Moriz Henle - ein jüdischer Kantor aus Oberschwaben in der Gesellschaft des Kaiserreichs
Hintergrundinformationen
1.2 Zeittafel
1802/03
Mediatisierung der Reichsstadt Ulm und Eingliederung ins Kurfürstentum Bayern
1805
Ansiedlung von Heinrich Harburger als Schutzjude in Ulm gegen den Widerstand der Ulmer Kaufleute (erster ansässiger Jude seit 1499). Zu dieser Zeit leben in Württemberg gut 500 Juden.
1806
Laupheim fällt an das neugegründete Königreich Württemberg.
1808
Offizielle Gründung der Jüdischen Gemeinde Stuttgart
1809
Württemberg: Juden erhalten das Recht, bürgerliche Gewerbe zu treiben und in Zünfte einzutreten.
1810
Ulm geht ans Königreich Württemberg über.
Ab 1810
Nach den Gebietserweiterungen leben in Württemberg während des 19. Jh. durchgehend ca. 12.000 Juden.
1812
Preußisches Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden bringt verbesserte Rechtsstellung der Juden (werden Staatsbürger).
1819
Juden werden in Württemberg zum Universitätsstudium zugelassen.
1822
Abbruch der ersten und Bau der zweiten Synagoge in Laupheim
1828
Württembergisches „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ („Emanzipationsgesetz“): Religionsfreiheit für die Juden; rechtliche Gleichstellung der Juden mit bestimmten Einschränkungen; Recht der Juden auf freie Berufswahl, auf freie Niederlassung und auf öffentliche Gottesdienste; zugleich Bindung aller Juden an bestimmte Gemeinden
1832
Errichtung der halb staatlichen, halb kirchlichen „Königlich-Israelitischen Oberkirchenbehörde“ in Stuttgart, der die jüdischen Gemeinden unterstellt sind. Staatliche Anerkennung und Reglementierung der jüdischen Religion. Die Behörde ist dem Innenministerium, ab 1848 dem Ministerium des Kirchen- und Schulwesens unterstellt.
1835
Juden erhalten aktives und passives Wahlrecht für Gemeinderat und Bürgerausschuss.
1835
Isak Röder erhält als erster Jude das Ulmer Bürgerrecht.
1845
Genehmigung einer zu Laupheim gehörenden jüdischen Filialgemeinde in Ulm
ab 1847
Gründung jüdischer Vereine in Ulm
ab Mitte 19. Jh.
Juden kommen in Württemberg als Unternehmer, Bankiers, Ärzte, Juristen, Professoren und Künstler zunehmend zu beruflichem Erfolg und hohem Ansehen.
1860
56 jüdische Firmen in Ulm ansässig
1864
Gesetz betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen: volle rechtliche Gleichstellung der Juden in Württemberg
1868
Der Ulmer Abgeordnete Dr. Eduard Pfeiffer zieht als erster Jude in den Landtag ein.
1868
Mit 843 Mitgliedern ist Laupheim die größte jüdische Gemeinde in Württemberg.
1869
Richard Wagners antisemitische Streitschrift „Das Judenthum in der Musik“ findet in der zweiten Auflage große Beachtung (erste Auflage bereits 1850).
1871
Die Reichsverfassung bringt die volle rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland. Verbot von christlich-jüdischen Mischehen fällt. Im Kaiserreich werden die Juden Teil der Bildungselite. Starke Integration der Juden in das bürgerliche Vereinswesen.
1870er Jahre
Liberalisierungsprozess der Mehrheit der Juden führt zur Abspaltung der Orthodoxie.
1873
Einweihung der seit 1870 gebauten Ulmer Synagoge
1875
Mit 692 von 30.222 Einwohnern (= 2,3%) erreicht der Anteil der Juden an der Ulmer Bevölkerung seinen Höhepunkt (1880 mit 694 die höchste absolute Zahl).
1875
Einführung der Zivilehe ermöglicht Heirat zwischen Christen und Juden ohne Konversion.
1877
Einweihung der restaurierten und erweiterten Laupheimer Synagoge.
1878ff.
„Antisemitismus-Streit“, ausgehend von Berlin („Die Juden sind unser Unglück“, so der Historiker Treitschke)
1878-90er Jahre
Gründung und Höhepunkt der Aktivitäten antisemitischer Parteien und Organisationen im Kaiserreich (u.a. „Christlich-soziale Partei“, Deutsche Reformpartei“)
1879
Wilhelm Marr prägt den Begriff „Antisemitismus“ politisch um.
1880/90er Jahre
„Ulmer Schnellpost“ nimmt antisemitische Positionen ein.
1888
Einrichtung eines selbstständigen Rabbinats in Ulm
1893
Gründung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens
1896
Theodor Herzl: „Der Judenstaat“ (Ziel: jüdischer Nationalstaat in Palästina)
1899
Houston Stewart Chamberlains Werk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ propagiert einen rassischen Antisemitismus.
gesamtes 19. Jahrhundert
Vielzahl von Juden tritt zum Christentum über.
1912
Israelitische Religionsgemeinschaft wird Körperschaft des öffentlichen Rechts (Kirchenhoheit statt Staatskirchentum).
