"Wohin soll ich gehen?" - Die Situation jüdischer DPs in Stuttgart und die Haltung der Bevölkerung
Methodenvorschlag
Verlaufsplanung mit Materialien
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Inhalte/ methodische Hinweise |
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G | M | E (G8/G9) | ||
Doppelstunde | ||||
Einstieg |
Der Einstieg erfolgt über das 1940 im Ghetto von Warschau entstandene jiddische Lied „Vu ahin zol ikh geyn?“ („Wohin soll ich gehen?“). Zunächst wird den Schülerinnen und Schülern eine vertonte Version vorgespielt. Aufnahmen finden sich auf Youtube, z.B. unter der Überschrift: Куда мне идти? Where Shall I Go? Vu Ahin Zol Ikh Geyn? (ACHTUNG! Es gibt ein weiteres Lied mit dem gleichen Titel, aber einem anderen Text!) Nach dem ersten Hören werden die Schülerinnen und Schüler gefragt, ob sie etwas verstanden haben bzw. ob ihnen die Sprache bekannt ist. Es wird vielleicht genannt werden, dass einzelne Wörter evtl. auch Verse verständlich sind, dass es aber doch irgendwie nicht Deutsch ist. Nun wird den Schülerinnen und Schüler der Text in Hebräisch, Jiddisch und Englisch vorgelegt mit der Aufgabe, diesen zu übersetzen. Hierbei stellen sie fest, dass es kein Problem ist, das Jiddische zu übertragen, dass diese Sprache v.a. in ihrer gesprochenen Form somit weniger fremd ist als z.B. das Englische. Auf diese Weise wird das eventuell von den Lernenden ursprünglich als fremd Wahrgenommene zu einem Teil des Eigenen. Neben dieser Funktion auf der Beziehungsebene verfolgt der Einstieg inhaltlich das Ziel, die ausweglose Situation der Juden während des Nationalsozialismus zu rekapitulieren und auf den Zustand nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu übertragen. Zu diesem Zweck werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert zu vermuten, wann dieses Lied entstanden ist, und es werden aufgrund ihres Vorwissens sicherlich Bezüge zu Konzentrationslagern bzw. Ghettos zur Sprache kommen. Daran schließt sich die Frage an, ob dieses Lied auch auf die überlebenden Juden nach Ende des Krieges passen könnte: Wohin können bzw. wollen diese nach ihrer Befreiung gehen? Die Leitfrage für diese Stunde lautet also: Wie gestaltet sich das Leben der in Deutschland verbliebene Juden nach 1945? |
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Erarbeitung I |
Am Beispiel von Stuttgart sollen die Lernenden die Situation der Überlebenden kennenlernen. Anhand des Leitartikels aus der Stuttgart Zeitung vom 25.2.1948 erarbeiten sie Herkunft sowie Lebensumstände der im DP-Lager Reinsburgstraße untergebrachten Juden. Sie erkennen, dass der Autor um Verständnis für die psychologische und soziale Lage der jüdischen DPs wirbt, und erhalten erste Hinweise auf Ressentiments bzw. mangelnde Unterstützung der Stuttgarter Behörden und der Bevölkerung diesen gegenüber. Des Weiteren sind die Lernenden aufgefordert, sich mit einem gängigen Argument nach dem Krieg auseinanderzusetzen, nämlich man habe von den Verbrechen an den Juden wenig bis gar nichts gewusst. Dass dies eine reine Verteidigungs- und Verdrängungsstrategie war, entlarvt der Leitartikel vom 25.2.1948, in dem – für manche Lernenden sicherlich auch erstaunlich, da auch unter ihnen der Mythos des „Die deutsche Bevölkerung wusste von nichts“ kursiert – nicht nur detaillierte Zahlen genannt, sondern auch von den NS-Behörden durchkalkulierte Wege der Vernichtung beschrieben werden. Trotz dieses Wissens scheint der Wille nach Wiedergutmachung in der deutsche Bevölkerung aber eher gering gewesen zu sein, wie der Artikel suggeriert. |
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Erarbeitung II |
Dieser Eindruck soll in einem zweiten Arbeitsschritt überprüft werden. Die Lernenden bekommen in Gruppenarbeit Ausschnitte aus 10 Leserbriefen zugeteilt. Diese sollen sie in Vorbereitung einer „Redaktionskonferenz“ arbeitsteilig lesen, schlagwortartig zusammenfassen und auf einer Meinungsskala einsortieren zwischen den Polen „Zustimmung“ zum Leitartikel und „Ablehnung“. Dies kann im Klassenzimmer über bunte Karten geschehen, die per Magnet an der Tafel positioniert oder auf Tischen ausgelegt werden. Im digitalen Unterricht kann man eine digitale Zeitleiste erstellen, in dem man die genannten Pole anlegt und die Schüler ihre Ergebnisse als „Posts“ zusammenfassen lässt. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich als Leserbriefredaktion über die Inhalte austauschen und entscheiden, ob sie alle oder ggfs. nur ausgewählte Briefe veröffentlichen wollen. Die Begründung wird entweder mündlich im Plenum vorgetragen bzw. über die Kommentarfunktion gepostet. In den Begründungen sollten nicht nur die inhaltlichen Stellungnahmen der Leser berücksichtigt werden, sondern auch z.B. die verwendeten Kraftausdrücke reflektiert und darüber diskutiert werden, ob man anonymen Beiträgen ein Forum bieten möchte. |
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Problematisierung |
In der sich anschließenden Problemdiskussion sollte deutlich werden, dass drei Jahre nach Kriegsende nur wenige bereit und in der Lage waren, sich mit den Gräueltaten gegenüber den Juden auseinanderzusetzen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Stattdessen werden die Bewohner der Reinsburgstraße kollektiv kriminalisiert, der Zusammenhang zwischen deutschem schuldhaften Handeln und DP-Problem wird ignoriert. Gründe für diese Haltung, wie sie zur damaligen Zeit typisch gewesen sein dürften, lassen sich aus den Leserbriefen herauslesen, so z.B. dass Deutsche ebenfalls leiden müssten (in einem Beitrag werden die Kriegsgefangenen genannt). Des Weiteren entlarven sich einige Leserbriefschreiber als Alt-Nazis („Heil Hitler“), bekannte Ressentiments gegenüber Juden werden weitertradiert („Schmarotzer“). Im Laufe der Stunde wurde somit die Leitfrage vom Anfang: Wie gestaltete sich das Leben der in Deutschland verbliebenen Juden? erweitert hin zu der ein Sachurteil einfordernden Problemfrage: Die überlebenden Juden – willkommene Mitbürger oder „Schmarotzer“? |
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Vertiefung |
Für eine sich anschließenden Vertiefung bietet sich die Reaktion der Herausgeber auf die Leserbriefe an, die ebenfalls am 28.2.1948 veröffentlicht wurde. Darin stützen die Autoren nochmals ihre Position mit weiteren Argumenten. Unter diesen sind zwei besonders eindrücklich: Zum einen, dass die jüdischen DPs „lieber heute als morgen“ auswandern würden, zum anderen, dass man eine „Kollektivschuld“, die man den jüdischen DPs zuschreibe, dann auch für sich selbst akzeptieren müsse. Beide Aspekte bieten weitere Anknüpfungspunkte. Die Frage der beabsichtigten Auswanderung schlägt den Bogen zum Einstieg und der Frage des Liedes „Wohin soll ich gehen?“. Damit einher geht ein Perspektivwechsel und die Frage: Wollen die Juden überhaupt in Deutschland bleiben? |
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Weiterführung |
Als Impuls könnte hier ein Auszug aus dem „Harrison-Report“, den ein amerikanischer Jurist bereits im August 1945 über die Situation der DPs und insbesondere der jüdischen DPs verfasst hat, dienen. (Für eine intensivere Beschäftigung mit dieser Quelle stehen längere Auszüge in „Geschichte lernen 199“ zur Verfügung.) In einer nächsten Stunde könnte man dann die jüdische Einwanderungsbewegung in Palästina thematisieren (entsprechend dem BP-Standard 3.3.2 (4) Fenster zur Welt: den Nahost-Konflikt im Kontext der Dekolonisierung erläutern und bewerten (Dekolonisierung, Shoah, UN-Teilungsplan, Palästina, Israel)) Ein weiterer möglicher Anknüpfungspunkt wäre die Frage nach der „Kollektivschuld“, die den Deutschen von den Alliierten nach dem Krieg zugeschrieben wurde und Basis für Reeducation und Entnazifizierung war, was ebenfalls Thema für eine Anschlussstunde sein könnte. |
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(Link aufgerufen am 13.09.2021)
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- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Stuttgart -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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