Vom "Truppenjesus" zum Regierungsschulrat: Kurt Knittel und der Umgang mit der eigenen SS-Vergangenheit

Hintergrund

Zeittafel


1910

23.09.1910  Geburt Kurt Knittels in Karlsruhe, Eltern: Julius und Anna Knittel

1914

01.08.1914  Ausbruch des Ersten Weltkrieges

1918

03.11.1918  Matrosenaufstand in Kiel

09.11.1918 „Novemberrevolution“: doppelte Ausrufung der Republik

1917-1929   Kurt Knittel ist Schüler am Humboldt-Realgymnasium Karlsruhe,  
Abschluss: Abitur

1929

Kurt Knittel wird Mitglied der Studentenverbindung „Franco-Alemannia
Karlsruhe“

25.10.1929 Mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse am sogenannten „Schwarzen Freitag“ beginnt die Weltwirtschaftskrise

1931-1932

bis 04/1931 Student an der pädagogischen Akademie Karlsruhe

1931 Kurt Knittel legt die Lehrerprüfung in Karlsruhe ab

1931-1933  Mitglied des Karlsruher Männerturnvereins

bis 09/1932 Vorbereitungsdienst als Volksschullehrer in verschiedenen Volksschulen

09/1932-04/1934 privater Hauslehrer bei Dr. Graf Cartlow-Heyden in Pommern

1933

30.01.1933 Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler

01.09.1933 Eintritt Knittels in die SS als Schulungs- und Pressereferent beim SS-Sturm 9/32 in Schwetzingen (SS-Nummer: 182.172), Redaktionsmitarbeiter der NS-Zeitung „Der Führer“

01.12.1933 Eintritt Knittels in den NS-Lehrerbund

1934

04/1934 Rückkehr Knittels in den Staatsdienst

1935

bis 07/1935 Knittel unterrichtet an verschiedenen Volksschulen in Karlsruhe und Umgebung

1935 Knittel legt die zweite Lehrerprüfung in Karlsruhe ab

07/1935-12/1936 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Zentralbibliothek Karlsruhe

1937

01.05.1937 Mitglied der NS-Volkswohlfahrt

ab 01.05.1937 Parteianwärter der NSDAP

01.08.1937 Mitglied im Reichslehrerbund

1938

ab 07/1938 Lehrer im Staatsdienst

22.04.1938 Knittel gibt seine Ermächtigungsurkunde zur Erteilung von Religionsunterricht zurück

Kurt Knittel 1938

B 5 Kurt Knittel 1938

1939

01.09.1939 Ausbruch des 2. Weltkrieges

ab 10.12.1939 Knittel wird Mitglied der bewaffneten Verbände der SS

1940

05/1940  Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz; Lagerkommandant wird der in Baden-Baden geborene Rudolf Höß

ab 08/1940

Hauptlehrer an der Volksschule Karlsruhe (offizielle Dienststelle);
Angehöriger (SS-Mann) der 9. Kompanie, 8. SS-Totenkopfstandarte in Krakau und Radom
23.08.1940  Beförderung zum SS-Sturmmann (= SS-Sturmmann war von 1933 bis 1945 der zweithöchste Rang der Dienstgradgruppe der Mannschaften der Schutzstaffel (SS)

Herbst 1940  Angehöriger der Wachmannschaft im KL Sachsenhausen

14.11.1940  Knittel ist in der Kolonialpolizeischule Oranienburg / Abteilung "Weltanschauliche Erziehung" (ideologische Schulung) für die Ausbildung von ausgewählten Beamten der Ordnungspolizei, die auf den Dienst in den zukünftigen deutschen Kolonien vorbereitet werden sollten, zuständig

1941

30.01.1941 Knittel wird zum SS-Rottenführer befördert

03/1941 Schulungsleiter (Leiter Ausbildung) im KL Sachsenhausen, weiterhin Mitarbeiter im Büro der Inspektion der Konzentrationslager

09/1941 Knittel wird Leiter der „Abteilung VI: Fürsorge, Schulung, Truppenbetreuung“ in Auschwitz

10/1941 Baubeginn Auschwitz II (Birkenau)

 

 B 2 Foto vom Torhaus des KZ Auschwitz-Birkenau, Aufnahme kurz nach der Befreiung 1945

1942

20.01.1942 Auf der sogenannten Wannseekonferenz wird die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen.

03/1942 Beginn der Vergasungen in Auschwitz II (Birkenau)

1943-1945

01.02.1943 Beförderung zum SS-Oberscharführer

30.01.1944 Knittel wird mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet

01/1945 Knittel wird Leiter der Abteilung VI (Fürsorge und Schulung) im KL Mittelbau

27.01.1945 Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee

08.05.1945 Bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs. In den letzten Kriegstagen sterben Knittels Ehefrau und seine beiden Söhne unter ungeklärten Umständen

04/1945-06/1945 Aufenthalt Knittels bei seiner Schwester in Bremerhaven

06/1945 Rückkehr nach Karlsruhe

08/1945 Festnahme in Karlsruhe

28.08.1945-06.04.1948 Inhaftierung in alliierten Internierungslagern, zuletzt Kornwestheim

1948-1957

12/1948 Kurt Knittel erhält eine Anstellung als Dramaturg der Wanderbühne in Villingen

23.05.1949 Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland tritt in Kraft

 

Kurt Knittel 1955

B 6 Kurt Knittel 1955

ab Sept. 1949 Kurt Knittel ist Mittelschullehrer im Schuldienst

1952 Durch den Zusammenschluss der Nachkriegsländer Württemberg-Baden, (Süd-)Baden und Württemberg-Hohenzollern wird das Bundesland Baden-Württemberg gegründet

1957 Das Oberschulamt in Karlsruhe beschäftigt Kurt Knittel als Referent für Volks-, Mittel- und Sonderschulen

1958

28.04.1958 Beginn des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses vor dem Schwurgericht Ulm. Er richtete sich gegen zehn Gestapo-, SD- und Ordnungspolizeiangehörige, Teile des Einsatzkommando Tilsit, das zwischen Juni und September 1941 laut einem Bericht Walter Stahleckers 5.502 jüdische Kinder, Frauen und Männer im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hatte. Der Prozess gilt als erster Wendepunkt in der justiziellen und öffentlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus

06.11.1958 Gründung der Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg

17.12.1958 Kurt Georg Kiesinger, der zusammen mit Kurt Knittel im Lager Ludwigsburg interniert war, wird Ministerpräsident von Baden-Württemberg

1959

24.3.1959 Kurt Knittel wird zum Regierungsschulrat, Referat Volksschulwesen befördert

April 1959 Der Bundesgerichtshof erklärt das Landgericht Frankfurt/M. und den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer für alle Auschwitz-Prozesse zuständig.

1959 Kurt Knittel kandidiert bei den Kommunalwahlen für die FDP

1960

08.05.1960 Die Verjährungsfrist für vor dem 8. Mai 1945 begangene Delikte außer Mord und Totschlag, beispielsweise Körperverletzung mit Todesfolge sowie Beihilfe zum Mord sog. Schreibtischtäter läuft nach juristischer Grundlage an diesem Tag ab

27.06.1960 Kurt Knittel wird für drei Monate vom Dienst suspendiert, ein Verfahren wegen „arglistiger Täuschung“ wird eingeleitet

16.09.1960 Vernehmung Kurt Knittel durch Staatsanwalt Joachim Kügler

1961

20.01.1961 Abordnung zur Landesanstalt für Erziehung und Unterricht in Stuttgart. Aufgabenbereich: Bestandsaufnahme von Lehr- und Lernmittel, Durchsicht älterer Fachzeitschriften, Überprüfung von Examensarbeiten auf ihre Brauchbarkeit in der pädagogischen Bibliothek. Statt eines Dienstzimmers wird ihm der Unterbringungsraum für Landkarten zugewiesen

18.03.1961 Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kurt Georg Kiesinger, erklärt die Beförderung zum Regierungsschulrat für nichtig. Knittel wird vom Regierungsschulrat zum Rektor degradiert

11.04.-15.12.1961 Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem

1962

20.02.1962 Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. gegen Knittel wird 1962 eingestellt.

01.03.1962 Kurt Knittel wird von der Landesanstalt für Erziehung und Unterricht zur Landesbibliothek Karlsruhe abgeordnet. Seine Planstelle im Oberschulamt muss jedoch weitergeführt werden. Es wird eine Leerstelle geschaffen, um die Besetzung seiner früheren Position als Schulberichterstatter zu ermöglichen.

1963-1968

20.12.1963 Beginn der Frankfurter Auschwitz-Prozesse

13.04.1965 Der Deutsche Bundestag beschließt mehrheitlich das Gesetz zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen. Dadurch blieb bei der Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Verbrechen, die mit lebenslangem Zuchthaus bedroht sind, die Zeit vom 8. Mai 1945 bis 31. Dezember 1949 außer Ansatz. In dieser Zeit hatte demnach die Verfolgungsverjährung zusätzlich geruht mit der Folge, dass Morde nunmehr bis zum 31. Dezember 1969 verfolgbar sind.

18.09.1968 Die vollständige Versetzung vom Oberschulamt Nordbaden an die Landesbibliothek Karlsruhe wird verfügt.

1979

03.07.1979 Der Deutsche Bundestag beschließt mit 255 zu 222 Stimmen, die Verjährung auch für Mord ausdrücklich aufzuheben (§ 78 Abs. 2 StGB n.F.)

1996-2005

27.01.1996 Bundespräsident Roman Herzog erklärt den 27.01., den Tag der Befreiung des KL Auschwitz, zum nationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

27.01.1998 Kurt Knittel stirbt in Karlsruhe. Nach 1945 hatte Knittel folgende Ehrenämter bekleidet: Mitglied im Rundfunkbeirat des Schulfunks beim Süddeutschen Rundfunk, Geschäftsführer der Volksbühne, Leiter der Jugendbühne Karlsruhe, Verwaltungsbeirat der Hochschule für Musik Karlsruhe

27.01.2005 Die Vereinten Nationen erklären den 27.01. zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust


- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Karlsruhe -


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