Hintergrundinformationen
1. Bedeutung
Hoch über den Dächern der Stadt Herrenberg unter der "welschen
Haube", der barocken "Zwiebel", im mächtigen Turm der Stiftskirche befindet
sich das Glockenmuseum. In jedem Jahr scheuen sich etwa 10.000 Menschen nicht
vor dem Aufstieg über die 146 Stufen, um dann ohne "musealen" Abstand die
einmalige Sammlung aus über einem Jahrtausend Glockengeschichte ansehen und
anhören zu können.
Man begegnet damit dem umfangreichsten Kirchengeläut Deutschlands. Glocken aus
neun Jahrhunderten und aus vielen Regionen des deutschsprachigen Raums,
Glocken, die eine abgestimmte Tonleiter über fast drei Oktaven bilden, sind
dort aufgehängt. Es sind keine Museumsstücke, die außer Gebrauch gekommen sind,
sondern Glocken, die ihren althergebrachten Dienst tun. Über 30 läutbare
Glocken können aus der Nähe besichtigt werden. Der viertelstündliche, der
stündliche Glockenschlag und das Läuten der Glocken nach der festgelegten
Läuteordnung unterbricht unüberhörbar jede Besichtigung und wird zu einem
unvergesslichen Klangerlebnis.
Glockenmuseum im Turm der Stiftskirche Herrenberg
© Wolfgang Wulz
2. Geschichte
Das mächtige gotische Westwerk der evangelischen Stiftskirche Herrenberg wird
von einer barocken Haube mit Zwiebel gekrönt. Sie ersetzte 1749 die beiden
baufällig gewordenen Fachwerktürme. Unter dem breiten Turmdach öffnet sich
seitdem ein weiter, zweistöckiger Raum. Er bietet Platz für eine Glockenstube,
wie sie in dieser Größe selten zu finden ist. Die großzügige Sanierung der
Herrenberger Stiftskirche in den Jahren 1972 bis 1982 brachte überdies zu
Stande, was Jahrhunderte lang unsicher war, nämlich die erfolgreiche und
nachhaltige Festigung der Statik des Westwerks, auf dem diese Glockenstube
gegründet ist.
1986 kam Dieter Eisenhardt als Dekan nach Herrenberg. Ihn faszinierte der große
Glockenstubenraum. Zusammen mit dem kostbaren Inventar von fünf wertvollen
Glocken aus acht Jahrhunderten bot er sich als idealer Platz für eine
einzigartige Glockensammlung an. Auf dem Herrenberger Stiftskirchenturm sollten
Glocken an ihrem Bestimmungsort, dem Kirchturm, in ihrer ursprünglichen
Funktion als Rufer zu Gottesdienst und Gebet einer breiten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden.
Die besondere Museumskonzeption besteht darin, dass der Besucher die Glocken
nicht nur anschauen, sondern sie auch in Aktion sehen kann, dass er die Glocken
nicht nur angeschlagen hört, sondern sie in voller Klangentfaltung wahrnimmt,
und dass er diese großen Instrumente nicht nur anfassen kann, sondern ihre
Klangwellen im Körper selbst spürt. Dieses ganzheitliche Erlebnis ist sonst in
keinem Glockenmuseum möglich.
Die Glockenstube im Stiftskirchenturm
© Glockenmuseum Stiftskirche Herrenberg
1990 wurde das Museum mit zunächst elf Glocken eröffnet. Gleichzeitig kam es
zur Gründung der Herrenberger Bauhütte unter Leitung von Fritz Hanßmann. Diese
besteht aus ehrenamtlichen Mitarbeitern und betreibt wesentlich den Auf- und
Ausbau des Museums. 1992 übergab die Evangelische Kirchengemeinde Herrenberg
die Trägerschaft dem Verein zur Erhaltung der Stiftskirche.
Der Ausbau des Herrenberger Stiftskirchenturms zu einem Glockenmuseum ist im
Wesentlichen der Bauhütte zu verdanken. Ein funktionales Glockenmuseum ist auch
ein technisches Museum. Seine Einrichtung erfordert also technischen
Sachverstand. Wie ist die Statik des Turms und des Gebälks zu beurteilen? Wie
kann eine tonnenschwere Glocke in den Turm gehoben werden? usw. Zum Auf- und
Ausbau des Glockenmuseums mussten also zunächst entsprechende Fachleute
hinzugezogen werden. Aber externe Fachleute allein hätten das Projekt
Glockenmuseum nicht gelingen lassen können. Ausbau und Ausgestaltung des Turms,
Aufstellung und Wartung historischer Glocken erfordern ständige Planung und
Pflege durch ein engagiertes Team vor Ort. Wenn im Mittelalter große
Kirchenbauten projektiert waren, bildete sich eine so genannte "Bauhütte", eine
Gruppe von verschiedenen Handwerkern und Bauleuten siedelte sich bei der Kirche
an und arbeitete über Jahrzehnte an einem solchen Projekt.
Eine professionelle Bauhütte wie die am Kölner Dom konnte sich Herrenberg
natürlich nicht leisten. Aber es fanden sich sehr geschickte und engagierte
Fachleute, die bereit waren, in ihrer Freizeit als ehrenamtliche Mitarbeiter
für die Kirche zu arbeiten. Sie gründeten im Jahr 1993 die Bauhütte
Stiftskirche Herrenberg als Einrichtung der evangelischen Kirchengemeinde. Im
Untergeschoss des Dekanats und im Turm der Stiftskirche richtete sich die
Bauhütte professionelle Werkstätten ein. In allen bau- und glockentechnischen
Fragen sammelte sich dort ein erheblicher Sachverstand an, der der Herrenberger
Stiftskirche als Ganzem und dem Glockenmuseum im Besonderen vielseitige Dienste
leistete.
Der Rundgang durch die Glockenstube ist historisch angelegt. Er beschreibt
charakteristische Beispiele aus einzelnen Epochen und erläutert die heutigen
Funktionen der Glocken. Interessante und reichhaltige Beschreibungstafeln geben
Auskunft über Alter, Herkunft, Klang, Namen und Einsatz der jeweiligen Glocke.
Nachfolgend eine Auswahl verschiedener Glocken:
Karolingerglocke
Schon vor 1200 Jahren wurden neben den üblichen genieteten Blechglocken solche
Bronzeglocken gegossen. Der Archäologe Hans Drescher hat diese Karolingerglocke
an Hand von Fundstücken aus Vreden rekonstruiert. Der Nachguss der Gießerei
Rincker wurde vom Rotary Club für das Glockenmuseum gestiftet.
Die Karolingerglocke
© Glockenmuseum Herrenberg
Haithabuglocke
Das Original dieser Glocke wurde 1978 auf einem gesunkenen Schiff im ehemaligen
Hafen der Wikingersiedlung Haithabu bei Schleswig entdeckt. Sie ist die älteste
erhaltene Glocke nördlich der Alpen und gehört noch zu den frühen
Bienenkorbformen mit sehr dünnwandigem Mantel. Über die Glocke selbst ist
nichts bekannt. Die Ortschaft Haithabu hingegen war von der Mitte des 8. Jh.
bis zur Mitte des 11. Jh. Handelsplatz zwischen Mitteleuropa und Skandinavien.
Von 934 bis 984 unterstand Haithabu dem römisch-deutschen Reich. Wohl aus
dieser Zeit dürfte die Glocke stammen.
Der Teiltonaufbau der Glocke ist typisch für besonders frühe Bienenkorbglocken:
Ein schwer fixierbarer Schlagton, eine ungeregelte Innenharmonie, ein
hervortretender und gegenüber den anderen Teiltönen stark vertiefter Unterton
sowie ein herbes und bei dünnwandigen Glocken zusätzlich schrilles Timbre sind
Kennzeichen dieser ältesten, gegossenen Glockengeneration Europas.
Die Haithabuglocke (vermutlich 10. Jh.)
© Glockenmuseum Herrenberg
Armsünderglocke
(heute: Tetragramatonglocke)
Wohl aus dem 1. Viertel des 13. Jahrhunderts stammt die Armsünderglocke, die
früher in Herrenberg als Gerichtsglocke Verwendung fand. Sie wurde in der um
1200 üblichen Zuckerhutform gegossen und gilt als die älteste Glocke
Württembergs. Ihre Inschrift "TETRAGRAMATON" (das Vierbuchstabenwort) ist eine
Umschreibung des hebräischen Gottesnamens JHWH. Die Glocke wird heute als
Sabbatglocke geläutet.
Die Armsünderglocke gilt als älteste Glocke Württembergs (um
1200).
© Glockenmuseum Herrenberg
Mittagsglocke
Spätestens seit 1483 läutet diese Glocke regelmäßig in Herrenberg um 12 Uhr.
Mittagsglocken rufen zum inneren und äußeren Frieden. Der Gießer Hans Eger aus
Reutlingen erreichte mit dieser Glocke - wie nur wenige Zeitgenossen - die hohe
Kunst, einen innenharmonischen reinen Klang zu erzeugen. Die Inschrift auf der
Schulter nennt die Namen der vier Evangelisten in gotischer Minuskelschrift.
Inschrift: lucas + marcus + matheus + johannes
Die Mittagsglocke aus dem Jahr 1483
© Glockenmuseum Herrenberg
Guldenglocke
Die Guldenglocke war früher die größte Glocke der Stiftskirche. Diese schöne
Renaissanceglocke wurde 1602 von Martin und Hans Miller in Esslingen gegossen.
Sie hängt bis heute in ihrem originalen Glockenstuhl, der schon für die
Vorgängerin 1443 gezimmert wurde. Im Zweiten Weltkrieg kam sie in das
Glockenlager nach Lünen in Westfalen. Zum Glück wurde sie nicht eingeschmolzen,
sondern kehrte 1948 nach Herrenberg zurück. Leider hat sie durch die schlechte
Behandlung in der Kriegszeit einen bleibenden Klangschaden davongetragen.
Inschrift: ZU DER EHRE GOTTES LEITE (d. h. läute) ICH MARTIN UND SEIN SOHN HANS
MILLER ZU ESSLINGEN GOSEN MICH/ANO 1602
Die Guldenglocke von 1602
© Glockenmuseum Herrenberg
Reformationsglocke
Aus der späten Barockzeit stammt die Reformationsglocke. Sie wurde 1738 von
Benjamin Körner in Görlitz für die evangelische Gemeinde Seidenberg in
Schlesien gegossen. Nach dem Krieg war sie als Leihglocke in der Ulmer
Lutherkirche und kam 1993 nach Herrenberg. Die Glocke musste wegen
Kriegsschäden zweimal geschweißt werden. Besonderheiten sind die Knaufkrone und
ein in der zierreichen Inschrift enthaltenes Chronogramm.
Die Reformationsglockevon 1738
© Glockenmuseum Herrenberg
Wachtglocke
Die alte Herrenberger Wachtglocke ist schon dem Ersten Weltkrieg zum Opfer
gefallen. Ihre Funktion hat jetzt diese Glocke von 1924 aus Ulm übernommen. Die
Wachtglocke hatte vorwiegend profane Aufgaben. Bei Tagesanbruch und bei
Eintritt der Nacht gab ihr Läuten das Zeichen zum Öffnen bzw. Schließen der
Stadttore. Sie kündigte außerdem den Wechsel der Wächter an. Heute läutet diese
Glocke zur Eröffnung des Herrenberger Wochenmarktes dienstags und samstags um 8
Uhr.
Inschrift: DA PACEM DOMINE IN DIEBUS NOSTRIS/ S: WENDELINE ORA PRO NOBIS
(Gib Frieden Herr in unserer Zeit. St. Wendelin, bete für uns)
Die Wachtglocke von 1924
© Glockenmuseum Herrenberg
Gloriosa
Ursprünglich für ein Glockenspiel in der Schweiz wurde 1965 die 3,6 t schwere
Gloriosa von Emil Eschmann in Rickenbach gegossen. Nach vielen Irrfahrten
gelangte sie 1995 nach Herrenberg.
Sie bildet mit b0 den Grundton des Herrenberger Geläuts und wird nur an hohen
Feiertagen geläutet. Den Tag über lässt sie den Stundenschlag hören.
Die 'Gloriosa' (1965)
© Glockenmuseum Herrenberg
Dominika
Diese Glocke wurde 1999 zur Jahrtausendwende in der Glockengießerei Bachert in
Heilbronn als Millenniumsglocke gegossen. Dieter Eisenhardt schuf die
aussagekräftige Glockenzier mit Bezügen zur Geschichte Herrenbergs. An den
Kronenbügeln sind historische Herrenberger Persönlichkeiten abgebildet. Die
Inschrift "Christianopolis" unter der Silhouette der Stadt Herrenberg erinnert
an den utopischen Roman von Johann Valentin Andreae. Die Inschrift "Siehe ich
bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" stellt die Stadt unter den Schutz
Gottes. Die Inschrift "Du sollst den Feiertag heiligen" weist auf den Dienst
der Dominika als Sonntagsglocke hin.
Die Dominikaglocke wurde 1999 zur Jahrtausendwende gegossen.
© Glockenmuseum Herrenberg
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Stuttgart -