Hintergrundinformationen
1.1 Bedeutung
Die Arbeiterkolonie Gmindersdorf in Reutlingen, die in den Jahren 1903 bis 1922 von der Textilfirma Ulrich Gminder errichtet wurde, war die größte Arbeitersiedlung im Königreich Württemberg und auch aus architektonischer bzw. städteplanerischer Sicht herausragend. Für Konzeption und Bauleitung wurde der renommierte Architekt Theodor Fischer, Professor für Städtebau an der TH Stuttgart gewonnen, der für das Projekt mit Architekturpreisen ausgezeichnet und in Fachzeitschriften gelobt wurde.
In Anlage und Baustil orientierte sich Fischer am englischen Gartenstadtkonzept mit seinem Cottagesystem, das er bewusst der berüchtigten Mietskaserne, wie man sie aus den großen Industriezentren, vor allem aus Berlin kennt, vorzog. Dabei folgten Architekt und Unternehmen nicht nur ästhetischen Gesichtspunkten, sondern in erster Linie sozialpädagogischen und firmenpolitischen Erwägungen:
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Die möglichst große räumliche Trennung der Arbeiterfamilien durch das Cottagesystem sollte Konflikte, aber auch umstürzlerische politische Zusammenschlüsse schon im Ansatz verhindern, wie sie etwa in den Mietskasernen der Großstädte auftraten.
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Die vergleichsweise niedrigen Löhne der Firma Gminder sollten durch die hochwertigen Wohnungen kompensiert werden. Ein kleiner Garten sollte Feierabendgartenbau und eine gewisse Kleintierhaltung ermöglichen und die Aufwendungen für Lebensmittel reduzieren.
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Indem der Mietvertrag an den Arbeitsvertrag gekoppelt wurde – und zwar für alle Familienmitglieder – sollte eine Stammbelegschaft herangebildet werden. Gleichzeitig stellt dieser Passus ein Druckmittel in möglichen Arbeitskämpfen dar.
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Weitere Vorschriften des Mietvertrags wie das Verbot von Schlafgängern, aber auch hygienische Vorgaben sowie die Installierung eines „Koloniewarts“ dienten zur Kontrolle und Disziplinierung der Arbeiterschaft. Das übergeordnete Ziel war eine Verbürgerlichung der „proletarischen“ Lebensweise und damit die Abwehr klassenkämpferischer Bestrebungen.
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Die Bereitstellung einer gewissen Infrastruktur – im Gmindersdorf gab es Waschhäuser, ein Kaufhaus, eine Metzgerei und eine Bäckerei, einen Kinderhort (seit 1915) und einen Altenhof (seit 1922) – sollte Berührungspunkte mit der Reutlinger Bevölkerung verhindern und bedeutete eine weitere Kontrolle der „Gmindersdörfler“. Selbst eine Wirtschaft wurde errichtet und mit Auflagen an den Pächter versucht, Alkoholkonsum und Freizeitverhalten der Arbeiter zu regulieren.
B 30 Wirtschaft „Zum Stern“, Ansichtskarte 1911 © Sammlung Holger Lange, Reutlingen Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen |
B 31 Wirtschaft „Karz“ (ehemals „Zum Stern“) © Dr. Ines Mayer 2014 |
Zu dem übergeordneten Unterrichtsthema „Industrialisierung und Soziale Frage“ lassen sich mit dem Modul „Gmindersdorf“ folgende Aspekte erarbeiten:
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die Wohnsituation der Industriearbeiter in Deutschland um 1900 und die damit verbundenen Lebensverhältnisse;
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die Bemühungen der Unternehmen um eine feste und auch politisch zuverlässige Stammbelegschaft;
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der paternalistische Lösungsansatz für die Soziale Frage und dessen Nutzen für die Unternehmen;
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die Reaktion der Arbeiter auf diese unternehmerischen „Wohltaten“ und damit verbunden die Spannung zwischen Fürsorge und Kontrolle;
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der Beitrag von Städtebau und Architektur zur Verbesserung der „proletarischen“ Lebensverhältnisse (Transfermöglichkeiten zu den Konzepten des Bauhauses und des Deutschen Werkbunds).
B 7 Wohnhaus in Gmindersdorf, Wohnküche
© Heimatmuseum Reutlingen 1989/74 / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen
Die im Gmindersdorf-Projekt aufeinander prallenden unterschiedlichen Interessen machen das Thema besonders fruchtbar für die Ausbildung der Urteilskompetenz der Schüler, zumal eindeutige Wertungen im Sinne eines gut – böse nicht vorliegen. Im Gegenteil: Die ästhetisch angelegte und vom Wohnkomfort her ansprechende Arbeiterkolonie inklusive Kleingärten und Infrastruktur bedeutet eine objektive Verbesserung gegenüber den prekären Wohnverhältnissen der städtischen Industriearbeiter in engen und stickigen Mietskasernen. Gleichwohl wird das unternehmerische Engagement von der Arbeiterschaft zum Teil kritisiert und zurückgewiesen, da sie die damit verbundene Gängelung und Kontrolle als unerträglich empfanden.
Diese beiden Sichtweisen – eventuell ergänzt durch die Perspektive der Architekten und Städtebauer – in Form einer Debatte auszugestalten und abzuwägen stärkt neben der schon erwähnten Urteils- auch die Sprachkompetenz der Schüler.
1.2 Geschichte
B 35 Fabrik Gminder und Gmindersdorf (1914)
© Stadtarchiv Reutlingen: StadtA Rt S 1000 083/304 / Dieses Bild ist von der Lizenz CC-BY 4.0 ausgenommen
Chronologie
1814
Gründung der Firma Ulrich Gminder als Lohnfärberei für Leder
1869/72
Verlagerung der Färberei (mittlerweile von Textilien) und Bau einer neuen Färberei außerhalb der Stadt, entlang der Tübinger Straße
1892
Die Firma Gminder beschäftigt mehr als 1000 Arbeiter; um die Jahrhundertwende ist sie der größte Textilbetrieb Württembergs.
1903
Baubeginn der Arbeitersiedlung in der Nähe der Färberei an der Tübinger Straße; neben den ersten Häusern wird ein Waschhaus errichtet.
1905
Der Reutlinger Gemeinderat bewilligt den Namen „Gmindersdorf“. Bau des Kaufhauses und Verpachtung an den Reutlinger Konsumverein; Bau einer Mosterei; Gründung des Musikvereins „Alpenrösle“.
B 3 Gedenktafel am Eingang zum Gmindersdorf, Reutlingen
© Dr. Ines Mayer 2014
1906
Bau und Eröffnung der Wirtschaft und Metzgerei „Zum Stern“
1907
Bau des zweiten Waschhauses
1911
Errichtung der letzten Wohngebäude
1913/14
Bau des Kinderhorts (Eröffnung im Januar 1915)
1915
Bau eines (gemeinschaftlich genutzten) Ziegenstalls
1916/22
Bau des Altenhofs
1964
Übernahme der Firma Ulrich Gminder durch die Robert Bosch GmbH
B 24 Altenhof Gmindersdorf, Reutlingen
© Dr. Ines Mayer 2014
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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