1.1 Bedeutung
Zu den größten aktuellen Herausforderungen der Menschheit gehört die Energieversorgung einer wachsenden und zunehmend energiehungrigen Weltbevölkerung. Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung und Klimawandel stehen dem schlichten Ausbau der „konventionellen“ Energiegewinnung mittels fossiler Brennstoffe und Atomkraft allerdings im Wege.
Deutschland beschreitet mit der „Energiewende“ einen Weg, der auf lange Sicht eine „nachhaltige“, weil CO2- und kernkraftfreie Energieversorgung verspricht. Ob das Versprechen eingelöst werden kann, ist umstritten. Erstaunlich ist: Viele der heute diskutierten Aspekte der „Energiewende“ entsprechen exakt den Problempunkten, die die Gemüter schon vor einhundert Jahren im Zuge der Elektrifizierung Deutschlands erhitzten.
Elektrifizierung des Murgtals
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts floss noch kein Strom in Mittelbaden. Aber es gab hier und dort erste „Tüftler“, die sich und ihr handwerkliches Können ganz dem Projekt Stromerzeugung widmeten. Der Müller Johannes Trück war wohl der erste Stromerzeuger im Murgtal. Trück, ein „Unternehmernaturell“ im besten Sinne, baute auf eigene Initiative und eigene Kosten seine Wassermühle, die bislang Korn zu Mehl gemahlen hatte, zu einem kleinen Wasserkraftwerk um. 1909 brannte in Obertal bei Baiersbronn erstmals elektrisches Licht. Schon um 1910, nach dem Kauf einer Turbine und der Verlegung von Stromleitungen, verkaufte Trück seinen selbst erzeugten Strom an die Bewohner von Obertal.
B 2 Ein Pionier der Stromversorgung im Murgtal – um 1919 funktionierte der Müller Johannes Trück seine Getreide mahlende Wassermühle zu einem kleinen Elektrizitätswerk um. |
Etwa zur gleichen Zeit erkannte die badische Landesregierung, getrieben vom Parlament, dass sie die Elektrifizierung des Landes nicht der Privatwirtschaft überlassen dürfe, wenn Strom zu einem allseits verfügbaren und erschwinglichen Allgemeingut werden solle. So wurde vor rund einhundert Jahren im Auftrag des Großherzogs in und um Forbach das Murgwerk errichtet – das erste große Kraftwerk in Mittelbaden. Schon 1922 bis 1926 wurde das Murgwerk erheblich erweitert. Mit dem Bau der Schwarzenbach-Talsperre, seinerzeit eine der größten Baustellen Deutschlands, wurde die Elektrifizierung Mittelbadens entscheidend vorangetrieben.
Erst eine nähere Beschäftigung mit der Materie zeigt die ungeheure Leistung, die mit der Errichtung einer flächendeckenden Elektrizitätsversorgung in Baden vollbracht wurde. Damit das Kraftwerk in Forbach Strom liefern konnte, mussten zum Transport der Baumaterialien zuvor beispielsweise viele Kilometer Eisenbahnstrecken gelegt und Eisenbahnbrücken gebaut werden, für die Stromerzeugung selbst wurden kilometerlange Tunnel durch Granitfelsen gegraben und mehrere Talsperren errichtet.
B 3 Provisorische Eisenbahnbrücke; für den Bau der Schwarzenbach-Talsperre war eine durchgehende Eisenbahnverbindung bis nach Raumünzach (5 km südlich von Forbach) erforderlich, um die Baumaterialien heranschaffen zu können. |
B 4 Mit abenteuerlichen Zugkonstruktionen – hier hintereinander gespannt ein „Lastkraftwagen“ und eine Straßenwalze – wurden die schweren Maschinenteile der Stromgeneratoren zum Krafthaus nach Forbach transportiert (um 1917). |
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Heute plant die EnBW einen weiteren Ausbau des Murgwerks. Wieder steht ein spektakuläres bauliches Großprojekt im Zentrum der Planung: Ein unterirdisches Kavernensystem soll die Wasserspeicherkapazität des Pumpspeicherkraftwerkes erheblich erweitern; hinzu kämen weitere Baumaßnahmen, z.B. die Errichtung eines weiteren Speicherbeckens auf einem Berggipfel oberhalb von Forbach. Bei Realisierung aller Bauvorhaben würde sich der Energieertrag vervierfachen. Doch es geht nicht nur um die Steigerung des Stromertrags. Da die Energieversorgung mittels regenerativer Energien vor allem an der ungleichmäßigen Verfügbarkeit von Wind, Wasser und Sonne krankt, stellt die Stromspeicherkapazität von Pumpspeicherkraftwerken einen wichtigen Pfeiler künftiger Energiesicherheit dar.
Der Bau des Murgwerks vor einhundert Jahren und dessen heute geplante Erweiterung im Zuge des Ausbaus der „erneuerbaren Energien“ stehen sinnbildlich für die Kontinuitäten der Herausforderungen, denen sich Menschen stellen müssen. Diese Herausforderungen sind technischer, aber auch politischer Natur. Heute wie damals ist Erfindungsgeist gefragt, heute wie damals ist Mut zu technischen und politischen Großprojekten erforderlich, heute wie damals müssen gegenläufige Interessen (z.B. Landschaftsschutz versus Klimaschutz) sorgfältig gegeneinander abgewogen und bestmöglich in Einklag gebracht werden, auch heute stellt sich die Frage nach den sozialen Folgeerscheinungen eines kostenintensiven Strukturwandels.
Das Thema eignet sich also in hohem Maße dazu, eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schlagen. Es verweist nicht nur auf energiepolitische Herausforderungen und Probleme in Vergangenheit und Gegenwart, sondern führt auch die „Machbarkeit“ notwendiger Veränderungen vor Augen. Das Gefühl von „Machbarkeit“ wiederum dürfte das stärkste Mittel gegen eine um sich greifende Politikverdrossenheit sein, die vor allem aus einem Gefühl von Ohnmacht erwächst.
Bildungsplanbezug
Der oben beschriebene Themenkomplex „Von der Elektrifizierung bis zur Energiewende“ findet einige ganz konkrete Anknüpfungspunkte in den Bildungsplänen aller weiterführenden Schularten. So heißt es beispielsweise im Bildungsplan für die Haupt- und Werkrealschulen 2012, Unterrichtsfach„Welt – Zeit – Gesellschaft“: Die Schülerinnen und Schüler […] können die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen durch die Industrialisierung und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart und Zukunft beurteilen; [sie] erkennen verschiedene Nutzungsansprüche an Räume und hinterfragen sie. [Sie] wissen um die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und kennen die Bedeutung nachhaltiger Energiegewinnung“ (S. 136, Internetversion).
Der Bildungsplan für Realschulen (2004) sieht beispielsweise für das Fach Geschichte vor: „Die Schülerinnen und Schüler können […] technologische Innovationen […] bis in die Gegenwart benennen und beschreiben, dass diese einen fortlaufenden Entwicklungsprozess der Berufs- und Arbeitswelt bewirken. [Sie können] wichtige Auswirkungen industrieller Entwicklungen auf die Umwelt benennen und Möglichkeiten des verantwortungsvollen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen lösungsorientiert diskutieren“ (S. 112).
Der Bildungsplan für Gymasien (2004) hält zum Beispiel im Kontext der Industriellen Revolution für das vierstündige Kernfach Geschichte fest: „Die Schülerinnen und Schüler können […] die Veränderungen im Bereich Technik, Arbeit oder Umwelt untersuchen und beurteilen sowie ihre Ergebnisse darstellen“ (S. 229).
Es ließe sich eine Vielzahl weiterer Anknüpfungspunkte aufzählen, auch für andere Unterrichtsfächer wie Gemeinschaftskunde, Geographie, Physik, Wirtschaft, den Fächerverbund Erdkunde – Wirtschaftskunde – Gemeinschaftskunde etc.
Kernkompetenz „vernetztes Denken“
Die Thematik „Elektrifizierung und Energiepolitik“ erfordert eine Fächer verbindende Herangehensweise und dient damit in besonderem Maße der Kernkompetenz eines „vernetzten Denkens“. Die in diesem Modul enthaltenen didaktischen Materialien tragen diesem Umstand Rechnung. Schwerpunkte neben dem geschichtlichen Zugang (siehe v.a. die Arbeitsblätter „Murgtalstrom-Story“ und „Strom für Baden“) sind die Bereiche „Technik“ (siehe v.a. das Arbeitsblatt „Pumpspeicherkraftwerke – modern seit 100 Jahren“) und „Umweltpolitik“ (siehe v.a. das Rollenspiel sowie das Arbeitsblatt „Pumpspeicherkraftwerke – modern seit 100 Jahren“).
Überregionale Bedeutung des regionalen Fallbeispiels
Die Elektrifizierung des Murgtals und Mittelbadens lässt sich ohne weiteres auf ganz Baden übertragen. Die Elektrifizierung Badens wiederum ist mit all ihren Facetten ein Spiegelbild der Elektrifizierung Deutschlands. Entsprechendes gilt für die aktuellen Pläne zur Erweiterung des Rudolf-Fettweis-Werkes als Beitrag zur „Energiewende“. An unzähligen Orten Deutschlands planen Politik und Stromanbieter den Ausbau der „erneuerbaren Energien“, finden ähnliche Diskussionen statt wie in Forbach (siehe Rollenspiel). Insofern lassen sich die im Modul angebotenen „Vor-Ort-Beispiele“ problemlos auf die überregionale und nationale Ebene transferieren.
1.2 Geschichte
um 1885:
In Deutschland entstehen die ersten größeren Elektrizitätswerke.
1891
Eine neue Technologie ermöglicht es erstmals, Strom über größere Strecken zu transportieren.
1898
Mit dem Wasserkraftwerk Rheinfelden geht der erste große Stromproduzent in Baden in Betrieb.
1900
Die Gesamtleistung aller Kraftwerke in Deutschland liegt bei etwa 230 MW. Zum Vergleich: Das 2011 ans Netz gegangene Wasserkraftwerk Rheinfelden erzeugt 100 MW.
um 1905
Umdenken in der Politik: Die badische Landesregierung beendet ihre bisherige Praxis, Konzessionen zur Stromproduktion beinahe ohne Auflagen kostenlos an Großunternehmen zu vergeben, und betreibt fortan eine aktive Energiepolitik (inkl. staatlicher Elektrizitätswerke).
um 1910
Erste Elektrizität im Murgtal: Johannes Trück, ein Müller, versorgt die Bevölkerung von Obertal (heute ein Stadtteil von Baiersbronn) mit elektrischem Strom, den er in seiner eigenhändig umgebauten Wassermühle erzeugt.
1913/14
Ein Drittel aller Gemeinden (nicht: Haushalte!) Badens ist an Elektrizität angeschlossen; das ganze Murgtal einschließlich Rastatt verfügt mit Ausnahmen winziger Flecken (z.B. Obertal) noch nicht über Elektrizität.
1918
Das 1914-1918 errichtete Murgwerk versorgt Teile Mittelbadens und des Murgtals mit Strom.
1922-1926
Erweiterung des Murgwerks, u.a. durch den Bau der Schwarzenbach-Talsperre als großes Wasserspeicherbecken
B 5 Seinerzeit eine der größten Baustellen Deutschlands: die Schwarzenbach-Talsperre, errichtet 1922-1926. Zeitweise arbeiteten bis zu 2500 Arbeiter gleichzeitig an dem Bauwerk. Für sie wurde für die Bauzeit eigens eine kleine Stadt mit Unterkünften und Geschäften, einem Friseur und einem Kino eingerichtet. |
1929
99,4 % aller badischen Gemeinden sind ans Stromnetz angeschlossen.
2010
Die EnBW Energie Baden-Württemberg AG plant den Ausbau des Pumpspeicherkraftwerkes in Forbach. Das Bauvorhaben umfasst u.a. einen neuen Speichersee auf einem Schwarzwaldhöhenzug oberhalb von Forbach und einen unterirdischen Wasserspeicher in Form einer Kaverne (unterirdisches Tunnelsystem).
2011
Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beschließt als Reaktion auf die Atomkatastrophe in Fukushima/Japan die „Energiewende“. „Erneuerbare Energien“ sollen fossile Brennstoffe und Atomenergie nach und nach ersetzen und bis 2050 60% des Gesamtenergieverbrauchs abdecken (zum Vergleich: 2010 = 11%).
1.3 Anlage
Historisch wichtigster Ort der Stromerzeugung im Murgtal ist das Rudolf-Fettweis-Werk in Forbach mit seinen weitläufig verteilten Einzelbestandteilen. Zum Gesamtkomplex des Rudolf-Fettweis-Werkes gehören vier zum Teil mehrere Kilometer auseinander liegende Kraftwerke, die über Stollen und Rohre miteinander verbunden sind, sowie mehrere Stauseen und kleinere Wasserspeicherbecken.
Am bekanntesten ist die zwischen 1922 und 1926 erbaute, 2,2 Kilometer lange Schwarzenbach-Talsperre. Ihre mächtige, begehbare Staumauer ist das wohl imposanteste Zeugnis in der Region für den menschlichen Willen, sich die Kraft des Wassers zur Stromgewinnung nutzbar zu machen. Ein 6,5 Kilometer langer Wanderweg führt um die Talsperre herum, Informationstafeln geben Auskunft zur Baugeschichte und zur Technik der Stromgewinnung.
Wichtigster Lernort ist das Krafthaus in Forbach (erbaut 1914-1918). Insgesamt sieben Turbinen – darunter fünf historische aus der Bauzeit – wandeln hier mithilfe angeschlossener Generatoren Wasserkraft in elektrischen Strom um. Das Wasser stammt aus der Schwarzenbach-Talsperre und dem Sammelbecken Kirschbaumwasen. Es wird über Druckstollen und Rohrleitungen den Maschinen zugeleitet. Der dabei überwundene Höhenunterschied von 357 bzw. 145 Höhenmetern sorgt für den nötigen Druck, um insgesamt 68 Megawatt Leistung zu erzeugen.
B 6 Rudolf-Fettweis-Werk in Forbach (Krafthaus und Stauwehr des Ausgleichsbeckens). |
Angrenzend an das Krafthaus in Forbach befindet sich das Ausgleichsbecken, dem das „verbrauchte“ Wasser aus dem Krafthaus zugeleitet wird. Von hier aus wird das Wasser dosiert der Murg zugeführt. Auch hier wird die Wasserkraft noch einmal energetisch genutzt: Zwei Rohrturbinen am Stauwehr erzeugen bis zu 2,4 Megawatt.
Das historische Krafthaus in Forbach kann besichtigt werden, die Schwarzenbach-Talsperre und das Ausgleichsbecken ohnehin.
Allerdings dürfen sich Unbefugte auf dem Gelände des Krafthauses aus Sicherheitsgründen nicht frei bewegen. Die didaktischen Möglichkeiten einer Lernorterkundung sind daher eingeschränkt. Aktivitäten wie „Schüler führen Schüler“ oder Erkundungsgänge auf eigene Faust sind nicht möglich. Dies ist aber insofern verzichtbar, als die EnBW Führungen für Schulklassen anbietet und im Krafthaus Räumlichkeiten für Gruppenarbeiten etc. zur Verfügung stellt.
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Karlsruhe -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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