Vom Tüftler zum Global Player - Industrialisierung im ländlichen Raum am Beispiel der Firma Hohner in Trossingen
Hintergrundinformationen
1.1 Bedeutung
Industrialisierung ist ein wichtiges Thema für den Geschichtsunterricht. Es zeigt die Veränderungen auf, die für die Wirtschaft und die Gesellschaft entstehen. Durch die Beschäftigung mit den historischen Bedingungen für Industrialisierung und die daraus resultierende Erkenntnis, dass sich die Welt der Technik und Industrie ständig weiterentwickelt und wandelt, wird auch die moderne Industriegesellschaft als sich fortwährend verändernde Gesellschaft verstanden.
Gerade am Beispiel der Harmonikaindustrie kann man die schwierigen Voraussetzungen für die Industrialisierung im ländlichen Raum erkennen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende Harmonikaindustrie in Trossingen ist für die Industrialisierung in Trossingen, in Dörfern der Baar und Heuberggemeinden von zentraler Bedeutung. Mit einem Netz zahlreicher Filialen der Firma Hohner gelingt die Anbindung des genannten ländlichen Raums an die Industrialisierung. Zudem entstehen in Folge der Harmonikaindustrie weitere Industriezweige, z. B. die Kartonagenfabrikation, auch dieser Zweig wurde in die umliegenden Gemeinden verlagert.
Die Firma Hohner bietet ein gutes Beispiel für die Phasen der Industrialisierung, d. h. der Entwicklung vom handgewerblichen Betrieb zum Industriebetrieb, in der sich sehr gut die Veränderungen für die Arbeiter in dieser Umbruchphase darstellen lassen. So hat beispielsweise der Firmenpatriarch nicht mehr wie zu Beginn der ganz heimeligen Produktion Zeit am Samstag mit seinen Arbeitern ein Bier zu trinken, die Arbeiter müssen sich durch die Einführung der Stechuhr strengeren Arbeitszeiten unterwerfen.
Der Bildungsplan für das berufliche Gymnasium sieht vor, Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit regionalem Bezug zu unterrichten und Technikgeschichte exemplarisch zu vermitteln.
Für dieses Ansinnen eignet sich das Beispiel der Firma Hohner sehr gut, da die Quellenlage hervorragend ist. Auch für andere Schularten eignet sich dieses Thema.
Das Quellenmaterial gibt den Schülern die Möglichkeit, die schwierigen Voraussetzungen auf der Baar für die Industrialisierung zu erkunden,
den Anfängen der Harmonikaindustrie in Trossingen nachzuspüren sowie das Problem des Vertriebs der hergestellten Produkte im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts zu erkennen.
Die ständige bauliche Erweiterung der Produktion Hohners, die Maschinisierung, die zunehmend verstärkte Arbeitsteilung und strengere Regeln bezüglich der Arbeitszeiten lassen die Schüler erfahren, was es für den einzelnen Arbeiter bedeutet, in der Umbruchzeit von handgewerblicher Produktion zur industriellen Massenfertigung zu arbeiten.
Das Selbstverständnis des Firmengründers Matthias Hohner und die Identifikation der Arbeiter mit dem Betrieb geben Aufschlüsse über das Unternehmertum und die Soziale Frage.
Besonders eindrückliche Quellen bietet das Harmonikamuseum bezüglich der Vertriebswege und Werbung. Die Schüler ergründen in diesem Zusammenhang die Weltgeltung der Firma Hohner im ausgehenden 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts.
1.2 Geschichte
Trossingen, heute eine Kleinstadt zwischen Alb und Schwarzwald (dem Landstrich, der Baar genannt wird), war noch Mitte des 19. Jahrhunderts ein kleiner Ort, der von Armut und Rückständigkeit geprägt war. Die Industrialisierung, die bereits andere Teile des Deutschen Reiches prägte, war auf der Baar und dem Heuberg noch nicht angekommen.
Das raue Klima, die relative Wasserarmut und die geringe Bodengüte waren für die Armut dieser Region verantwortlich. Zudem wirkte sich das Realteilungsrecht, wenige lokale Rohstoffe und die fehlende Verkehrsanbindung ungünstig für die Region aus.
Wichtigster Produktionsstandort für die Mundharmonika war zunächst nicht Trossingen, sondern Wien. Es entwickelte sich, in den frühen 1820er Jahren aus dem von Instrumentenbauern verwendeten Hilfsmittel zum Stimmen von Orgeln und Klavieren, bald ein eigenständiges Instrument, das nach und nach an Beliebtheit gewann.
Zunächst ist der Harmonikabau nicht mit dem Namen Matthias Hohner verbunden, sondern mit dem Namen Christian Messner. Messner begeisterte sich für die Mundharmonika, nachdem er ein solches Instrument von einem Uhrenhändler bekam. Seine Tüftelei begann als die Harmonika (ein Wiener Modell) verstimmt war. Aus Reparaturzwecken zerlegte Messner das Instrument und versuchte die Bauart zu ergründen. Nach längerem Experimentieren gelang Messner ein Nachbau des Wiener Modells. Von Bekannten und Freunden wurde Messner bald überhäuft mit der Bitte, weitere Exemplare dieses Instruments anzufertigen. Aus der Tüftelei wurde schon bald ein lohnender Nebenerwerb. Seine Produkte gab er Uhrenhändlern zum Verkauf mit und schon bald gab Messner seine Weberei zugunsten des Instrumentenbaus auf.
1833 überließ er den Vertrieb der Mundharmonikas nicht mehr nur den Uhrenhändlern, sondern übernahm ihn selbst. Im März 1833 wurde Christian Messner vom Tuttlinger Oberamtmann eine Reiseerlaubnis ausgestellt. Nun durfte er auch ins Großherzogtum Baden und in die Schweiz reisen, um mit seinen Instrumenten Handel zu treiben. Der Harmonikabau hatte sich Mitte der 1830er Jahre in Trossingen etabliert.
Unter strikter Geheimhaltung baute Christian Messner seine Mundharmonikas. Nur ganz enge Verwandte wurden in die Kunst des Instrumentenbaus eingeweiht.
1833 wurde Matthias Hohner in Trossingen geboren. Matthias Hohner legte eine Lehre als Uhrmacher ab und wagte 1856/57 den Schritt in die Selbstständigkeit. Doch bereits 1856 interessierte sich Hohner für das Gewerbe Messners, da dies offenbar lukrativer war als die Uhrmacherei. Doch Hohner gehörte nicht zur Familie Christian Messners und wurde nicht auf "legalem" Wege in die Kunst des Harmonikabaus eingeführt. Matthias Hohner ergaunerte sich die Geheimnisse Messners über dessen Neffen Christian Weiß, der ein Altersgenosse Hohners war. Immer wieder besuchte er diesen und konnte so kurze Blicke auf die Werkbank werfen. Das erworbene Wissen musste Hohner durch Tüfteln und Experimentieren ergänzen. Eine genaue Datierung der heimgewerblichen Existenzgründung ist nicht möglich, jedoch kann man den Prozess von dem Erlernen der Produktionstechnik im Jahr 1856 bis zur Einrichtung einer eigenen Werkstatt im Jahr 1858 festhalten.
Etwa zur gleichen Zeit (1859/60) begannen die drei Harmonikahersteller in Trossingen auch familienfremde Mitarbeiter einzustellen. Hohner ließ sich von dieser Entwicklung mitziehen. Interessanter als diese Tatsache ist die Größe und Aufteilung der Hohnerschen Produktionsstätten.
So wohnten und arbeiteten die Hohners bis 1858 in zwei Zimmern.
Dann im Februar 1858 kauften sie ein Haus, das einen Wohn- und Ökonomieteil besaß. Dies entsprach den Bedürfnissen des "Handwerkerbauern".
1870 wurde ein "Arbeitersaal" angebaut, nun verlagerte sich die gewerbliche Produktion in diesen Neubau. Es kann also eine Entwicklung hin zu verstärkter Gewerbeproduktion festgestellt werden. Dieser Anbau kann als Schritt in Richtung Fabrikproduktion gewertet, jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht von industrieller Fertigung gesprochen werden, da noch mit geringem Maschineneinsatz und zu wenig arbeitsteilig produziert wurde. Bis 1881 bewegte sich die Hohnersche Produktion in diesem Zwischenstadium. Zwischen 1857 und 1880 änderte sich die Produktion dahingehend, dass zunehmend mechanische Hilfsmittel wie Pressen, Stanzen, Walzen und Stimmtische eingesetzt wurden. Dadurch konnte das Fertigungstempo erhöht werden. Eine weitere bauliche Expansion begann ab 1881 mit dem Bau eines neuen Wohn- und Fabrikgebäudes, das den alten Gegebenheiten ähnelte.
1882 entstanden weitere Werkstätten, eine Schreinerei, ein weiterer Arbeitersaal und ein Maschinenhaus. Das Maschinenhaus stellte nun den Mittelpunkt des Betriebes dar, denn von diesem führten Transmissionsriemen in alle anderen gewerblich genutzten Räume. Nach 1882 erfolgte eine Unzahl an Anbauten und so konnte der Gebäudekomplex, der bis 1900 entstand, als Fabrik bezeichnet werden.
1891 vollzog sich der Durchbruch zur Massenfertigung. Dieses beschleunigte Wachstum und die Massenfertigung sind Kennzeichen des Industrialisierungsprozesses. In den 1890er Jahren bildete sich ein Filial- und Verlagswesen der Firma Hohner heraus, bei dem nicht mehr alle Arbeitsschritte notwendig in der Firma verrichtet werden mussten. So begann die Industrialisierung auch für die Gemeinden im Trossinger Umland. (vgl. Berghoff, H., Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857 - 1961, S.35 - 76)
Für den einzelnen Arbeiter bedeutete der rasche Entwicklungsprozess, dass die Arbeit nicht mehr so "gemütlich" war, so berichtete der Obermeister Michael Messner. (vgl. Häffner, M., Trossingen vom Alemannendorf zur Musikstadt, S.86/87) Die Arbeiter mussten sich nun mit der Einführung der Stechuhr auch an eine strengere Zeiterfassung gewöhnen. Gegen Disziplinlosigkeiten wie das "Blaumachen" am Montag musste mit strengeren Regeln vorgegangen werden.
Mit dem weiter voranschreitenden Industrialisierungsprozess veränderte sich auch die Beziehung zwischen Patriarch und seinen Arbeitern.
Zu Beginn der Produktion waren Familie und Unternehmen lange identisch. Lehrlinge und Gesellen wohnten im Hause des Meisters und aßen auch an dessen Tisch. Alle Bewohner des Hauses verrichteten in etwa dieselbe Arbeit. Dennoch zweifelte niemand an der Autorität des Patriarchen.
Doch bereits der Übergang vom Klein- zum Großbetrieb vor 1900 brachte einen grundsätzlichen Wandel mit sich. Sowohl die Soziallage als auch die Lebensweise Hohners unterschied sich im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern immer mehr. Mit dieser Entwicklung stieg natürlich auch das Konfliktpotential.
Ursprünglich arbeitete Hohner mit seinen Gesellen zusammen an der Werkbank, doch diese direkte Einbindung in die Produktion löste sich zunehmend auf. Zuerst versuchte er diese Entwicklung durch das Aufstellen seines Schreibpults inmitten des Arbeitssaals etwas zu verzögern, später versuchte er ein Maximum an persönlicher Kontrolle durchzuführen, die jedoch mit zunehmender Größe des Betriebs immer unrealistischer wurde.
Matthias Hohner versuchte die sozialen Unterschiede zwischen der Fabrikantenfamilie und den Arbeitern herunterzuspielen, indem er darauf bestand, dass seine Kinder wenigstens zeitweilig in der Produktion arbeiten mussten oder dass die Trossinger Stammbelegschaft zu Familienfesten eingeladen wurde. 1881 führte Hohner Jubiläumszuwendungen ein, um den Zerfall des unmittelbaren Miteinanders im Arbeitsalltag zu kompensieren. Mit weiteren Sonderzuwendungen band Hohner die Belegschaft an seinen Betrieb. So erhielten die Arbeiter samstags ein "Vespergeld" oder einzelne Arbeiter bekamen ein Sonntagsgeld zugesteckt. Bezeichnend für die paternalistische Struktur war, dass Hohner die Geschenke eigenhändig überreichte.
Auch soziale Leistungen gab es für die Mitarbeiter. Geriet ein Arbeiter in Not, zum Beispiel durch Krankheit oder andere Unglücksfälle, half Hohner mit Spenden, gewährte Kredite oder bezahlte Arztrechnungen.
Die Arbeiter mussten in mancher Hinsicht den Anforderungen des Patriarchen Folge leisten. So erwartete Hohner, dass seine Gesellen und Lehrlinge regelmäßig die Kirche besuchten. "Der Preis, den die Arbeiter für die Vorteile des Paternalismus zahlen mussten, bestand vor allem in der Beschränkung ihrer beruflichen und privaten Bewegungsfreiheit."
(Berghoff, s.o., S. 111 - 120, Zitat: S. 118)
Matthias Hohner verkaufte seine ersten Mundharmonikas über Uhrenhändler, unternahm selbst Hausierer Reisen und belieferte Spiel- und Kurzwarenläden. Diese Art des Vertriebs bot Erfolg so lange Hohner geheimgewerblich produzierte. Doch Ende 1860 führte die Kapazitätsausweitung zu Preisverfall und neue Vertriebswege und Märkte mussten erschlossen werden.
Viele Trossinger wanderten vor der Not im Land nach Amerika aus und brachten die Mundharmonikas in die "Neue Welt". Zudem konnte den ausgewanderten Freunden und Verwandten Mundharmonikas mit der Bitte um Verkauf gesandt werden. Ab 1962 exportierte Hohner im großen Stil nach Amerika. 1963 eröffnete er erste Verkaufshäuser in New York, Chicago und Toronto und erschloss nach und nach den amerikanischen Markt. (vgl. Berghoff, s.o., S. 68 - 70) 1890 wurden drei Viertel der Produktion ,die weit über eine Million betrug, nach Amerika exportiert.
Ein recht eindrückliches Beispiel des Hohner'schen Selbstverständnisses ist ein Werbeplakat aus dem Jahr 1895, auf dem der Firmengründer hinter dem Ladentisch zu sehen ist, während sich die Völker der Welt um seine Mundharmonikas reißen.
B 2 : Werbeplakat der Firma Matth. Hohner von 1895
© Deutsches Harmonikamuseum Trossingen
Hohner verstand sich als "Global Player". Ihm wurde auch der Satz "Mein Feld ist die Welt." zugeschrieben, der jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts seine Richtigkeit erlangte. (vgl. Häffner, M., Wenzel, H., s.o., S. 20)
1.3 Anlage
Als Lernort eignet sich das Deutsche Harmonikamuseum mit der Sammlung Hohner in Trossingen. Das Museum bietet gute Quellen
▪ zu den Anfängen der Harmonikaproduktion
▪ zum Industrialisierungsprozess in Trossingen
▪ zur Sozialgeschichte bzw. der Veränderungen für die Arbeiter in einer industrialisierten Welt
▪ zu Werbestrategien sowie der zielgerichteten, kundenorientierten Produktionsserien.
▪ zum Selbstverständnis des Firmenpatriarchen Matthias Hohner
B 3 : Matthias Hohner (1833-1902)
© wikimedia commons
Die Ausstellung des 1991 eröffneten Museums wird in naher Zukunft erweitert. Im Obergeschoss beherbergt das Museum einen Seminarraum, der sich dazu eignet, im Klassenplenum oder auch in Kleingruppen zu arbeiten. Für die Anwendung des Moduls muss man jedoch einen eigenen Rundgang wählen, da die Chronologie der Ausstellung nicht zur Struktur des Moduls passt.
Zusätzlich zur Arbeit im Museum ist ein Stadtrundgang durch Trossingen zu empfehlen, da noch Teile der Firma zum Beispiel das Kesselhaus, die Villa des Firmengründers sowie frühe Produktionsstandorte (Zeit der geheimgewerblichen Produktion) vorhanden sind.
Das Harmonikamuseum bietet einen Kurzführer zu einem Stadtrundgang auf den Spuren der Lebensstationen Matthias Hohners an. Im vorliegenden Modul wird auf den Stadtrundgang aus Zeitgründen verzichtet.
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -