Das UNESCO-Weltkulturerbe - Klosterinsel Reichenau im Bodensee - Bedeutung

Die Aufnahme der Insel Reichenau in die UNESCO-Liste der Weltkulturerbestätten im Jahr 2000 als eine von damals zwei Stätten in Baden-Württemberg und von 24 in Deutschland belegt eindrucksvoll ihre herausragende Bedeutung für die deutsche und europäische Geschichte.

Die Befassung mit dem Weltkulturerbe Klosterinsel Reichenau vermittelt Kenntnisse und Einsichten zur religiösen, kulturellen, staatlichen und gesellschaftlichen Funktion von Klöstern im Früh- und beginnenden Hochmittelalter:

  • Lebensgemeinschaft mit einer Ordensregel
  • Zentrum christlicher Religion, Lehre, Tradition und Heiligenverehrung
  • Motor der kulturellen Entwicklung auf den Gebieten der Buchherstellung, der Schrift- und Sprachbeherrschung, der Literatur, der Bildkünste, der Musik, der Wissenschaften, der Heilkunde sowie des Bildungswesens durch die Einrichtung von Klosterschule, Schreib- und Musikschule
  • Institution der Reichsverwaltung als Pfalzort, durch Dienste in hohen Reichsämtern, im Heeresdienst
  • Wirtschaftsbetrieb mit Landwirtschaft und Werkstätten zur Selbstversorgung mit Lebensmitteln, Kleidung, Geräten, Werkzeugen
  • Grablege für Stifter und Herrscher
  • Anfänge einer Sozialfürsorge durch Kranken- und Armenversorgung

    Seite mit Initiale aus dem
    Seite mit Initiale aus dem "Reichenauer Hausbuch"
    © Johannes Hof

    Das Grab Kaiser Karls III. im Chor des Münsters in Mittelzell
    Das Grab Kaiser Karls III. im Chor des Münsters in Mittelzell
    © Johannes Hof

Die Geschichte der Benediktinerabtei Reichenau zeigt in exemplarischer Weise die unter den Merowingern einsetzende und unter den Karolingern ausgeweitete Verbindung von Kirche und Staat sowie die besondere Rolle, die den Klöstern dabei zufiel. Diese reichskirchliche Struktur, die später von den Ottonen in modifizierter Form weitergeführt wurde, war für die staatliche und kulturelle Entwicklung Europas von entscheidender Bedeutung.

Die Klöster als Träger religiöser, kultureller, wissenschaftlicher und politischer Aufgaben und der Staat in Kooperation mit der Amtskirche als übergreifende Ordnungsmacht schufen in ihrem gegenseitig sich fördernden Zusammenwirken die Grundlage für das Entstehen der christlich-abendländischen Kultur, die Europa bis heute prägt.

Wegen ihrer herausragenden Leistungen in jener Epoche wird die Reichenau häufig als "Wiege der abendländischen Kultur" bezeichnet.
Hier entstand der "St. Galler Klosterplan" als idealtypische Darstellung einer benediktinischen Klosteranlage, der für den Neubau der Abtei St. Gallen (830) gefertigt, in dieser Form zwar nie realisiert, aber für die folgenden Klosterbauten allgemein richtungsweisend wurde.

Der St. Galler Klosterplan
Der St. Galler Klosterplan
© Johannes Hof
Karl der Große, Büste, Kopie von einem Standbild in Müstair/Schweiz (Museum Mittelzell)
Karl der Große, Büste, Kopie von einem Standbild in Müstair/Schweiz (Museum Mittelzell)
© Johannes Hof

Die engen Beziehungen des Reichenauer Klosters zu Kaiser Karl dem Großen und seinen Nachfolgern stehen beispielhaft für die Rolle, die den Klöstern von den karolingischen Herrschern bei der Reichsverwaltung zugedacht war. Die Reichenauer Äbte Waldo (786 -806), Heito I. (806 - 823) und Heito III. (888 - 913) standen als Berater, Prinzenerzieher, Gesandte und Kanzler im Dienst der Kaiser ihrer Zeit. Karl der Große nutzte als erster planmäßig die vielfältigen Funktionen von Kirche und Mönchtum für seinen Staatsaufbau.