1914-1918
Viele deutsche Juden (rund 100.000) leisten Kriegsdienst. Die erhoffte gesellschaftliche Anerkennung bleibt aber aus. Die so genannte „Judenzählung“ im deutschen Militär (1916) fördert Vorurteile gegen Juden.
Nach 1918
Alle staatlichen Beschränkungen der Israelitischen Religionsgemeinschaft werden aufgehoben.
1924
Volle religiöse Autonomie der Juden in Deutschland
1924
Israelitischer Oberrat als Landeseinrichtung ersetzt die israelitische Oberkirchenbehörde.
1924-26
Entstehung und Veröffentlichung von Hitlers „Mein Kampf“, in dem Hitler sein antisemitisches Weltbild entwickelt
1929
Umbau der Ulmer Synagoge vom orientalischen zum neoklassizistischen Stil
bis 1933
Viele Juden gehören zur wissenschaftlichen und künstlerischen Elite Deutschlands.
1933
Beginn der judenfeindlichen Politik des NS-Staates: Boykott jüdischer Geschäfte, Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ etc.
1933
Beginn der Auswanderung von Juden aus Deutschland. Insgesamt wandern in den Folgejahren 332 Ulmer Juden aus.
1935
Nürnberger Gesetze: Den Juden wird das Bürgerrecht entzogen. Eheschließungen und außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden werden verboten.
1938
Israelitische Religionsgemeinschaft wird per Gesetz in eingetragene Vereine umgewandelt.
1938
Pogrom (gewaltsame Ausschreitungen) gegen die Juden im Reich am 9. November. Vielzahl von Verhaftungen.
1939
Beginn der Zwangsumsiedlungen von Juden in Württemberg
1940
Beginn von Deportationen aus dem „Altreich“
Ende 1941
Beginn der Deportationen aus Württemberg in den Osten
1941
Göring erteilt Heydrich den Befehl zur „Endlösung der Judenfrage“.
Anfang 1942
Auf der Wannseekonferenz werden die dementsprechenden Maßnahmen für den industriellen Massenmord an den deutschen bzw. europäischen Juden koordiniert.
bis Kriegsende
Ermordung von rund 6 Mio. europäischen Juden
1945
ca. 100.000 Juden leben als „Displaced Persons“, als entwurzelte, vormals in Konzentrationslager verschleppte Menschen in Deutschland.
nach 1945
Es entstehen langsam wieder kleine jüdische Gemeinden aus überlebenden Lagerinsassen, Remigranten u. a.
1948
Israelitische Kultusgemeinde Württembergs wieder als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt.
Anfang 1950er Jahre
In Deutschland werden die ersten neuen Synagogen gebaut (Stuttgart 1952).
seit 1990
Zuzug von osteuropäischen Aussiedlern nach Deutschland
2000
Ulm wird Rabbinatssitz (Teil der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg).
2012
Eröffnung der neuen Synagoge in Ulm
2014
Unter den rund 120.000 Einwohnern Ulms sind etwa 450 Juden.
1.3 Bedeutung
Moriz Henle (geboren 1850 in Laupheim, gestorben 1925 in Hamburg) steht für das Phänomen des gesellschaftlichen Aufstiegs durch Bildung und für das Phänomen der Assimilation bzw. Akkulturation deutscher Juden sowie für ihre Integration in die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs. Einerseits in der jüdischen Tradition verwurzelt, näherte er sich andererseits – wie viele andere jüdische Künstler, Literaten, Musiker in Deutschland – auch vor dem Hintergrund staatlicher Aufsicht und Lenkung der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg sowie der formalen rechtlichen Gleichstellung der Juden in der Reichsverfassung von 1871 der christlichen Mehrheitsgesellschaft an, etwa in seiner beruflichen Tätigkeit als Musiker und in seiner bürgerlichen Lebensführung. Sinnfällig in diesem Zusammenhang ist etwa die Namensführung (zunächst Moses, später Moriz bzw. Moritz).
In Gegenbewegung zur rechtlichen Gleichstellung und zum sozialen Aufstieg der Juden im Kaiserreich wandelte die bereits vorhandene Judenfeindschaft ihren Charakter hin zu einem zunehmend auch rassisch begründeten Antisemitismus, der auch stark öffentlichkeitswirksam wurde. Überdies sah sich der liberale Teil der deutschen Juden einer massiven Kritik der orthodoxen und konservativen Glaubensgenossen an den Assimilierungstendenzen ausgesetzt. Diese Entwicklungen werden anhand exemplarischer regionaler Quellen greifbar.
Henles Berufung als Kantor an die führende Reformsynagoge Deutschlands, den Hamburger Tempel, im Jahr 1879 sowie seine weiteren kompositorischen, schriftstellerischen und Funktionärstätigkeiten belegen die überregionale Bedeutung dieses oberschwäbischen Musikers. Das Modul weitet insofern den regionalen Horizont über Laupheim, Ulm und Württemberg hinaus.
Eine der Hauptzielsetzungen des vorliegenden Unterrichtsmoduls ist es, neben den Anfeindungen, denen sich die Juden in Deutschland ausgesetzt sahen, vor allem ihre gesellschaftliche Integration und ihre Leistungen innerhalb der deutschen Gesellschaft zu verdeutlichen.
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -