Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft (1380 - 1530)

1. 1 Bedeutung


Das Markenzeichen der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft mit den Initialen des Gesellen Friedrich Grünenburg aus Konstanz.

Das Markenzeichen der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft mit den Initialen des Gesellen Friedrich Grünenburg aus Konstanz.
© Entnommen aus: Eitel, Peter; Koppmann, Jan: Quellen zur Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft. Quellen zur Ravensburger Stadtgeschichte, 9. Lieferung. Stadtarchiv Ravensburg 1996, Umschlagblatt.

1909 wurde im Kloster Salem beim Entrümpeln in einem alten Schreibtisch eine verstaubte Aktenmappe mit der Aufschrift "Unnützliche Handelssachen" entdeckt. Rasch stellte sich heraus, dass dieses Paket Geschäftspapiere der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft aus den Jahren 1472 bis 1527 enthielt. Dem Zufall dieses Fundes verdankt Ravensburg interessante Einblicke in seine große wirtschaftsgeschichtliche Vergangenheit in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit.

Zwischen 1380 und 1530 war mit der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft eines der damals größten deutschen Fernhandelsunternehmen in Ravensburg ansässig - entstanden als ein Zusammenschluss mehrerer, im Fernhandel tätiger und verwandtschaftlich verbundener Familiengesellschaften im Bodenseeraum.


Großkaufmann im Kontor, Holzschnitt von H. Weiditz, ca. 1520

Großkaufmann im Kontor, Holzschnitt von H. Weiditz, ca. 1520
© in: Eitel, Peter: Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft. Ravensburger Stadtgeschichte, Heft 13, Ravensburg 1984 (Umschlagbild).

Aufstieg und Blüte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft war Ergebnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik in der spätmittelalterlichen Stadt, in der sich eine neue markt- und gewinnorientierte Wirtschaftsmentalität innerhalb der städtischen Führungsschicht entwickelte und durchsetzte: So haben wir es hier in Ravensburg mit einem Zusammenschluss europaweit erfolgreich tätiger und dadurch zunehmend selbstbewusster Kaufleute zu tun, die mit allem handelten, was Konjunktur hatte und damit lukrative Geschäfte versprach.

Nicht zuletzt wegen der verhältnismäßig umfangreichen Quellenlage können an diesem regionalgeschichtlichen Beispiel wesentliche Merkmale frühkapitalistischen Denkens und Handelns erarbeitet und gewürdigt werden. Dennoch handelt es sich hier nicht nur um ein reines Abbild vergleichbarer allgemeiner historischer Entwicklungen: Im Unterschied zu den Fuggern etwa blieben die Ravensburger Kaufleute dem Ideal eines "frommen Christenmenschen" verpflichtet - greifbar etwa in ihrem steten Bemühen um einen für alle Beteiligten gerechten Preis und der klaren Ablehnung reiner Bankgeschäfte. Insofern zeichnete sich hier schon - ob gewollt oder ungewollt - ein früher Gegenentwurf zum scheinbar "moderneren" und langfristig erfolgreicheren Geschäftsgebaren eines Jakob Fugger ab.

Die Frage "Neue Wirtschaftsformen: Fluch oder Segen?" kann somit auch schon zeitgenössisch differenziert erörtert werden. Schließlich drängt sich bei einer Analyse der Organisationsstruktur der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft ein aktualisierender Vergleich mit modernen Unternehmensformen und hier insbesondere der Genossenschaft (eG) förmlich auf.


Grabstein des Mitbegründers der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft

Grabstein des Mitbegründers der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Henggi Humpis (gest. 1429) in der "Gesellschaftskapelle" der ehemaligen Karmeliterkirche (heute evangelische Stadtkirche). Es handelt sich hierbei um das älteste Epitaph eines Kaufmanns in Deutschland.
© Andreas Zodel

Zielgruppen des hier vorgestellten regionalgeschichtlichen Unterrichtsmodells sind vor allem Schülerinnen und Schüler der Klassen 7 und 10 des Gymnasiums. Die Materialien und die vorgestellten Unterrichtsvorschläge sind entsprechend den unterschiedlichen Anspruchsniveaus progressiv gestaltet.


Folgende domänenspezifische Kompetenzen können anhand dieses Beispiels gefördert werden:

Historische Fragekompetenz:
Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, historische Fragestellungen zu entwickeln, vorgegebene Fragestellungen zu erfassen, die dafür jeweils notwendigen Fragen zu formulieren - hier v. a. in Form eines Advance Organizers zu Beginn.

Historische Sachkompetenz:
Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft zur Strukturierung historischer Sachverhalte mit Hilfe fachspezifischer Dimensionen (hier v. a. Wirtschaft und Gesellschaft) und Kategorien (hier v. a. Frühkapitalismus: Städtischer Markt, Fernhandel, Geldwirtschaft, Banken, Verlagssystem, Monopole, Globalisierung; städtische Gesellschaft: Patriziat, ständische Ordnung, vertikale Mobilität, Mentalitätswandel im Rahmen einer veränderten Arbeits- und Wirtschaftsethik der städtischen Führungsschicht).

Historische Methodenkompetenz:
Über methodische Fähigkeiten für die Re-Konstruktion von Vergangenem verfügen, um Fragestellungen nachzugehen (hier v.a. Textquellen, Bilder, Karten und Schaubilder analysieren). Über methodische Fähigkeiten zur Analyse und Beurteilung bereits vorliegender historischer Narrationen und auch des eigenen Erkenntnisprozesses verfügen (De-Konstruktion) - hier v. a. Möglichkeit der vorsichtigen "Dekonstruktion" eines in der Stadt Ravensburg "traditionell" verankerten Geschichtsbildes; Möglichkeit der Neubewertung des Endes der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft.

Deutungs- und Reflexionskompetenz:
Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft historische Entwicklungen und Veränderungen unter Anwendung relevanter erkenntnistheoretischer Prinzipien zu erfassen, zu interpretieren und zu beurteilen (hier v. a. Zeit- und Standortgebundenheit, Multiperspektivität, Multikausalität, Kontroversität).

Historische Orientierungskompetenz:
Einsichten und Erkenntnis über Vergangenes zu nutzen, um das kollektive und individuelle Welt-, Fremd- und Selbstverstehen plausibel zu fundieren (Identitätsbildung) und gegenwärtiges & zukunftsbezogenes Handeln auch historisch zu begründen (Werteorientierung) - hier v. a. "Neue Wirtschaftsformen: Fluch oder Segen?" - "Ist der quantitative Erfolg die alleinige Messlatte zur Beurteilung des Erfolgs / Misserfolgs einer frühmodernen Unternehmensform?" - "Sind Genossenschafter die besseren, weil faireren Kapitalisten?" - "Beginnt die Globalisierung schon im Spätmittelalter? Sind die damaligen Handelsgesellschaften schon Global Player?" - "Wechselwirkung Wirtschaft und Politik damals und heute?" - "Geld und Handel vernetzen Europa - eine maßgebliche Wurzel europäischer Identität?"

(Zusammenstellung der hier aufgeführten Kompetenzbegriffe in Anlehnung an einen Vortrag von Frau Prof. Dr. Schreiber anlässlich einer Tagung der Fachleiter und Lehrbeauftragauftragen Geschichte vom 6.-8.Juli 2009 in der Landesakademie Bad Wildbad)


1.2 Geschichte

Grabstein des Mitbegründers der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft

Wagen der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft beim alljährlichen. Hier: Darstellung des Leinen- und Papierhandels - die beiden regionalen Standbeine der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft
© Photographed by Andreas Praefcke, July 2005. Entnommen aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Große_Ravensburger_Handelsgesellschaft


Anlässlich des alljährlich zum Schuljahresende stattfindenden Rutenfests in Ravensburg wird die Geschichte dieser einst so bedeutenden freien Reichstadt und ihrer Bürger auf ganz besondere Weise gegenwärtig, siehe Internetseite zum Rutenfest Ravensburg

Festumzug anlässlich des Rutenfestes am sogenannten Rutenmontag 2005

Festumzug anlässlich des Rutenfestes am sogenannten Rutenmontag 2005. Hier: Die Niederlassungen der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft werden dargestellt.
© Photographed by Andreas Praefcke, July 2005. Entnommen aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Große_Ravensburger_Handelsgesellschaft

Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft war ein Verbund von Gesellschaftern, der gegen Ende des 14. Jahrhunderts allmählich aus der Zusammenarbeit mehrer, im Fernhandel tätiger und verwandtschaftlich verbundener Familiengesellschaften im Bodenseeraum entstanden ist: Der Humpis aus Ravensburg, der Mötteli aus Buchhorn (heute Friedrichshafen) und der Muntprat aus Konstanz. Diese Gesellschaft war eines der bedeutendsten europäischen Handelsunternehmen des Spätmittelalters. In spanischen und italienischen Quellen wird sie auch die 'magna societas alamanorum', die 'Große Gesellschaft der Deutschen' genannt.

Ein regionales Standbein dieser Gesellschaft war der Handel mit oberschwäbischen Leinenwebwaren und mit Barchent, einem Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle. Ab 1402 kam der Handel mit heimischem Papier hinzu, als in Ravensburg eine der ersten Papiermühlen nördlich der Alpen errichtet wurde (vgl. Abb.). Auf dieser Basis wurde europaweit mit allem gehandelt, was Konjunktur hatte und damit lukrative Geschäfte versprach: Gewürze aus dem Orient, Wein und Öl aus dem Mittelmeerraum, Erze aus Osteuropa und anderes mehr.

Die Gesellschaft unterhielt bis zu 13 größere und zahlreiche kleinere Niederlassungen in den damals wichtigen Handels- und Messestädten Europas - so genannte Gelieger oder Filialen, wie man heute sagen würde (vgl. Abb.).

Die Zahl der Gesellschafter schwankte zwischen 40 und 90 - meist mehrere aus einer Familie. Die bedeutendste Familie innerhalb der Gesellschaft war von Anfang an die Familie Humpis, die auch durchgängig die meisten "Regierer" der Gesellschaft stellte. Der Name leitet sich vermutlich von "Hundbiss" ab, weshalb im Familienwappen auch drei Windhunde auftauchen. Schon in vorreichsstädtischer Zeit nahmen sie als Ministeriale eine gehobene Stellung ein. Dies setzte sich ab 1298 fort: Familienangehörige der Humpis bekleideten lange Zeit das Amt des Ammanns und des Bürgermeisters der Stadt Ravensburg. Folgerichtig wurde wegen dieser starken Stellung der Familie Humpis Ravensburg der Verwaltungssitz der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft.
So erfolgreich die Gesellschaft ganz offensichtlich im Verlauf des 15. Jahrhunderts agierte, so seltsam erscheint das sang- und klanglose Ende der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft: In den Ravensburger Quellen erscheinen "DIE GEMEYNSCHAFTSGENOSSEN DER HUMPISSEN GESELLSCHAFT ZU RAFENSPURG" ein letztes Mal am 26. November 1530 - es waren wohl nicht mehr genügend Gesellschafter zur fälligen Erneuerung des jeweils nur auf Zeit geschlossenen Gesellschaftsvertrages vorhanden. Dieses merkwürdige "Verschwinden" wurde bisher vor allem unter dem Diktum "Niedergang ... Abstieg" zu erklären versucht. Allerdings ergeben sich aufgrund verschiedener Forschungshypothesen in jüngster Zeit Zweifel an dieser so eindeutigen Bewertung des Endes der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft. Zu dieser Diskussion sei an dieser Stelle auf AB 13 verwiesen.

 

- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -


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