Lernort Lufthansa-Maschine "Landshut"

Autor/in: Johannes Gießler

Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Tübingen


Lufthansa-Maschine "Landshut", November 2023 (Bild: Johannes Gießler)

Kurzbeschreibung des Moduls:

Das Unterrichtsmodul ist auf zwei Doppelstunden angelegt und richtet sich an Lernende der Sekundarstufe II (BF und LF).  Die 1. Doppelstunde bereitet einen Besuch des „Lernort Landshut“ am Bodenseeairport Friedrichshafen vor. Die Schüler:innen versetzen sich in die Situation der Bundesregierung nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine Landshut und werden so für die konkrete Dilemmasituation der Regierung Schmidt sensibilisiert. Während des Besuchs des Lernortes soll die Ereignisgeschichte rund um die Flugzeugentführung und die Opferperspektive im Zentrum stehen. Der Lerngang ist auch ohne Exkursion umsetzbar; in diesem Fall wird der Besuch des Lernortes durch das digitale Angebot "Landshut 77, LH-181" ersetzt.  Die nachbereitende 2. Doppelstunde soll die Eindrücke und Erfahrungen der Exkursion entemotionalisieren. Die SchülerInnen beschäftigen sich v.a. mit der Frage, wie der Rechtsstaat und die Gesellschaft angesichts der terroristischen Bedrohung reagierten. Sie erkennen, dass das „Missverhältnis zwischen objektiver ‚Macht‘ der Terroristen und der durch sie in Staat und Gesellschaft hervorgerufenen Angst“ (Petra Terhoeven) typisch für diese Form der politischen Gewalt ist und die Debatten über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit mittelfristig zur Stabilisierung einer liberalen, rechtsstaatlichen, aber wehrhaften Demokratie beigetragen haben. Das Modul leistet einen Beitrag zur Demokratiebildung.


Hintergrund

Die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ am 13. Oktober 1977 durch palästinensische Terroristen auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Frankfurt ist eng verbunden mit der Entführung des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Hanns Martin Schleyer, durch die RAF (Rote Armee Fraktion).  Die Entführer forderten die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, aus der Haftanstalt Stuttgart Stammheim sowie von palästinensischen Häftlingen aus einem Gefängnis in Istanbul und drohten mit der Ermordung Schleyers und aller Passagiere sowie der Besatzung der Lufthansa-Maschine.  Sie zwangen das Flugzeug nach mehreren Zwischenlandungen, darunter Rom, Aden und Dubai, schließlich nach Mogadischu in Somalia. Dort stürmte am 18. Oktober 1977 die GSG 9, eine Spezialeinheit der Polizei, die „Landshut“ und töte drei der vier Entführer. Daraufhin begingen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord. Hanns Martin Schleyer wurde durch seine Entführer ermordet. Die Ereignisse markieren den Höhe- und Wendepunkt in der Auseinandersetzung des deutschen (Rechts-)Staates mit der RAF, der durch die Bildung eines „Großen“ und „Kleinen Krisenstabs“, einer Nachrichtensperre und dem Kontaktsperregesetz an den Rand eines Ausnahmezustands geraten war.

Bedeutung

Bereits 1987 bilanzierte der Terrorismusexperte Walter Laqueur die Geschichte der RAF mit dem Satz: „Selten ist so viel über so wenig geschrieben worden“; im Gegensatz zur Populärkultur findet die RAF in den baden-württembergischen Bildungsplänen für das Fach Geschichte keine Erwähnung. Der Fokus des Unterrichtsmoduls liegt daher auch nicht auf den ereignisgeschichtlichen Abläufen, sondern spürt der Frage nach, wie der Staat und die Gesellschaft als „bedrohte Ordnung“ im „Deutschen Herbst 1977“ auf den Terrorismus reagierten. Die im Grundsatz nicht falsche These „unser Rechtsstaat hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der RAF bewährt“ soll differenziert hinterfragt werden: Der Anteil der Deutschen, die im „Deutschen Herbst 1977“ die Wiedereinführung der Todesstrafe befürworteten, lag bei 67 Prozent. Diese Stimmung kann als Ergebnis eines Zusammenspiels von Politik, Medien und Gesellschaft verstanden werden. Die Wechselwirkungen zwischen politischen Entscheidungen, medialer Berichterstattung und gesellschaftlicher Stimmung werden von den Schüler:innen eingehend untersucht. Zentral ist die Erkenntnis, wie wichtig der Schutz und die Verteidigung fragiler rechtsstaatlicher Werte auch heute ist. Auch in der Gesellschaft der 1980er-Jahre trug das geschärfte Bewusstsein für diese Fragilität der Demokratie paradoxerweise zu ihrer Stabilität bei (Frank Biess). Indem die Schüler:innen gegenwärtige Symbolzuschreibungen zur Lufthansa-Maschine „Landshut“ (Symbol für den erfolgreichen Umgang mit Terrorismus? Symbol für eine „wehrhafte Demokratie“? …) reflektieren, wird ein Fokus auf die Stärkung von geschichtskultureller Kompetenz gelegt.


Verlaufsplan

Zeit/Phase Inhalte/methodische Hinweise

1. Doppelstunde (evtl. vorbereitend): Wie soll der Staat mit Terroristen umgehen?

Einstieg

Filmimpuls: Tagesschaubeitrag vom 13.10.1977

  • Gemeinsames Betrachten des Tageschauberichts (YouTube, 2.41 min)
  • Sammeln von Emotionen, Eindrücken und spontanen Wertungen
  • Kurze, prägnante Zusammenfassung der Entwicklung durch die Lehrkraft und Zuspitzung in Dilemma-Situation, etwa: "In dieser Situation hat Kanzler Schmidt bereits ein Rücktrittsschreiben formuliert für den Fall, dass etwas schiefgeht. Wie soll sich der Kanzler entscheiden: Mit den Terroristen verhandeln und die Geiseln gegen Gefangene austauschen oder das Flugzeug stürmen lassen?"
Mögliche Bündelung/Ableitung der Stundenfrage: Wie soll der Staat mit Terroristen umgehen?
Input / Erarbeitung 1

Grundlagen: Begriffs(er)klärungen und Stationen aus der Geschichte

Alternativ (als zeitökonomische Variante)

  • Überblick über die Vorgeschichte des „Deutschen Herbstes“ mit einem kompakten Historikertext (AB 3).
  • Podcast und dessen Auswertung als vorbereitende Hausaufgabe
Ergebnissicherung mündliche Besprechung der Ergebnisse (ggf. SP unter Doku-Cam)
Erarbeitung 2

Orientierung: Das „Undenkbare denken“

  • Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich (in GA oder PA) mit verschiedenen Materialien rund um den „Deutschen Herbst 77“ und erarbeiten Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung (AB 4); sie tragen ihre Ergebnisse auf dem Auswertungsbogen (AB 5) ein.
Ergebnissicherung
  • mündliche Besprechung der Ergebnisse (ggf. SP unter Doku-Cam)
  • Abgleich der erarbeiten Handlungsempfehlungen mit den protokollierten Vorschlägen des „Großen Krisenstabs“. (AB 6)

fakultative Exkursion zum Lernort Landshut am Bodenseeairport Friedrichshafen

Alternativ: Webseite der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland landshut77.de

2. Doppelstunde (evtl. nachbereitend): Wie reagiert die bedrohte Gesellschaft im „Deutschen Herbst 77“?
fakultativ

Nachbesprechung der Eindrücke und Erfahrungen der Exkursion zum Lernort

3 – 2 – 1 Methode: SuS notieren drei „Dinge“, die sie schon wussten; zwei „Dinge“, die ihnen neu waren und notieren eine Frage/einen Gedanken, die/der sie noch beschäftigt.
Einstieg

Spiegelcover aus dem Jahr 1977

  • Schülerinnen und Schüler nennen die dominierenden Themen des Jahres, bringen diese auf Begriffe und setzen sie in Beziehung zueinander.

Mögliche Bündelung: Wie reagiert die bedrohte Gesellschaft im „Deutschen Herbst 77“?

Alternativ (enger geführte Variante)

  • Schülerinnen und Schüler lesen kurze Einschätzungen zum „Deutschen Herbst“ und halten Gegensatzpaare fest.
  • Sammlung an der Tafel als Untersuchungsaspekte in der anstehenden Unterrichtsstunde.
Erarbeitung 1

Analyse: Reaktionen einer ‚bedrohten Ordnung‘ im „Deutschen Herbst 77“

  • Schülerinnen und Schüler analysieren in GA Quellen zu den Auswirkungen der terroristischen Bedrohung. Sie teilen dabei die Quellen untereinander auf und untersuchen sie unter drei Groß-Perspektiven: Perspektive 1 „Rolle der Mehrheitsbevölkerung“, Perspektive 2 „Politik und Rechtsstaat“ und Perspektive 3 „Rolle der Medien und Medienereignisse“.
Ergebnissicherung
  • Schülerinnen und Schüler tragen ihre Ergebnisse auf dem Auswertungsbogen (AB 16) ein. Sie tauschen sich anschließend aus und vervollständigen ihre Aufschriebe.
  • Gemeinsam bearbeiten bzw. diskutieren die SuS in der Gruppe weiterführende Aufgaben, und zwar im Hinblick auf Zusammenhänge und Wechselwirkungen.
  • Besprechung der Ergebnisse: SP des Auswertungsbogens unter Doku-Cam
Reflexion
  • Auf Grundlage der weiterführenden Aufgaben: Herausarbeiten von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen den Ebenen bzw. Perspektiven; entsprechende Eintragungen (Pfeile) auf dem Auswertungsbogen; Formulierung eines ersten Fazits.
Überleitung

Der „Deutschen Herbst 77“ als Wendepunkt der deutschen Geschichte

Impuls: Karikatur: „Vorsicht, Mann, nicht ins eigene Fleisch“, Horst Haitzinger, 1977.

  •  Schülerinnen und Schüler beschreiben und deuten die Karikatur; Charakterisierung des Spannungsverhältnisses von Freiheit und Sicherheit.
  • Evtl. zur Schärfung des Problembewusstseins: gemeinsames Lesen von Heinrich Böll, 1977: Briefe zur Verteidigung der Republik“
Erarbeitung 2 / Reflexion
  • Schülerinnen und Schüler analysieren Historikertexte zur Bedeutung des „Deutschen Herbstes“ für die Deutsche Geschichte. Eine arbeitsteilige Analyse ist möglich. Sie erkennen den „demokratisierende[n] und liberalisierende[n] Charakter“ (Conze) der Debatten um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit und erkennen die ‚nicht erfolgte Weiterentwicklung‘ einer „liberalen, aber wehrhaften Demokratie zu einem autoritären Sicherheitsstaat“ als große Leistung.
  • Sie tauschen sich anschließend aus und vervollständigen ihre Aufschriebe. entsprechende Eintragung auf dem Auswertungsbogen
 Transfer

Blick in die Gegenwart: Die „Landshut“ – ein Symbol wofür?

Impuls: (aktuelle) Zeitungsausschnitte mit verschiedenen Symbol-Zuschreibungen der „Landshut“

  • zunächst als stummer Impuls
  • Schülerinnen und Schüler äußern und positionieren sich vor dem Hintergrund des Gelernten zur Frage „für was“ die Landshut ein Symbol sein kann (wehrhafte Demokratie? ; Umgang mit Terroristen? ; den „Deutschen Herbst“?; den „starken Staat“? ; „die größte Staatskrise?“
  • (wehrhafte) Demokratie und wir?!: Mögliche Impulse zur Auswertung: Was bedeutet „wehrhafte Demokratie“? ; „ist Wehrhaftigkeit ausschließlich Aufgabe des Staates?“; „Wer schützt wen, vor was und wie?“

Materialien

Für Abbildungen, Materialien und differenzierte Arbeitsblätter zu diesem Modul und deren Verwendung im Unterricht schreiben Sie bitte eine eMail an landeskunde@zsl-bw.de.


Didaktische Hinweise und Bildungsplanbezug

Standardstufe: Sek. I Sek. II


Inhaltbezogene Kompetenzen:

3.4.5 West- und Osteuropa nach 1945: Streben nach Wohlstand und Partizipation (12.1, Basisfach)
3.4.6 West- und Osteuropa nach 1945: Wege in die postindustrielle Zivilgesellschaft (12.1, Leistungsfach)


Prozessbezogene Kompetenzen:

2.1 Fragekompetenz:

(3) Hy­po­the­sen auf­stel­len

(4) Un­ter­su­chungs­schrit­te zur Be­ant­wor­tung his­to­ri­scher Fra­gen pla­nen

nachvollziehe2.2 2.2 Methodenkompetenz:

(2) unterschiedliche Materialien (Texte) auch unter Einbezug digitaler Medien analysieren

(4) In­for­ma­tio­nen aus au­ßer­schu­li­schen Lern­or­ten aus­wer­ten

2.3 Reflexionskompetenz:

(2) his­to­ri­sche Sach­ver­hal­te in ih­ren Wir­kungs­zu­sam­men­hän­gen ana­ly­sie­ren (Mul­tik­au­sa­li­tät)

(3) Mög­lich­kei­ten und Gren­zen in­di­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Han­delns in his­to­ri­schen Si­tua­tio­nen er­ken­nen und al­ter­na­ti­ve Hand­lungs­mög­lich­kei­ten er­ör­tern

(7) Auswirkungen von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Menschen erläutern

(9) die Rol­le von Me­di­en in his­to­ri­schen Pro­zes­sen und für das Ge­schichts­be­wusst­sein ana­ly­sie­ren

2.4 Orientierungskompetenz:

(4) ei­ge­ne und frem­de Wert­ori­en­tie­run­gen er­klä­ren und über­prü­fen

(5) die Über­trag­bar­keit his­to­ri­scher Er­kennt­nis­se auf ak­tu­el­le Pro­ble­me und mög­li­che Hand­lungs­op­tio­nen für die Zu­kunft er­ör­tern

2.5 Sachkompetenz:

(2) Zä­su­ren und Kon­ti­nui­tä­ten be­nen­nen und in ih­rer Be­deu­tung be­ur­tei­len


Leitperspektive

Medienbildung (MB)

Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)


Literatur

  • Dokumentation der Bundesregierung zur Entführung von Hanns Martin Schleyer, München 1977.

  • Anne Ameri-Siemens: Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer, Berlin 2017.

  • Cord Arendes: Die „Landshut“ al deutscher Erinnerungsort, in: APuZ 40-41/2021.

  • Hanno Balz: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt 2008.

  • Johannes Hürter: Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik der 1970er Jahre in: Die RAF – ein deutsches Trauma, Mainz 2018.

  • Karrin Hanshew: Terror and Democracy in West Germany, Cambridge 2012.

  • Klaus Weinhauer u.a. (Hrsg.): Terrorismus in der Bundesrepublik, Frankfurt 2006.

  • Petra Terhoeven: Die Rote Armee Fraktion: Eine Geschichte terroristischer Gewalt, München 2017.

  • Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2. Bde, Hamburger Edition HIS Verlag, Hamburg 2007.

  • Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der RAF, Bonn, 2018.


Links


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Tübingen -


Der Text dieser Seite ist verfügbar unter der Lizenz CC BY 4.0 International
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

Bitte beachten Sie eventuell abweichende Lizenzangaben bei den eingebundenen Bildern und anderen Dateien.