Hintergrund
Zeittafel
1516 begründete Thomas Morus die klassische Tradition utopischen Denkens der Neuzeit. Im Zeitalter der Entdeckungen entwickelten manche Europäer eine Sehnsucht nach Kulturen, die besser als die eigene war, da diese von Verfallserscheinungen geprägt schien. Das Wirtschaftssystem des Feudalismus wurde abgelöst durch individuelles am Profit interessiertes Geschäftsgebaren, was zu einem zunehmenden Zerfall des Gemeinwesens führte, der sich in verschiedenen Kriegen, gipfelnd im Dreißigjährigen Krieg bemerkbar machte. Der Zerfall feudalistischer Systeme führte auf politischer Ebene zu zunehmend absolutistischen Tendenzen, was soziale Ungleichheiten und Ausbeutung weiterhin verstärkte. Damit einher geht für die Autoren ein allgemeiner Sitten- und Institutionenverfall. Diesem Chaos setzen die Utopisten der frühen Neuzeit ihr Ideal des „besten Staates“ gegenüber. Die Utopien sind somit eine Form frühneuzeitlicher Kapitalismuskritik. Allerdings war nicht ihr Ziel Alternativen aufzuzeigen, die in konkrete politische und gesellschaftliche Veränderungen münden sollten, sondern ein Gedankenexperiment bei den Lesern anzuregen.
B2 Holzschnitt der Insel Utopia in der Ausgabe von 1516
Neben dem bereits genannten „Utopia“ von Thomas Morus gehören zu den bekanntesten Utopien der Renaissance Francis Bacons „Neu-Atlantis“ (1624) und der „Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella (1602).
Weniger bekannt dagegen ist die bis ins 19. Jahrhundert einzige deutsche Utopie „Christianopolis“ des in Herrenberg geborenen Johann Valentin Andreae, die 1619 anonym erschien. Hier beschreibt er eine protestantische Idealgesellschaft, die auf Gottesfurcht beruht. Zuvor, noch während seiner Studienzeit, verfasste er seine bekannteste Schrift, die „Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz“. Nach Tätigkeiten als Hauslehrer in verschiedenen Familien und als zweiter Stadtpfarrer von Vaihingen an der Enz wurde Andreae 1620 Superintendent in Calw und 1638 schließlich in die württembergische Kirchenleitung berufen. In dieser Funktion baute er nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges die kirchliche Ordnung und das Schulwesen in Württemberg wieder auf. Als erstem Land in Europa erließ Andreae 1645 die Anordnung zur allgemeinen Schulpflicht in Württemberg. Nach seinem Abschied aus der Kirchenleitung übernahm er 1650 die Leitung der Klosterschule Bebenhausen. Andreae trat für eine Erziehungsreform im Zusammenhang mit einer Reform der Gesellschaft ein. Er ging vom Prinzip einer allgemeinen Bildung aus und bemühte sich um die Einführung fortschrittlicher Unterrichtsmethoden. Wichtig für ihn war die Einheit von Unterweisung und Erziehung. Daher bezeichnete er als Ziel der Ausbildung die “Erhaltung des Gemeinwesens und die Ausrichtung auf das künftige Leben”.
B3 Bild der Stadt Christianopolis aus Johann Valentin Andreae: Reipublicae Christianopolitanae descriptio von 1619
Doch nicht nur in der Renaissance hatte der literarische Entwurf fiktiver Gegenwelten Konjunktur. Auch in anderen Zeitaltern wurde dieses literarische Mittel genutzt, um kontrastiv reale Missstände aufzuzeigen. So entstanden einflussreiche Zukunftsentwürfe im 19. Jahrhundert, die auf den Prozess der Industrialisierung reagieren. Im 20. Jahrhundert verdrängen sogenannte „schwarze Utopien“ wie George Orwells „1984“ zunehmend die positiven Gegenwelten und entwerfen „eine aus Gegenwartstendenzen extrapolierte Schreckensvision der Zukunft“ (Richard Saage), basierend auf der zunehmenden Krise der Fortschrittsdenkens. In dieser Tradition stehen auch die modernen Dystopien, unter denen v.a. die Jugendromane große Erfolge feiern. Am bekanntesten ist sicher die 2008-2010 erschienene Serie „Hunger Games“, im deutschen Titel „Die Tribute von Panem“ von Suzanne Collins, die auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.
B4 Trostlose Zukunftslandschaft im dystopischen Gemäld „Gestade der Vergessenheit“ von Eugen Bracht 1889
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Stuttgart -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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