Showdown an der Panzersperre im April 1945 – Die mutigen Frauen von Geislingen-Altenstadt
Hintergrund
Zeittafel
06. Juni 1944:
D-Day; Landung der Alliierten in der Normandie.
22. März 1945:
Amerikanische Truppen setzen bei Nierstein über den Rhein.
06. April 1945:
Einmarsch der US-Armee in Heilbronn.
10. April 1945:
Beginn mit dem Bau der Panzersperre an der Brauereiwirtschaft Adler in Geislingen-Altenstadt durch Bergmänner der Grube Karl (= Erzbergwerk in Geislingen).
16. April 1945:
Kampfkommandant Hauptmann Muck bezieht mit seinen Leuten Quartier im Lindenhof auf einer Anhöhe oberhalb Geislingen-Altenstadts.
18. April 1945:
Massiver Vorstoß der 7. US-Armee mit der 10. Panzerdivision voran von Schwäbisch Hall aus in Richtung Süden.
19. April 1945:
Amerikanische Truppen beginnen vom Remstal (Lorch) aus mit dem Einmarsch in den Kreis Göppingen.
Rund 60% den Bauerndorfes Wäschenbeuren wird dabei zuvor von einem massiven Luftangriff zerstört / mehrere Bewohner und Tiere finden den Tod – trotz offener Panzersperren und fehlender Gegenwehr [vielleicht zur Abschreckung für andere Gemeinden im Kreis?].
… (u.a.) über Maitis und Ottenbach geht der amerikanische Vormarsch ins mittlere Filstal nach Salach und Süßen weiter.
Fertigstellung der Panzersperre an der Brauereiwirtschaft Adler in Geislingen-Altenstadt / Sperrung der Steigen und Zufahrtsstraßen in die Stadt.
> etwa 11.30 Uhr
Ein Pionier-Oberleutnant besichtigt mit seinen Soldaten Schützenlöcher und gibt Befehl das Haus von Schlosser Jakob Brucker (Oberböhringer Str.7 – in der Nähe des Lindenhofs) wegen der Sicht zu sprengen – starker Protest Bruckers – Oberleutnant geht / Haus bleibt trotz Befehl noch stehen.
> am Nachmittag
Meldung: Amerikanische Truppen bis Süßen vorgerückt! Befehl des Kampfkommandanten Muck zum Schließen der Sperre am Adler in Altenstadt. Der für den Abschnitt zuständige Kompanieführer Major a.D. Hauptlehrer Maurer gibt Zugführer Herrlinger den Befehl weiter. Zugführer Herrlinger meldet zurück, dass wegen Protest von Frauen ein Schließen der Sperre nicht möglich sei. Kompanieführer Maurer meldet dies an Muck weiter, erhält Vorwürfe und wird für das Schließen der Sperre persönlich verantwortlich gemacht.
> etwa 15 Uhr
Kompanieführer Maurer lässt durch herumlungernde Polen (= Kriegsgefangene, die als „Ostarbeiter“ in der Stadtgemeinde oder in Gewerbebetrieben der Stadt zum Einsatz kamen) die Sperre schließen / eine Anzahl von Frauen schimpft laut darüber.
> Abends
Um ihre Häuser und den Stadtteil besorgte und zunehmend aufgebrachte Frauen öffnen die Sperre auf den Rat des Rentners Johann Mössmers (Stuttgarter Str.179) hin / vorbeikommende Polizeibeamte drohen mit schweren Strafen.
Kampfkommandant Hauptmann Muck verlässt zusammen mit den Bürgermeistern und den meisten NS-Ortsgruppenleitern die Stadt und bezieht Quartier auf der Alb – Begründung: Die Stadt sei nicht zu verteidigen.
20. April 1945:
> etwa 15 Uhr
Balken werden wieder in die Sperre eingelegt – vermutlich von Leuten der Organisation Todt [OT] (= paramilitärische NS-Bautruppe).
> zwischen 17 und 18 Uhr
4 Frauen entfernen Balken aus der Sperre unter der Zustimmung von 40-50 Zuschauern.
> etwa 19.30 Uhr
Ein etwa 30 jähriger OT-Führer mit seinen 10 Leuten will die Sperre wieder schließen – er wird von Rentner Mössmer gepackt und von zwei Frauen verprügelt / 100 Zuschauer feuern diese teilweise an („No druff!“) – die OT-Leute flüchten.
> ab 21.30 Uhr (bis 0.30 Uhr)
Frauen aus den angrenzenden Wohngebieten versuchen die Konstruktion der Sperre unbrauchbar zu machen – es gelingt ihnen nur teilweise.
> etwa 23.30 Uhr
Volkssturm-Bataillonsführer Ranz befiehlt im Auftrag des Kampfkommandanten die sofortige Schließung der Sperre. Meldung aus dem Rathaus: Reichsstatthalter Wilhelm Murr verhängt den Ausnahmezustand über Geislingen – d.h. wer Sperren entfernt soll sofort erhängt werden! Kompanieführer Maurer versucht daraufhin die Gründe der Bevölkerung würdigend zu erklären – kommt zu deren Schutz aber dem Befehl zur Schließung der Sperre nach.
21. April 1945:
> zwischen 1 bis 3 Uhr
Sperre wird durch Männer des 3.Zugs der 10. Kompanie des Volkssturmbataillons V Göppingen ausgebessert und geschlossen.
> 6.30 Uhr
Viele Menschen aus der Nachbarschaft um die Sperre in Geislingen-Altenstadt versammeln sich wieder dort und beratschlagen was zu tun sei.
> ab 7.30 Uhr
Frauen beginnen Balken zu entfernen und teilweise zu zersägen – trotz verschiedener Drohungen:
1) Pionier-Oberleutnant: „Wenn Ihr noch einen Balken anrührt, lasse ich Euch erschießen!“
2) Abschnittsführer Maurer kommt vorbei und gibt die Verfügung des Reichsstatthalters über den Ausnahmezustand bekannt. Antwort der Frauen: „Wir hören mit der Beseitigung der Balken erst auf, wenn wir einen Schutz bekommen, der uns verteidigt.“
3) Drei Polizeibeamte auf einem Motorrad mit Beiwagen zeigen ein Schriftstück und lesen vor, dass das Standrecht verhängt sei und die Panzersperre nicht entfernt werden dürfe.
> etwa 12.30 Uhr
4) Jemand ruft: „Jede wird gehängt, die die Panzersperre entfernt!“ Darauf stellen die Frauen die Arbeit wieder ein – das Meiste war eh geschafft – und begeben sich zum Mittagessen.
> etwa 14 Uhr
Amerikanische Truppen an der Siechenbrücke am Eingang von Geislingen-Altenstadt / jugendliche Wachen in Zivil an der Sperre flüchten und werfen ihre Gewehre dabei in die Fils.
Rentner Mössmer und eine Frau, die der englischen Sprache mächtig sind, gehen den Amerikanern entgegnen.
Reste der Sperre werden beseitigt und die US-Truppen können ungehindert passieren.
08. Mai 1945:
Bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
November 1945:
Die an den Ereignissen um die Beseitigung der Panzersperre in Altenstadt beteiligten Personen werden von der Stadtverwaltung zu einem Kaffeekränzchen in das Gasthaus zum ‚Adler’ in Altenstadt eingeladen und ihre Namen mit Anschriften auf einer Liste festgehalten.
21. April 1947:
Die Druckerei Maurer stellt 78 Urkunden unendgeldlich her.
30. April 1947:
Der Verwaltungsausschuss der Stadt Geislingen unter Vorsitz des amtierenden Bürgermeisters thematisiert die Ehrung der Frauen durch die Urkunden und spricht sich dafür aus und befindet, dass „die Sache wert sei, lokalhistorisch festgehalten zu werden“. Die Liste der Beteiligten soll durch die Fraktionsvorsitzenden geprüft werden.
09. Juni 1947:
Rückmeldung an den Bürgermeister Dr. von Siebold, dass gegen die Listen keine Bedenken von Seiten der Fraktionsvorsitzenden vorliegen.
September 1947:
Auf Veranlassung des neu ernannten Oberbürgermeisters Dr. von Siebold kommt es zu einer (peinlichen) polizeilichen Vorladung und Befragung der Frauen mit anschließender eidesstattlicher Erklärung, ob sie denn tatsächlich unter Zeugen beweisen könnten, dass sie bei der Entfernung der Panzersperre beteiligt waren.
Laut Befragungsbericht des Polizeioberinspektors Hofschneider vom 29. September 1947 sind von 68 aufgeforderten Frauen 49 erschienen. 19 hätten der Vorladung nicht Folge geleistet, und er empfiehlt: „… am besten würde, von einer weiteren Ehrung dieser Frauen Abstand zu nehmen sein.“
09. Oktober 1947:
Unter dem Tagesordnungspunkt ‚Symbol für die ‚Mutigen Frauen‘ von Altenstadt gibt es im Gemeinderat eine breite Diskussion darüber, ob und in welcher Form den mutigen Frauen von Altenstadt eine Gedenktafel beim ‚Adler‘ angebracht oder gar ein Denkmal errichtet werden solle – Beschluss eines Künstlerwettbewerbs und der Bewilligung von 3.000 RM dafür.
28. April 1949:
Ob man sich letztlich im Rathaus vielleicht doch der Empfehlung des Polizeiinspektors Hofschneider angeschlossen hat bleibt offen. Eine abschließende Erklärung über einen Verzicht auf die Ehrung der Frauen ist nicht vorhanden. Die letzte Aktennotiz dazu mit dem gestempeltem Datum 28. April 1949 lautet: „Geislinger Frauen – H. Rubensdörffer [=Ratschreiber] bitte verakten.“
2002 bis 2015:
Fund der 78 Urkunden im Stadtarchiv durch Stadtarchivar Hartmut Gruber und Aufarbeitung der Hintergründe; Veröffentlichungen dazu in Ausstellungen und Artikeln; Beschluss des Gemeinderates zur späten Ehrung durch eine Gedenktafel und Festakt
21. April 2015:
Anbringung einer Gedenktafel beim ehemaligen Altenstädter Rathaus und Feierstunde zum Gedenken an die Ereignisse vor 70 Jahren.
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Stuttgart -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
Bitte beachten Sie eventuell abweichende Lizenzangaben bei den eingebundenen Bildern und anderen Dateien.