Jüdische Geschichte im Geschichtsunterricht

V. Deutsch-jüdische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Klasse 9)


Der Behandlung von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der Juden in Europa während der NS-Herrschaft wird im Bildungsplan 2016 ein großer Platz eingeräumt. Dabei soll gerade das „Alltagsleben“, also die Perspektive von unten, im Mittelpunkt der Untersuchung der NS-Diktatur stehen (BP Geschichte Standard 3.3.1.3), an der Begriffe wie „Arisierung“, „Pogrom“ oder „rassisch Verfolgte“ erarbeitet werden können. Der Vorschlag des Kerncurriculums Geschichte für die Klasse 9 weist für dieses Thema allein 6 Stunden aus, für die ganze Epoche des NS 20 Stunden (von 48). Die Behandlung dieser Thematik ist den Lehrkräften vertraut, unzählige Publikationen, didaktische Zeitschriften und Schulbücher haben sich einer quellennahen Aufbereitung und didaktischen Fragestellungen gewidmet.
Inwiefern können nun regionalgeschichtliche Beispiele zu einem größeren und besseren Verständnis beitragen?

a) Ein regionalgeschichtlicher Zugriff kann in diesem Fall die Behandlung der nationalen und europäischen Dimension des Holocaust nicht ersetzen, sondern vertiefend ergänzen, konkretisieren und veranschaulichen. Der totale NS-Staat manifestierte sich zwar auch, aber eben nicht nur in Berlin, seine Durchgriffstiefe erreichte vielmehr die meisten Orte, ja sogar Schulen, die zum Lebensumfeld der Schülerinnen und Schüler gehören.
Besonders gut eignen sich daher Fallanalysen einzelner Personen oder jüdischer Gemeinden, bei denen nicht nur mit dem Jahr 1933 begonnen wird, sondern auch die Zeit der Judenemanzipation, des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik mit einbezogenen wird. Wenn aus einem hochdekorierten Kriegsveteran plötzlich ein rassisch Verfolgter wird, wenn aus Nachbarn über Nacht „Volksfeinde“ werden, von deren Schaden man günstig profitieren konnte, zeigt sich gerade darin der Zivilisationsbruch von 1933 besonders deutlich, wie das Beispiel Hechingen (Unterrichtsmodul  Hechingen) zeigt:


Für die Hechinger Juden war Deutschland ihr Vaterland und Hechingen ihre Heimat. Am Krieg gegen Frankreich nahmen denn auch fünf Juden aus Hechingen teil, ein Unteroffizier und vier Mann. Im Ersten Weltkrieg starben Sigmund Bernheim und Dr. Ernst Moos „den Heldentod fürs Vaterland“. Eine Ehrentafel war für sie in der Synagoge angebracht – ein Zeichen nationaler Gesinnung und vaterländischen Denkens.
Otto Werner, Die jüdische Gemeinde in Hechingen bis zum Jahr 1933. In: 1200 Jahre Hechingen, Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur der Stadt Hechingen, hrsg. von der Stadt Hechingen, Hechingen 1987, S. 195-196


Innenansicht der in der Pogromnacht 1938 zerstörten Hechinger Synagoge

Innenansicht der in der Pogromnacht 1938 zerstörten Hechinger Synagoge

Im Fall Freiburg (Unterrichtsmodul Freiburg) veranschaulicht der Boykott des Warenhauses Sally Knopf den Umbruch 1933 besonders deutlich. Die Journalistin Käthe Vordtriede berichtet über den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933: (Arbeitsblatt für den Unterricht)
Vor einem Warenhaus sah ich einen SA-Mann stehen, dessen Familie ich Weihnachten 1932 von Kopf bis Fuß mit den Sachen eingekleidet hatte, die mir der jüdische Inhaber dieses Warenhauses als Spende für die Arbeiterwohlfahrt geschenkt hatte. Er war der größte Wohltäter Freiburgs, der,
im Gegensatz zu den meisten christlichen Warenhäusern, nie Ladenhüter für die Armen gab, sondern nur gute, neue Waren (...). Da stand nun dieser Mann am 1. April 1933, der Weihnachten noch Kommunist gewesen war und sicher unter seinem braunen Hemde eines trug, das ihm der Mann geschenkt hatte, vor dessen besudelten Schaufenstern er jetzt sein „Kauft nicht bei Juden“ brüllte."
Käthe Vordtriede,"Es gibt Zeiten, in denen man welkt". Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Detlef Garz, Lengwil 1999, S. 104-105.

Als biographisches Fallbeispiel eignet sich Ludwig Marum (Unterrichtsmodul Ludwig Marum), der als langjähriger Landtagsabgeordneter für die SPD in Baden, als Reichstagsabgeordneter und als ehemaliger Justizminister in Baden Exponent und Mitgestalter der Weimarer Demokratie war und bereits 1933 von den Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen und 1934 im Konzentrationslager Kißlau ermordet wurde.

b) Die regionalgeschichtliche Fallanalyse bietet sodann auch die Möglichkeit, jüdisches Leben nach 1914 als sozial und kulturell außerordentlich differenziert vorzustellen und keinesfalls als den homogenen und einheitlichen Block („die Juden“), den die NS-Rasseideologie postuliert hat. Diese differenzierte Betrachtung führt damit die Vorschläge zur Klasse 8 unter dem Stichwort Judenemanzipation weiter. Folgende Unterschiede sollten thematisiert werden:

- sozialgeographisch zwischen dem Landjudentum und den Juden in der Großstädten
- sozial zwischen den verarmten jüdischen Einwanderern aus Osteuropa und dem arrivierten Groß- und Bildungsbürgertum
- religiös zwischen liberalen und orthodoxen Vorstellungen
- kulturell zwischen Assimilation und Zionismus

Auch die Selbstwahrnehmung der meisten Juden als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" und die daraus entstehende Organisations- und Publikationsdynamik im Rahmen des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens oder dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, z.B. gegen die Vorwürfe der Dolchstoßlegende, sind hierbei zu berücksichtigen.

Handzettel des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 1920

Handzettel des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten 1920

 Im Unterricht kann die Klasse hierzu aufgeteilt werden, indem eine Hälfte sich z.B. mit dem Landjudentum am Beispiel Rexingen, die andere mit der Geschichte der Juden in Karlsruhe beschäftigt:

Unterrichtsmodul Rexingen: Die Gegend um das Neckarknie bei Horb war über Jahrhunderte ein Zentrum des schwäbischen Landjudentums, darunter auch die Gemeinde Rexingen. Aufgrund der zahlreichen jüdischen Viehhändler hatte sich Rexingen nach der Gründung des Deutschen Reiches als „Viehbörse Süddeutschlands“ zu einem der wirtschaftlich erfolgreichsten Dörfer im Königreich Württemberg entwickelt. Hier machten die jüdischen Einwohner rund ein Drittel der Bevölkerung aus. In diesem Ort gab es eine der lebendigsten und größten jüdischen Landgemeinden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts am wenigsten von der Landflucht betroffen war.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten entwickelte sich das Dorf bei zunehmender Diskriminierung zu einem Mittelpunkt jüdischen Lebens in Württemberg. Rexingen galt am Abend der Weimarer Republik für die NSDAP nach eigenem Bekunden bis zur Machtübernahme Hitlers als „uneinnehmbare Festung“. Die Ergebnisse aller Reichstags- und Landtagswahlen belegen, dass die NSDAP im Deutschen Reich nie eine Chance erhalten hätte, die Macht zu ergreifen, wenn überall so wie in Rexingen gewählt worden wäre. Infolge der zunehmenden Repressionen des nationalsozialistischen Regimes entschloss sich ein Teil der jüdischen Rexinger zur gemeinsamen Auswanderung nach Palästina. An keinem anderen Ort Deutschlands glückte während der Nazizeit einer ganzen Gruppe von Juden die Flucht ins damalige britische Mandatsgebiet, wo mit Shavei Zion eine landwirtschaftliche Mustersiedlung gegründet wurde, die als schwäbische Form des Kibbuz später viele Nachahmer in Israel fand.

Der Rexinger Viehhändler und Landwirt Max Pressburger um 1920

Der Rexinger Viehhändler und Landwirt Max Pressburger um 1920

 

Blick in die Metallhandlung des jüdischen Karlsruhers Ettlinger

Blick in die Metallhandlung des jüdischen Karlsruhers Ettlinger

 Unterrichtsmodul Karlsruhe: Die Karlsruher jüdische Gemeinde, die zweitgrößte Badens, spielte bis in die Zeit des Nationalsozialismus durchgängig eine wichtige Rolle in der Geschichte der Stadt. Die Karlsruher Juden nahmen in ihrer Gesamtheit einen sozialen Aufstieg und leisteten einen bedeutenden, aber dennoch oft übersehenen Beitrag als Mitgestalter der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft, der modernen Wirtschaft, moderner urbaner Kultur und des modernen politischen Systems. Die z. T. über mehrere Generationen in der Stadt ansässigen Juden bildeten keine exotische, fremdartige Minderheit, sondern waren tief in der badischen und deutschen Kultur verwurzelt.
Zu unterstreichen ist auch, dass die Karlsruher Juden vor 1933 nie einen monolithischen Block bildeten - es gab nicht "die Juden", sondern eine arrivierte Oberschicht, einen Mittelstand und arme Juden, Juden, deren Familien schon seit zwei Jahrhunderten in Karlsruhe wohnten, und erst kürzlich zugewanderte Land- und Ostjuden, nationalliberale Monarchisten und Sozialdemokraten, Orthodoxe und Liberale, "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" und Zionisten. Seit 1933 wurde die jüdische Gemeinde Karlsruhe systematisch zerschlagen, und mehr als 1.000 Karlsruher Jüdinnen und Juden kamen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus gewaltsam ums Leben.

c) Auf der lokalen Ebene lassen sich die Etappen der Ausgrenzung und Entrechtung nicht nur detaillierter nachvollziehen, sondern jeweils auch in ihrer unmittelbaren Wirkung und in der Wahrnehmung der Betroffenen beurteilen. Einzelschicksale, wie das des 15-jährigen Julius Spier aus Haigerloch (Arbeitsblatt für den Unterricht), schaffen die Möglichkeit der Identifikation und werfen Fragen nach Handlungsmöglichkeiten und dem Verhalten der nichtjüdischen Deutschen in ganz konkreten Alltagssituationen auf. Die Judenverfolgung war, wie es der Historiker Peter Longerich schreibt, ein "öffentliches Ereignis". Enteignung, Entrechtung und Vertreibung, ganz konkret festgemacht an der „Arisierung“ von Geschäften und Firmen zeigen, wie die NS-Herrschaft auch schon vor 1939 ihre Ideologie in nüchterne Verwaltungspraxis umgesetzt hat. Gerade auf dieser Ebene erweist es sich dann, dass das NS-Regime auch durch ein hohes Maß an Zustimmung, aktive Unterstützung und teilweise sogar vorauseilenden Gehorsam getragen wurde, der die NS-Rassepolitik dynamisierte. Damit stellt sich nicht nur die Frage, was man hätte tun können, um dieses Unrecht zu verhindern, sondern auch was man hätte lassen können und welche Verantwortung daraus erwächst.

 "Arisierung" des jüdischen Warenhauses Geschwister Knopf, Zeitungsanzeige vom September 1938
 

"Arisierung" des jüdischen Warenhauses Geschwister Knopf, Zeitungsanzeige vom September 1938

Anhand des Schicksals der jüdischen Gemeinde in Rastatt lässt sich vor allem mit Hilfe von Archivmaterialien zeigen, dass die Nationalsozialisten ihre immer aggressiveren antisemitischen Maßnahmen offen vor den Augen der nichtjüdischen Bevölkerung austragen konnten. Dabei traten die „einfachen“ Bürger häufig als „Profiteure“ der jüdischen Entrechtung und Enteignung in Erscheinung - was ein düsteres Licht wirft auf das Zusammenspiel zwischen nationalsozialistischen Herrschern und „beherrschtem“ Volk.
Das Fallbeispiel Haigerloch (Unterrichtsmodul Haigerloch) zeigt, wie sich die antisemitische Politik der Nationalsozialisten in einem Milieu durchsetzte und konkretisierte, das durch ein langjähriges "Nebeneinander" und "Miteinander" von Juden und Christen geprägt war. Schülerinnen und Schüler können dabei erkennen, dass auch in einer eher konservativ geprägten Kleinstadt, die vielfältige und meist reibungsfreie Kontakte zwischen Juden und Christen ermöglichte, Nichtjuden mit unterschiedlichsten Reaktionsmustern - von Ablehnung und Resistenz bis hin zu Zustimmung und aktiver Mitwirkung - auf die antijüdische Politik der Nationalsozialisten reagierten. Konkrete Beispiele für die Verstrickung von Einwohnern Haigerlochs in die einzelnen Maßnahmen des antisemitischen Terrors und des Genozids veranschaulichen, wie viele Nichtjuden mit den Vorgängen der Schoah direkt oder indirekt in Berührung kamen. Sie bieten den Schülerinnen und Schülern damit anschauliche Ansatzpunkte zur Abwägung von Fragen der Schuld und Verantwortung.

Abtransport der Bruchsaler Juden in das Konzentrationslager Gurs
 

Abtransport der Bruchsaler Juden in das Konzentrationslager Gurs

 d) Die Untersuchung jüdischen Lebens vor Ort mit Fokus auf dem 20. Jahrhundert ermöglicht schließlich auch in besonderem Maße eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Erinnerung und Verantwortung (vgl. BP Geschichte Standard 3.3.1.7) nach 1945. In einer Spurensuche vor Ort können verschiedene Formen und Akteure der Erinnerung an das jüdische Leben erarbeitet und beurteilt werden, von Stolperstein-Aktionen, Benennung von Straßennamen, Gedenkfeierlichkeiten, Gedenkstätteninitiativen bis hin zu anerkannten Gedenkstätten. In gleichem Zuge sollte dann aber auch die Kehrseite, die Verweigerung der Aufarbeitung, der lasche Umgang mit Profiteuren und das oft lange Verschweigen vor Ort angesprochen und im historischen Kontext beurteilt werden.


Ein prominenter Fall in diesem Zusammenhang ist der des Konstanzer Oberbürgermeisters Bruno Helmle , der von 1959 bis 1980 ein erfolgreicher Oberbürgermeister der Stadt Konstanz gewesen war. Von der Stadt wurde er zum Ehrenbürger ernannt, von der Universität zum Ehrensenator. In seiner Autobiografie zeichnete Helmle von sich das Bild eines christlichen und tatkräftigen Menschen, der dem NS-Regime stets kritisch gegenüberstand. Dann stieß der Konstanzer Stadtarchivar Jürgen Klöckler 2010 zufällig auf ein Dokument vom Februar 1945, in dem Helmle als Leiter des Sachgebiets "Verwaltung jüdischen und reichsfeindlichen Vermögens" beim Konstanzer Finanzamt ausgewiesen war. Von dieser Tätigkeit hatte Helmle nie berichtet. Auf Bitte des damaligen Oberbürgermeisters Horst Frank konstituierte sich eine Gutachterkommission. Deren Ergebnisse waren brisant: In der Folge verlor Helmle posthum die Ehrenbürgerwürde der Stadt und die Ehrensenatorwürde der Universität. Das aufbereitete Unterrichtsmodul gibt Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich auf der Grundlage von Quellen und einem Expertengutachten mit Helmles Leben im Nationalsozialismus kritisch auseinanderzusetzen und zu einem eigenständigen Urteil zu kommen.

Gedenkstätte Vulkan Haslach im Kinzigtal

Gedenkstätte Vulkan Haslach im Kinzigtal

 

Eine andere Form der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit liefert der Gedenkstättenverbund Südlicher Oberrhein (Unterrichtsmodul zum Gedenkstättenverbund Südlicher Oberrhein). Er umfasst gegenwärtig sechs Gedenkstätten in Breisach am Rhein (Das Blaue Haus), Emmendingen (Jüdisches Museum), Haslach (Gedenkstätte Vulkan), Kippenheim (Ehemalige Synagoge), Offenburg (Erinnerungsstätte Salmen) und Sulzburg (Ehemalige Synagoge), die aus bürgerschaftlichem und kommunalem Engagement heraus entstanden sind und sich mit dem jüdischen Leben und den Verbrechen der NS-Diktatur am südlichen Oberrhein auseinandersetzen. Exemplarisch lassen sich im aufbereiteten Unterrichtsmodul Formen der Erinnerung an die NS-Diktatur (Geschichtsdokumentation und Zeitzeugeninterview) erarbeiten und auf ihre Standortgebundenheit untersuchen.


 - Kompetenzzentrum für Geschichtliche Landeskunde im Unterricht  -


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