zusammenleben von Juden und Christen in einer schwäbischen Kleinstadt: Die ehemalige Synagoge in Haigerloch

 

B 4
Ausgangspunkt für drei der vier Deportationsmaßnahmen: Der Bahnhof Haigerloch

 

18.11.1941
Erster Erlass der Staatspolizeileitstelle Stuttgart an die Landräte zur Deportation von Juden „im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung“. Aufforderung zur administrativen Vorbereitung der Deportation: Sammlung der Opfer, Sicherstellung des Vermögens, Durchsuchung der Personen, Kontrolle des Gepäcks, Überstellung ins Sammellager Stuttgart.

27.11.1941
Erste Deportation von Hechingen und Haigerloch ins „Reichskommissariat Ostland“: 122 Personen aus Hechingen und Haigerloch.

24.4.1942
Zweite Deportation „nach Osten“: 27 Personen

B 5
„Abgehakt und deportiert“: Diese Transportliste kam mit großer Wahrscheinlichkeit beim „Verladen“ der Juden auf dem Haigerlocher Bahnhof am 24. April 1942 zum Einsatz. Unter den aufgelisteten Personen finden sich drei Kinder im Alter von sechs, 14 und 36 Monaten. Keine der 26 aufgelisteten Personen kehrte lebend zurück.

 

10.7.1942
Dritte Deportation: zehn Personen ins Generalgouvernement

19.8.1942
Vierte Deportation: 138 Personen nach Theresienstadt. Von den insgesamt 290 Verschleppten sollen lediglich acht Personen die vier Deportationen überlebt haben.

20.12.1945
Der Alliierte Kontrollrat erlässt Gesetz Nr. 10 betreffend die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben.“ Darin wird festgelegt, dass die Besatzungsbehörden deutsche Gerichte für die Aburteilung von Verbrechen an Deutschen für zuständig erklären können. Angeklagte Regierungsbeamte dürfen nicht aufgrund ihrer Stellung als Beamte von der Verantwortlichkeit für etwaige Verbrechen befreit werden oder eine Strafmilderung erwarten. Lediglich „Befehlsnotstand“ darf strafmildernd berücksichtigt werden.

3.11.1946
Die Überlebende Selma Weil aus Haigerloch zeigt die Deportationen bei der französischen Gendarmerie in Tübingen an.

14.4. bzw. 6.5.1947
Fünf Beteiligte der Verschleppungen werden durch die Staatsanwaltschaft Hechingen angeklagt: der ehemalige Landrat von Hechingen Paul Schraermeyer (1884-1955, Landrat von Hechingen 1924-1945) wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, der frühere Amtsarzt des Kreises Hechingen und drei dienstlich dem Landrat unterstellte Frauen, die Leibesvisitationen vornahmen, wegen „Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

B 6
Voruntersuchungen des Landgerichts Hechingen gegen Schraermeyer, 23.4.1947

 

6.6.1947
Eröffnung der Hauptverhandlung vor der Strafkammer des Landgerichts Hechingen. Die französische Polizei Sûreté konstatiert, dass ein Großteil der Bevölkerung das Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Landrat für unangebracht hält. Dem Vorsitzenden Richter schlage eine geradezu feindselige Stimmung entgegen. Mit gezielten Aktionen werde versucht, die Hechinger Strafkammer unter Druck zu setzen und zugunsten des Angeklagten zu beeinflussen.

28.6.1947
Urteil in erster Instanz: Der Arzt wird freigesprochen, die drei Frauen werden mit ein- bis viermonatigen Freiheitsstrafen belegt. Paul Schraermeyer wird wegen „Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Es handelt sich um die erste Verurteilung eines Angehörigen der Zivilverwaltung für seine Beteiligung an Deportationen von Juden aus dem Reich. Die Öffentlichkeit reagiert auf den Schuldspruch laut Sûreté teilweise empört: es heiße, das Urteil sei „der NS-Zeit würdig“, quasi „das erste Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der neuen Demokratie“.

20.1.1948
Das Urteil gegen Paul Schraermeyer wird vom Oberlandesgericht Tübingen im Revisionsverfahren aufgehoben und an das Landgericht Tübingen zurückverwiesen. Die drei an den Leibesvisitationen beteiligten Frauen werden freigesprochen.

12.8.1948
Paul Schraermeyer wird vor dem Tübinger Landgericht freigesprochen. Nach seinem Freispruch fungiert Schraermeyer noch mehrere Jahre als Vorsitzender einer Kammer des Versorgungsgerichts Reutlingen.


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -


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