"Dass sich noch Leute finden, welche an uns denken (...)", Zwangsarbeiter in Tuttlingen - Spurensuche - Erinnern - Verantwortung
Hintergrund
Zeittafel
Bereits in diesem Jahr bestand ein Facharbeitermangel im Deutschen Reich. Die Wirtschaft erholte sich von der Weltwirtschaftskrise. Doch vor dem Einsatz ausländischer Arbeiter scheute man sich im NS-Staat, da man zunächst ideologische Bedenken hatte.
1939
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs war die auf Kriegswirtschaft umgestellte und auf Pump finanzierte NS-Wirtschaft auf ausländische Arbeiter und Arbeiterinnen angewiesen. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden immer mehr Arbeiter zum Kriegsdienst verpflichtet und Frauen sollten nicht stärker im Arbeitsmarkt eingesetzt werden, da sie dem Ideal der "treusorgenden Mutter" nachzukommen hatten. Der Einsatz von "Fremdarbeitern" wurde systematisch vorbereitet.
1939/40
Bereits im November 1939 wurden polnische Kriegsgefangene zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht. Zudem wurde versucht in besetzten und verbündeten Gebieten mit Anwerbungen Arbeiter zu gewinnen. Die Freiwilligen-Rekrutierung blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück. Deshalb wurden Zwangsrekrutierungen polnischer Zivilarbeiter*innen vorgenommen.
16. Dezember 1939
An diesem Tag wurden in Bochnia, in Polen zwei Polizisten von Partisanen ermordet. Die deutschen Besatzer verübten daraufhin ein Massaker. Bewohner, die nicht dem Massaker zum Opfer fielen, kamen als Zwangsarbeiter nach Deutschland, unter ihnen war vermutlich auch Boleslaw Prochazka.
B 10 Boleslaw Prochazka |
8. März 1940
Mit den sogenannten "Polenerlassen" wurde die Grundlage für ein umfassendes System der Überwachung, Repression und Diskriminierung ziviler polnischer Arbeiterinnen und Arbeiter geschaffen. So wurde beispielsweise die Kennzeichnungspflicht jedes polnischen Zivilarbeiters mit einem violetten P obligatorisch. Zudem wurde ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Polen und Polinnen durften keine Gaststätten, kulturellen Veranstaltungen, Kirchen besuchen oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Eine möglichst geschlossene Unterbringung sollte gewährleistet sein.
Mai 1940
Eine Anordnung verpflichtete polnische Arbeitskräfte, die Arbeitsstelle nicht ohne Genehmigung des Arbeitsamtes und der Polizeidienststelle zu verlassen. Ein unerlaubtes Verlassen der Arbeitsstelle wurde mit Verhaftung bestraft.
7. Juli 1940
Boleslaw Prochazka wird nach seiner Ankunft in Tuttlingen einem landwirtschaftlichen Betrieb in Wurmlingen zugeteilt.
Dezember 1940
Bereits im genannten Monat unternimmt Boleslaw Prochazka einen ersten Fluchtversuch. Er kommt bis in die Nähe von Nürnberg und wird sodann aufgegriffen und kommt in ein Lager.
Juli 1941
In einer Besprechung des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts, der Abteilung Kriegsgefangenenwesens und des Reichsarbeitsministeriums wurde der Einsatz russischer Gefangener als Arbeitskräfte als erforderlich erklärt.
September 1941
Boleslaw Prochazka wird dem Talhof, in der Nähe von Tuttlingen, als Landarbeiter zugewiesen.
Herbst/ Winter 1941
Der Einsatz der russischen Arbeitskräfte erfolgte unter maximaler Ausbeutung, schärfster Kontrolle und rassenideologisch motivierter Diskriminierung. Die schlechte Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen hatte ein Massensterben zur Folge, so dass der Mangel an Arbeitskräften weiter eklatant blieb.
1942/43
Im Frühjahr 1942 begann man mit der Zwangsrekrutierung ziviler sowjetischer Arbeiterinnen und Arbeiter.
20. Februar 1942
Die sogenannten "Ostarbeitererlasse" wurden beschlossen. Als Vorbild für die Beschlüsse dienten die "Polenerlasse" aus dem Jahr 1940. Die Erlasse definierten auch Arbeitskräfte aus der Ukraine als "Ostarbeiter". Des Weiteren wurde festgelegt, dass die Menschen in Auffanglagern gesundheitlich und politisch geprüft werden sollten. Danach ging es in geschlossenen Transporten nach Deutschland. In den Betrieben wurden sie grundsätzlich in Kolonnen eingesetzt. Unterkünfte waren Lager, die mit Stacheldraht umgeben waren. Eine Kennzeichnungspflicht bestand ebenfalls, das Wort "Ost" musste sichtbar auf der rechten Brustseite getragen werden.
Frühjahr 1942
Die ersten Massentransporte mit sowjetischen Arbeitskräften treffen in Deutschland ein. Nach "Entseuchungslager" und "Durchgangslager" wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter von den Landesarbeitsamtsbezirken Betrieben zugewiesen.
Die ersten zivilen Arbeitskräfte, die in Tuttlingen eintrafen, wurden in Nebenräumen von Gasthäusern einquartiert. Jedes Eintreffen von Fremdarbeiterinnen und -arbeiter führte zu einer größeren Wohnungsnot. Große Betriebe wie Chiron unterhielten eigene Lager auf dem Firmengelände.
B 3 Ankunft von Ostarbeiterinnen bei der Firma Chiron 1943 |
September 1942
Bereits im Herbst gab es in Tuttlingen Pläne für ein Barackenlager in der Flur Mühlau.
März 1943
Im Frühjahr 1943 stellte der Tuttlinger Regierungsbaumeister Überlegungen zur Möblierung der Essbaracke an. Demnach waren die Baracken fast bezugsfertig. Beim Bau des Lagers wurden "Ostarbeiter" eingesetzt. Die treibenden Kräfte für den Bau des Barackenlagers waren die Firmen AG für Feinmechanik und die Schuhfabrik Rieker.
Januar 1944
Am 30. Januar 1944 flieht Boleslaw Prochazka ein zweites Mal. Er kommt dieses Mal über die Schweizer Grenze nach Schaffhausen. Dort wird er von der Kantonspolizei festgenommen.
28. März 1944
Da von den deutschen Behörden kein Gesuch eingegangen war, den Flüchtigen Prochazka auszuliefern, wurde er im Kanton Basel in ein Arbeitslager gebracht.
Ende April 1944
Nun traf eine Anfrage der Staatsanwaltschaft Rottweil ein, die sich nach dem Aufenthaltsort von Boleslaw Prochazka erkundigte. Die Schweizer Behörden gaben den Aufenthaltsort weiter.
Mai 1944
Boleslaw Prochazka kommt den Behörden zuvor und kehrt von einem "Ausflug" nach Schaffhausen oder Zürich nicht mehr ins Lager zurück. Darauf wird von den Schweizer Behörden ein Haftbefehl ausgestellt.
Wo er über die Grenze gekommen, und dann inhaftiert wurde, ist nicht klar.
28. August 1944
Mit gerade einmal 20 Jahren wurde Boleslaw Prochazka an seiner alten Arbeitsstätte, dem Talhof bei Tuttlingen, hingerichtet.
21. April 1945
An diesem Tag marschieren französische Truppen in Tuttlingen ein. Für die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter war dies der Tag der Befreiung.
Bis zum 8. Mai 1946 wurden Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter im Lager Mühlau versorgt. Man geht von 549 Personen aus, die zwischen Kriegsende und Mai 1946 im Lager lebten.
Diesen wurde es von der französischen Militärverwaltung freigestellt, ob sie wieder in ihre alte Heimat zurückkehren oder in die USA oder Kanada auswandern wollten. Die meisten entschieden sich für die Rückkehr in die alte Heimat. Zunächst erfolgte die Rückkehr über Sammellager. Die Heimat haben sie nicht mehr so vorgefunden, wie sie sie verlassen hatten. Die Städte und Dörfer waren zerstört und sie wurden von den Menschen dort oft als Kollaborateure beschimpft.
Informationen aus:
Bambusch, N. J., Fremdarbeiter im Landkreis Tuttlingen zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Tuttlinger Heimatblätter 2018, S. 41 ff.
Schäfer, A., Zwangsarbeiter und NS-Rassenpolitik. Russische und polnische Arbeitskräfte in Württemberg 1939 bis 1945, Stuttgart 2000.
Woll, G., Lager Mühlau 1942 bis 1955, Tuttlingen 2014.
Woll, G., Der Zwangsarbeiter Boleslaw Prochazka, in: Tuttlinger Heimatblätter 2018, S. 61 ff.
B 11 Ostarbeiterinnen und -arbeiter 1943 bei der Firma Chiron |
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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