Für Karl, der die große Bedeutung schriftlicher und zahlenmäßiger Dokumentation für eine geordnete Staatsverwaltung erkannt hatte, waren die Klöster als wichtigste Träger und Vermittler einer schriftlichen Kultur dafür eine unverzichtbare fördernde Kraft. Gleiches gilt für das Bildungswesen, in dem Karl den entscheidenden Faktor für die gesellschaftliche und staatliche Entwicklung sah, ebenso für die in den Klöstern gepflegte wissenschaftliche Arbeitsweise und für die innovationsfreudige Bewirtschaftung des Klosterbesitzes
St. Georg, Ansicht von Süden
St. Georg, Ansicht von Süden
© Johannes Hof
St. Peter und Paul von Südwesten
St. Peter und Paul von Südwesten
© Johannes Hof
 

Die drei Inselkirchen sind mit ihrer Architektur und Wandmalerei eindrucksvolle Zeugnisse des Glaubenseifers wie auch des unternehmerischen und gestalterischen Geistes der Mönche und Stifter. Ihr Erhaltungszustand vermittelt trotz einiger späterer Erweiterungen, Umbauten und Änderungen der Ausstattung authentische Eindrücke romanischer Bau- und Bildkunst.

Der überragende Rang der Reichenauer Buchkunst wird dokumentiert durch die Aufnahme von zehn der etwa 40 verbliebenen Codices der "Reichenauer Malschule", darunter das Evangeliar Ottos III., das Perikopenbuch Kaiser Heinrichs II. und die Bamberger Apokalypse, in das "Memory of the World" ("Gedächtnis der Welt") der UNESCO im Jahr 2003. Die Reichenau besaß im 10. und 11. Jahrhundert die wohl größte und einflussreichste europäische Malschule.
Die ausdrucksvolle Gebärde und Mimik der Figuren, das Pathos und die klaren Farben prägen die aus spätantikem Vorbild weiterentwickelte einzigartige Formensprache der Reichenauer Buchmalerei, die zum allgemeingültigen Beispiel für mittelalterliche Buchkunst geworden ist.

Eine Seite aus dem Evangeliar Ottos III. mit Wunderszenen
Eine Seite aus dem Evangeliar Ottos III. mit Wunderszenen
© Johannes Hof
Wandmalereien in St. Georg mit Wunderszenen, um 1000
Wandmalereien in St. Georg mit Wunderszenen, um 1000
© Johannes Hof

Dies gilt ebenso für die monumentalen, um das Jahr 1000 entstandenen Wandmalereien im Mittelschiff von St. Georg in Oberzell, acht Wunderszenen aus dem Neuen Testament, die den Bildtypus der Buchmalerei übernehmen.

Walahfrid Strabo schuf 824 mit seiner "Visio Wettini" ("Vision Wettis") in 945 Hexameterversen eine Dichtung, die erstmals in der christlichen Literatur Europas einen visionären Stoff mit Bezügen zur eigenen Gegenwart aufgreift und damit ein Vorläuferwerk der "Divina Comedia" von Dante Alighieri darstellt. Sein Gedicht "De cultura hortorum" über den Kräutergarten des Klosters, kurz "Hortulus" genannt, in dem in 444 Versen 24 Heil-, Küchen- und Zierpflanzen beschrieben werden, ist das erste deutsche Werk zum Gartenbau.

Der wieder angelegte Kräutergarten auf der Nordseite des Mittelzeller Münsters
Der wieder angelegte Kräutergarten auf der Nordseite des Mittelzeller Münsters
© Johannes Hof

Hermann der Lahme, von Geburt an gelähmt und behindert, seit 1020 im Kloster Reichenau und später dessen Abt, galt schon zu Lebzeiten als "Wunder des Jahrhunderts" und tat sich als Gelehrter auf vielen Wissenschaftsgebieten hervor. Er führte die Zeitrechnung "vor" und "nach" Christi Geburt ein, schuf eine Notenschrift, komponierte, dichtete, entwickelte Neuerungen in der Astronomie und Geometrie und baute mechanische Instrumente
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg-