Sagen und Märchen aus Baden-Württemberg

Landesgeschichtliche Einordnung

Autor: Ludwig Hanisch (Arbeitskreis RP Karlsruhe)


Die epischen Formen (die erzählenden Gattungen) der Sagen und Märchen haben von der Unterstufe bis zur Oberstufe im Literaturunterricht ihren festen Platz. Ihnen benachbart sind zwei weitere Erzählformen, nämlich Mythos und Legende. Während der Mythos vorwiegend in einer fernen Urzeit spielt, schwebt das Märchen über Raum und Zeit. Sagen und Legenden gehen dagegen eher von der Besonderheit und Bedeutung einmaliger Gegebenheiten in Raum und Zeit aus. So verkörpert die Legende lediglich eine Sonderform der Sage, die vor allem religiöse oder heilige Personen, Orte, Einrichtungen und Zeiten zum Inhalt hat.

Diese vier Gattungen punktgenau voneinander zu unterscheiden, ist bei näherer Betrachtung nicht möglich, da die Grenzen zwischen ihnen in der Praxis nicht scharf zu ziehen, also eher fließend sind. Während der Mythos ein göttliches und zugleich grundlegendes Geschehen für das menschliche Dasein darzustellen versucht, bewegt sich das Märchen in einer Phantasiewelt, wobei die Kulisse jedoch durchaus real sein kann. Ebenso enthalten Sagen und Legenden nicht selten märchenhafte Züge. Und umgekehrt tauchen in Märchen oft Elemente einer Sage, aber auch der Fabel oder der Satire auf.

Die sieben Schwaben - eine grotesk-komische Satire über Blindheit, Dummheit und Selbstüberschätzung, Gemeinschaftsarbeit (Schnittmustercollage) der Klasse 2 der GS Bilfingen 1986

Die sieben Schwaben - eine grotesk-komische Satire über Blindheit, Dummheit und Selbstüberschätzung, Gemeinschaftsarbeit (Schnittmustercollage) der Klasse 2 der GS Bilfingen 1986
© L. Hanisch

Auch die heute in der Jugendliteratur sehr beliebten Fantasy-Geschichten schöpfen ihre Motive aus den genannten Urformen. So tauchen in ihnen bekannte Märchen- und Sagengestalten neben eigens erfundenen Wesen oder anthropomorphen (menschenähnlichen) Tieren auf. Hier wie auch in den bereits genannten Gattungen ist der Drache ein Archetyp.

Raffael 1506: Der heilige Georg im Kampf mit dem Drachen, New York, Metropolitan Museum

Raffael 1506: Der heilige Georg im Kampf mit dem Drachen, New York, Metropolitan Museum
© L. Hanisch

Als episch-lyrische Form sollte aber auch die Ballade nicht vergessen werden. Sie ist wie das Märchen eine Gattung der Volks- und der Kunstdichtung und hat zudem teil an den drei poetischen Grundarten: So ist sie episch, indem sie eine Handlung erzählt. Sie ist dramatisch, weil sie die Handlung auf einen Konflikt zuordnet (Personenrede, Dialog) und sie ist lyrisch, weil sie das der Ballade innewohnende Empfinden auf den Hörer oder Leser übertragen möchte, indem sie einen geheimnisvollen, schrecklichen oder tragischen Vorgang aus Mythos, Sage oder Geschichte erzählt (Verwendung lyrischer Gestaltungselemente wie Reim, Metrum).

Da es also bei diesen epischen Formen gerne zu Mischungen und Überschneidungen kommt, ist es sinnvoll, wenn es nun im Folgenden um Sagen und Märchen geht, das Gemeinsame wie das Unterscheidende parallel zu betrachten, zu erkennen und zu analysieren.

Junker Burkart verfällt nachts am heidnischen Opferstein den Verlockungen einer verschleierten Frau, die ihn küsst und ihm dabei die Seele aus dem Leib saugt. Gemälde von Jakob Götzenberger im Wandelgang der Trinkhalle Baden-Baden, fertiggestellt 1844.

Junker Burkart verfällt nachts am heidnischen Opferstein den Verlockungen einer verschleierten Frau, die ihn küsst und ihm dabei die Seele aus dem Leib saugt. Gemälde von Jakob Götzenberger im Wandelgang der Trinkhalle Baden-Baden, fertiggestellt 1844.
© L. Hanisch

In der Unterstufe, etwa bis zum achten Lebensjahr, steht das "einfache" Hören, Vorlesen und Lesen der Sagen und Märchen im Vordergrund. Man könnte diese Phase auch das erste Sagen- und Märchenalter nennen. Der Ton des Erzählers sowie sein Gebärden- und Mienenspiel sind von besonderer Bedeutung. Sagen und Märchen eignen sich in diesem Alter vorzüglich zur Nachgestaltung sowohl durch die Schüler selbst als auch mit Hilfe von angefertigten Stab- oder Marionettenpuppen.

Ein Schwerpunkt der Aufsatzerziehung im Deutschunterricht der Klassen 3 und 4 ist neben dem Verfassen von Erlebnisgeschichten auch das Verfassen von Fantasiegeschichten. In ihnen dürfen märchenhafte Elemente, Träume und Fantasien beschrieben werden.

Die erzählende Großmutter von Ludwig Richter

Die erzählende Großmutter von Ludwig Richter (1803 bis 1884).
© L. Hanisch aus dem Lesebuch "Das goldene Tor" von 1924

Das zweite Sagen- und Märchenalter beginnt dann, wenn eine analysierende Betrachtung des Erzählstoffes möglich wird. Diese Form der Betrachtung kann bis zur psychoanalytischen Methode fortgesetzt werden. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Antoine de Saint-Exupérys Märchen vom "Kleinen Prinzen", das für viele Menschen die entscheidende Erkenntnis brachte, was im Leben wirklich wichtig ist.

Märchen und Sagen jedoch im Allgemeinen als moralische, ethische oder gar religiöse Erziehungsmittel zu benutzen, ist äußerst umstritten. Behandeln doch die Märchen und Sagen oft auch eine zutiefst verstörte Welt, die dem Rezipienten eine Vielzahl von Beispielen praktizierter Moralfreiheit vor Augen stellt und die auf Kinder des ersten Sagen- und Märchenalters auch eine erschreckende und schockierende Wirkung haben kann. Andererseits gehören in die Phantasiewelt des Kindes gefährliche wie liebenswürdige Gestalten. Die einen werden von ihm gefürchtet, die anderen dagegen zu Freunden erhoben. Märchen und Sagen stellen somit auch Handlungsmöglichkeiten vor, wie man mit selbstzerstörerischen oder aggressiven Kräften umgehen kann.
Das Geglaubt-Werden wie das Nicht-Geglaubt-Werden ist zwischen Sagen und Märchen heute kein Unterscheidungsprinzip mehr. Allerdings werden in den beiden epischen Formen die diesseitige und die jenseitige Welt entscheidend anders dargestellt. Während man sagen kann, dass im Märchen das Diesseits und das Jenseits auf dieselbe Ebene gehoben werden, können die Menschen in der Sage das Transzendente wirklich als Jenseitiges erfahren.

Schauplatz des Märchens sind die Erde und die Welt der Menschen. In ihr treten in der Regel "göttliche" Wesen nur in einer niederen Form auf, und zwar teils in freundlicher, teils in feindlicher Beziehung zum Menschen. Zu ihnen zählen Göttinnen oder Dämonen der Natur wie Nymphen, Elfen, Feen, Gnome, Nixen oder Zwerge, aber auch böse Wesen und Geister wie Hexen und Teufel. Eine besonders interessante Gestalt ist Frau Holle. Als Verkörperung einer uralten weiblichen Erdgottheit könnte sie bis in die Jungsteinzeit zurückgehen. Da das Märchen weder an Raum und Zeit noch an Kausalgesetze gebunden ist, wird die Phantasie zur Wirklichkeit erhoben. Märchen können aus verschiedenen Kulturen und Ländern übernommen werden.

Wir dürfen annehmen, dass uns kein Märchen in einer "reinen", ursprünglichen Gestalt erhalten ist. So haben die Brüder Grimm vor fast 200 Jahren viele ihrer gesammelten Märchen "entschärft", um sie pädagogisch verwertbar zu machen und sie haben diese dann "Kinder- und Hausmärchen" genannt. Die von ihnen zusammengetragenen Märchen schildern oft die großen Wünsche nach Liebe und Glück, sie deuten diese, stellen aber auch in sinnbildlichen Handlungen die Lage von bedrohten, angsterfüllten, in Armut lebenden und in Armut zu Grunde gehenden Menschen dar. Oder sie zeigen uns Gestalten, die im Streben nach Geld, Macht und Sicherheit einen Weg gesucht und gefunden haben, der sie dann zum Guten wie zum Schlechten verändert hat. Die Welt der von den Brüdern Grimm zusammengestellten Märchen stellt vorwiegend eine ländliche und feudal-fürstliche, seltener eine städtische Umgebung dar.

Märchenwelt der Brüder Grimm - ländlich. Die Wichtelmänner, Zeichnung von G. Olms um 1900

Märchenwelt der Brüder Grimm - ländlich. Die Wichtelmänner, Zeichnung von G. Olms um 1900
© L. Hanisch

Der Prunkwagen des Königs, Märchenwelt der Brüder Grimm - feudalistisch. Aus dem Beiheft des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (München 1951) zum Film

Der Prunkwagen des Königs, Märchenwelt der Brüder Grimm - feudalistisch. Aus dem Beiheft des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (München 1951) zum Film "Der gestiefelte Kater"
© L. Hanisch

Märchen wurden aber auch in große sagenhafte und geschichtliche Darstellungen eingeordnet, wie wir sie im Alten Testament gerne vorfinden (z. B. der wunderwirkende Stab des Moses, Elija und der nicht leer werdende Mehltopf und Ölkrug, die redende Eselin Bileams). So leben Märchenmotive in anderen literarischen Gattungen fort.

Einige markante Märchentypen und -motive seien nachfolgend aufgeführt:

Kostümschrank der GS Bilfingen bemalt von Bernhard Rapp 1989 nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls

Kostümschrank der GS Bilfingen bemalt von Bernhard Rapp 1989 nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls
© L. Hanisch

  • Das Zaubermärchen (z. B. Ein Krug wird nicht leer)

  • Das Brüdermärchen (z. B. Von dem Machandelboom)

  • Das Verwandlungsmärchen (z. B. Der Frosch wird zum Königsohn)

  • Das Standesmärchen (z. B. Der reiche Bauer und der arme Bettler)

  • Das Glücksmärchen (z. B. Die drei Glückskinder)

  • Das Liebesmärchen (z. B. Aschenputtel)

  • Das Feen- oder Mythenmärchen ( z. B. Die Schöne und das Biest)

  • Das Erlösungsmärchen (z. B. Dornröschen)

  • Das Schwankmärchen (z. B. Das tapfere Schneiderlein)

  • Das Rätselmärchen ( z. B. Das Rätsel)

  • Das Tiermärchen (z. B. Die Bremer Stadtmusikanten)

In der Problematik von Märchen besteht oft auch eine auffallende Ähnlichkeit mit gewissen gesellschaftlichen Verhältnissen. So nehmen z. B. in dem zuletzt genannten Märchen die vier Tiere die Rolle der nutzlos gewordenen, älteren, für die Gewinnmaximierung und Leistungssteigerung unbrauchbar gewordenen Menschen in einer Gesellschaft ein. Statt aber schicksalsergeben ihr bevorstehendes Ende abzuwarten, rebellieren sie in Solidarität erfolgreich gegen diese Gesellschaft. Tiermärchen sind aber oft auch zugleich Tierfabeln, da sie, um mit Lessing zu sprechen, "Erdichtungen sind, die auf einen gewissen Zweck abzielen".

Eine relativ leicht durchschaubares Märchen ist z. B. das Märchen vom Wettlauf zwischen Hasen und Igel. Die Moral dieses Märchens ist: Keiner soll sich einfallen lassen, sich über den einfachen und geringen Mann lustig zu machen und es kann von großem Vorteil und Nutzen sein, wenn man eine Frau oder einen Mann aus seinem Stande ehelicht.

Aus dem Beiheft des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (München 1953) zum Film

Aus dem Beiheft des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (München 1953) zum Film "Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel"
© L. Hanisch

In vielen Märchen tauchen aber auch mehrere Märchenmotive auf, wie zum Beispiel im gestiefelten Kater. In diesem Märchen geht es ja um Verschlagenheit, um Ängste, um Betrugsstrategien, um Veränderungen der Standespositionen, um die Macht der Verführung. Die Brüder Grimm haben deutlich erkennbar bei ihrer Fassung vom "Gestiefelten Kater" die um 100 Jahre ältere gleichnamige Erzählung von Charles Perrault im Auge gehabt, die den französischen Merkantilismus unter König Ludwig XIV. zu karikieren versuchte.

Der gestiefelte Kater im Schloss des Zauberers, Märchenwelt der Brüder Grimm - feudalistisch. Aus dem Beiheft des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (München 1951) zum Film

Der gestiefelte Kater im Schloss des Zauberers, Märchenwelt der Brüder Grimm - feudalistisch. Aus dem Beiheft des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (München 1951) zum Film "Der gestiefelte Kater".
© L. Hanisch

Sagen (und die Sonderform Legende) lassen sich in sechs Hauptarten gliedern:

  1. Am häufigsten dürften wohl die Orts- und Natursagen auftreten, da es kaum einen historischen Ort oder einen markanten Landschaftsflecken gibt, dem nicht eine Sage anhaftet (z.B. "Sybille von der Teck" oder "Die Spinnschwestern vom Mummelsee").

Die Spinnschwestern vom Mummelsee von Wilhelm Volz (1855 - 1901).

Die Spinnschwestern vom Mummelsee von Wilhelm Volz (1855 - 1901).
© L. Hanisch/Museum Neuenbürg


Die Nixe Merline soll mit einschmeichelnder Musik und betörendem Gesang einen jungen Hirten an das Ufer des Wildsees gelockt haben. Er erliegt der Versuchung und versinkt in der Tiefe des Sees. Gemälde von Jakob Götzenberger im Wandelgang der Trinkhalle Baden-Baden, fertiggestellt 1844.

Die Nixe Merline soll mit einschmeichelnder Musik und betörendem Gesang einen jungen Hirten an das Ufer des Wildsees gelockt haben. Er erliegt der Versuchung und versinkt in der Tiefe des Sees. Gemälde von Jakob Götzenberger im Wandelgang der Trinkhalle Baden-Baden, fertiggestellt 1844.
© L. Hanisch

  1. Eine weitere Hauptart ist sicherlich die Stammes- und Volkssage. Oft ist diese mit einer geschichtlichen oder erdachten Einzelgestalt verknüpft und geht von der Vorstellung aus, dass ein Stamm oder Volk einen Ahnherrn hat (z.B. Romulus und Remus). Sie beschreibt aber auch den Niedergang eines Volkes oder einer Dynastie wie in dem großen Epos der Nibelungensage.

Kapitolinische Wölfin mit Romulus und Remus, Rom, Konservatoren-Palast

Kapitolinische Wölfin mit Romulus und Remus, Rom, Konservatoren-Palast
© L. Hanisch

  1. Eine andere Art wäre die Heldensage. Gerade bei ihr gehen oft Geschichtlichkeit und Sagenstoff eine enge, unlösbare Verbindung ein, die die Protagonisten in eine neue Dimension erhebt

Ritter Wolf von Eberstein war gegen Ende des 14. Jhs. Mitglied des Schleglerbundes.

Ritter Wolf von Eberstein war gegen Ende des 14. Jhs. Mitglied des Schleglerbundes. Von seinen Verfolgern auf Neu-Eberstein aufgespürt, musste er fliehen. Als Ausweg blieb ihm nur der kühne Sprung vom Felsen unterhalb seiner Burg ins Tal der Murg. Gemälde von Jakob Götzenberger im Wandelgang der Trinkhalle Baden-Baden, fertiggestellt 1844.
© L. Hanisch


Abfahrt des Odysseus und seiner Gefährten vom Gestade der Zyklopen von Friedrich Preller (1804 - 1878)

Abfahrt des Odysseus und seiner Gefährten vom Gestade der Zyklopen von Friedrich Preller (1804 - 1878)
© L. Hanisch aus Deutsches Lesebuch von 1949

  1. Die Personenlegende ist die Heldensage in religiöser Gestalt. Diese Helden treten kaum in Schlachten oder Landeroberungsszenen auf, sondern werden als Helfer und Wundertäter geschildert oder zeigen übermenschliches Verhalten in Situationen ihrer Verfolgung und Hinrichtung.

Das Rosenwunder (Legende) der heiligen Elisabeth von Thüringen. Nach einem Wandgemälde Moritz v. Schwinds aus dem Jahre 1855 in der Wartburg.

Das Rosenwunder (Legende) der heiligen Elisabeth von Thüringen. Nach einem Wandgemälde Moritz v. Schwinds aus dem Jahre 1855 in der Wartburg.
© L. Hanisch aus „Das Reich Gottes auf Erden“. Kirchengeschichte in Einzelbildern für das katholische Volk, zusammengestellt von Anselm Rotzinger, Domkapitular, Dresden 1922)

  1. Die Heiligtumssage oder -legende handelt von einem besonderen Ort und soll erklären, warum er als heilig gilt, von den Menschen in Not aufgesucht und verehrt wird. Hier seien die vielen großen, aber auch kleinen Wallfahrtsorte erwähnt, bei denen sich oft um ein Gnadenbild eine oder mehrere Sagen oder Legenden ranken.
  1. Die Kultsage oder -legende, auch ätiologische Sage genannt, möchte den Ursprung oder die Ursache von etwas Bestehendem, also auffällige Erscheinungen, Bräuche, Kulthandlungen und Namen, erklären.

Sagengestalten bleiben in aller Regel an einen Ort gebunden, was allerdings nichts über den Entstehungsort aussagt, vor allen Dingen bei Volkssagen, die von anderen Völkern und Kulturen übernommen sein können. So findet sich am höchstgelegenen Punkt des Enzkreises, dem Heuberg, der Artusstein. Die Geschichten um den sagenhaften kelto-britischen König, der um 500 gegen die eindringenden Angeln und Sachsen gekämpft haben soll, gehen teilweise auf keltische Märchen, Fabeln und Sagen zurück und verschmelzen mit historischen Grundlagen. Über die französisch-englische Artusepik vom 12. bis 14. Jahrhundert haben sie die volkssprachige Literatur fast ganz Europas befruchtet.

König-Artus-Stein auf dem Heuberg im Enzkreis

König-Artus-Stein auf dem Heuberg im Enzkreis
© L. Hanisch

So wie im o. g. Beispiel werden oft übernatürliche Erlebnisse zusammen mit glaubhaften Elementen zum Wesenskern einer Sage.

Sagen und Legenden, aber auch viele Märchen kann man als aus dem Mythos erwachsene Erzählungen bezeichnen. Ein Beispiel dazu ist die griechische Sage von der schönen Prinzessin Europa, die von Zeus in der Gestalt eines weißen Stieres aus Syrien (damals Phönizien) in einen anderen Erdteil (Insel Kreta) entführt wurde. Den Erdteil, auf dem die beiden schließlich landeten, nannte Zeus nach seiner Prinzessin "Europa".



"Raub der Europa" von Paolo Veronese Venedig, Dogenpalast.
© L. Hanisch

Gerade Orts- und Natursagen, Heldensagen oder Heiligtumslegenden führen uns gerne an mythische Orte.

Karsee bei Baiersbronn (Sankenbachkessel). In ihn ergießt sich der Sankenbachwasserfall (Naturdenkmal).

Karsee bei Baiersbronn (Sankenbachkessel). In ihn ergießt sich der Sankenbachwasserfall (Naturdenkmal).
© L. Hanisch

Um das Alte Eisinger Loch und die verschüttete Höhle auf der Bauschlotter Platte ranken sich zahlreiche Geschichten und Sagen

Um das Alte Eisinger Loch und die verschüttete Höhle auf der Bauschlotter Platte ranken sich zahlreiche Geschichten und Sagen
© L. Hanisch

Wie aber wird ein Ort zu einem mythischen Ort? Er muss im Menschen ein Grund- oder Urbedürfnis nach Erhabenheit stillen. Diese Erhabenheit kann ein Berg, ein Tal, eine Schlucht, ein markanter Felsen, ein tiefer Wald, eine Höhle, ein Bergwerkstollen, ein stiller See, eine imposante Quelle, ein prähistorisches wie historisches Denkmal ausstrahlen.

Am Fuße der Hornisgrinde liegt der sagenumwobene, verwunschene Mummelsee. Diesen mythischen Ort sollen die Römer schon

Am Fuße der Hornisgrinde liegt der sagenumwobene, verwunschene Mummelsee. Diesen mythischen Ort sollen die Römer schon "locus mirabilis" genannt haben. Gemälde von Jakob Götzenberger im Wandelgang der Trinkhalle Baden-Baden, fertiggestellt 1844
© L. Hanisch

Mythische Orte sind meist auch Orte der Stille, der Einsamkeit, der Zuflucht, der Heilung. Und wer diese Orte aufsucht, sucht eine Veränderung für seinen Körper, seine Seele oder einen Ausweg aus einer ihm unerträglichen oder belastenden Situation. Schon die Kelten verehrten zum Beispiel das Belchendreieck (Badischer Belchen - Ballon d´Alsace - Schweizer Belchen) als göttlich. Sie glaubten in den beobachteten Sonnenvisuren (gradlinige Sichtverbindungen) zwischen den drei Bergen, zu dem sich auch noch ein vierter Berg, der Petit Ballon, gesellt, eine für sie überirdisch erscheinende Konstellation zu erkennen. In unserer heutigen modernen Zeit könnte man den Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien, den so viele pilgern, auch als mythischen Weg bezeichnen.

Viele Kirchen und Kapellen unseres Landes, die von Gläubigen gerne als Heiligtümer verehrt werden, sind heilige Stätten der Kelten und Römer gewesen, bevor sie solche der Christen wurden, wie oft archäologisch im Untergrund oder äußerlich an Gebäuden (z. B. Viergöttersteine in Kirchenmauern) nachweisbar ist. Mit den Heiligtümern gingen ihre Sagen und Legenden auf die neuen Besitzer über, die an der Stelle der früheren Gottheiten ihre Heiligen und Stifter verehrten.

Viergötterstein an der Pfarrkirche von Gräfenhausen, Herkules mit der Keule

Viergötterstein an der Pfarrkirche von Gräfenhausen, Herkules mit der Keule
© L. Hanisch


Auch die Wurmlinger Kapelle gilt als christianisierte Kultstätte vorrömischer Zeit.

Auch die Wurmlinger Kapelle gilt als christianisierte Kultstätte vorrömischer Zeit.
© www.lmz-bw.de (Brugger)

Wie alt ein Sagen- und Legendenstoff wirklich ist, der einem Ort, einem Volk oder einem Helden anhaftet, ist sicher sehr schwer zu sagen. Werden doch die Sagen und Legenden einer Situation angepasst und dieser dienstbar gemacht. Viele Orts-, H eiligtums- oder Heldensagen scheinen Varianten ein und derselben Ursagen zu sein, an welche dann manche durchaus an geschichtliches Geschehen angepasste Erinnerungen geknüpft wurden.

Pudelstein im Tonbachtal bei Baiersbronn, vermuteter Kultort der Alemannen

Pudelstein im Tonbachtal bei Baiersbronn, vermuteter Kultort der Alemannen
© L. Hanisch

Uns Menschen, ob jung oder alt, erschließen sich Orte, Kulturdenkmale, Städte oder gar Regionen von unserer subjektiven Lebenslage aus. Unser Standort als Betrachter eines besonderen Schauplatzes kann daher von vielen Faktoren abhängig sein, die im Einzelnen hier nicht aufgezählt werden.

Erinnerungen, die wir an einen Ort haben und Beziehungen, die wir zu ihm mit seiner Geschichte und seiner unverwechselbaren Ausstrahlung aufbauen, können sich durch äußeres Gelenktwerden in Familie, Schule oder durch einen Interessenskreis, aber vor allem auch durch persönliches Interesse an einem ortsgebundenen Sachverhalt weiterentwickeln. Sie können aber auch durch widrige Umstände und negative Erlebnisse verschiedenster Art wieder verkümmern.

Der steinerne Heuhaufen im oberen Albtal - eiszeitliches Relikt, doch zugleich die Fantasie über unerklärbare teuflische Kräfte anregendes Objekt.

Der steinerne Heuhaufen im oberen Albtal - eiszeitliches Relikt, doch zugleich die Fantasie über unerklärbare teuflische Kräfte anregendes Objekt.
© L. Hanisch

Das Interesse für die geschichtliche, kulturelle und geographische Besonderheit eines Ortes zu wecken und das Bestreben, sich dem ausgewählten Ort zu nähern, gelingt mit Sicherheit leichter, wenn dies durch irgendeine Form der Anschauung möglich wird. Eine den Ort überragende Burganlage oder Kirche weckt sicher leichter die Neugier an dessen geschichtlicher Entwicklung als ein Ort ohne nennenswerte Auffälligkeiten. Schon der kleinste Blickfang setzt leichter eine Spurensuche in Gang als eine Wissensvermittlung, die sich nur auf Zahlen, Daten und verbal geäußerte Fakten beschränkt.

Ähnlich leichter oder mit größerem Interesse werden wir uns dann einem Ort zuwenden, wenn wir uns diesem durch spannende Literatur nähern dürfen, unabhängig davon, welche weiteren Assoziationen auf den Ort ausgerichtete Literatur noch auslösen kann.

Die Beschäftigung mit Sagen, Märchen, Legenden und Mythen, auch mythischen Orten ist somit sicher ein probates pädagogisches und didaktisches Mittel, einen Ort oder eine Region einem Menschen näher zu bringen oder gar zu erschließen.

- Arbeitskreis für Landeskunde/Landesgeschichte RP Karlsruhe -