Hintergrundinformationen
1. Bedeutung
Grafeneck steht als Ort für eines der "arbeitsteiligen
Großverbrechen" des Nationalsozialismus. Auf dem Gelände des Schlosses werden
zwischen Januar und Dezember 1940 10.654 Menschen - Männer, Frauen und Kinder -
in einer Gaskammer ermordet. Am 18. Januar beginnen hier die
NS-"Euthanasie"-Verbrechen. Grafeneck und der deutsche Südwesten mit den
historischen Ländern Württemberg, Baden und Hohenzollern sind der erste Ort und
die erste Region, von denen die Ermordung geistig behinderter und psychisch
erkrankter Menschen in Deutschland ihren Ausgang nahm. Noch prinzipieller
formuliert: Grafeneck ist der erste Ort systematisch-industrieller Ermordung
von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt. Es steht somit
am Ausgangspunkt ungeheuerlicher Menschheitsverbrechen. Unterstrichen wird
diese Perspektive zusätzlich durch die spätere Übernahme des Mordverfahrens für
den Mord an den europäischen Juden ebenso wie durch die Tatsache, dass ein
Viertel der Täter von Grafeneck in den Vernichtungslagern des Ostens, wie
Belzec, Treblinka, Sobibor und nicht zuletzt Auschwitz-Birkenau eingesetzt
werden.
Die Gedenkstätte Grafeneck muss aus diesem Grund einerseits versuchen der Wucht
dieser historischen Perspektive, andererseits aber auch einer komplexen
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerecht zu werden.
In einem historischen Längsschnitt durch die Jahrhunderte durchläuft Grafeneck
mehrfach einen tiefgreifenden Wandel. So entsteht in der Zeit der Renaissance
um 1560 an der Stelle einer hochmittelalterlichen Burganlage ein Jagdschloss
der württembergischen Herzöge, welches in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu
einer gewaltigen barocken Sommerresidenz erweitert wird. Das 19. Jahrhundert
sieht einen Niedergang des Schlosses. Grafeneck zerfällt und einzelne Gebäude
werden "auf Abbruch verkauft". Das Schloss dient als Forstamt bis es
schließlich zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Privatisierung erfährt. Im Jahr
1929 erwirbt es die evangelische Samariterstiftung in Stuttgart und richtet in
den Räumen des Schlosses ein Behindertenheim für "krüppelhafte" Männer ein.
Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wird Grafeneck im Oktober 1939 für
"Zwecke des Reichs" beschlagnahmt und in eine "Menschenvernichtungsanstalt"
verwandelt. Nach der Beendigung der Morde im Winter 1940/41 wird Grafeneck für
die Kinderlandverschickung, später von der französischen Besatzungsbehörde als
Kinderheim benutzt. 1946/47 wird Grafeneck schließlich wieder an die
Samariterstiftung zurückgegeben. Die bei Kriegsbeginn vertriebenen, behinderten
Menschen, die den Krieg überlebt hatten, zogen erneut ins Schloss ein.
Grafeneck ist seither wieder ein von der Samariterstiftung genutzter Ort -
Lebensraum, Wohnort und Arbeitsplatz für behinderte Männer und Frauen. Dies
prägt die Arbeit an der Gedenkstätte Grafeneck nachhaltig. Spuren, die an die
"Euthanasie"-Morde erinnern, werden bereits in den 1950er und 1960er Jahren
sichtbar. Urnengräber mit der Asche von Ermordeten, ein früher Gedenkort auf
dem Friedhof der Einrichtung und schließlich 1984 die erste Texttafel, die an
die Verbrechen von 1940 erinnert.
Die Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Der eigentliche Ort des Mahnens und Gedenkens, eine offene
Kapelle, entsteht erst 1990 in unmittelbarer Nähe zum Friedhof unter dem
Leitgedanken "Das Gedenken braucht einen Ort". Die notwendige Ergänzung hierzu,
ein "Ort der Information", ist seit Oktober 2005 mit dem Dokumentationszentrum
Gedenkstätte Grafeneck geschaffen, für das das Land Baden-Württemberg und sein
Ministerpräsident die Schirmherrschaft übernommen haben. Ermöglicht hat dies
vor allem die Gedenkstättenförderung des Bundes (Staatsministerium für Kultur
und Medien) und des Landes Baden-Württemberg sowie die Landesstiftung
Baden-Württemberg. Das Gebäude hierfür wird dem Verein Gedenkstätte Grafeneck
e. V. von der Samariterstiftung zur Verfügung gestellt.. Den Kern des
Dokumentationszentrums bildet nunmehr eine Dauerausstellung, die nachhaltig die
Möglichkeiten wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeitens mit Besuchern, vor
allem Besuchergruppen verbessert, als auch dem Einzelbesucher eine Möglichkeit
zur vertieften Informationsgewinnung und Auseinandersetzung mit der Geschichte
des Ortes und der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Verbrechen gibt.
Neben der historischen Perspektive auf Opfer und Täter, Denkstrukturen und
Machtmechanismen richtet die Ausstellung ihren Blick auch auf die Zeit nach
1945. Wie ging die Gesellschaft mit diesem Verbrechen um, wie fand die
publizistische und juristische Auseinandersetzung statt und wie findet die
Erinnerung an diesen schwierigen Teil der deutschen und südwestdeutschen
Geschichte einen Platz im historischen Gedächtnis des Landes Baden-Württemberg
und seiner Bewohner? Trotz des Fluchtpunktes einer negativ besetzten Geschichte
kann Grafeneck - Gedenkstätte und Behinderteneinrichtung - die Bedeutung der
Demokratie mit ihren Konzepten von Menschenwürde und Menschenrechten
unterstreichen und demokratisches Bewusstsein fördern. In dieser Perspektive
bildet die Gedenkstätte Grafeneck und Dokumentationszentrum somit die
Schnittstelle von Erinnerung, historisch-politischer Bildung, Wissenschaft und
Begegnung.
Mit grauen Bussen wurden die Opfer nach Grafeneck deportiert
(Aufnahme 1940 Diakonie Stetten)
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Historische Bedeutung
Grafeneck besitzt für die Geschichte Deutschlands und Südwestdeutschlands im
Nationalsozialismus eine außergewöhnliche und einzigartige Bedeutung. Am 18.
Januar 1940 begann auf dem Gelände des Schlosses Grafeneck mit der "Aktion T4"
der NS-"Euthanasie"- Krankenmord. Er steht am Ausgangspunkt und Beginn einer
Entwicklung von ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschheit.
Die Spuren der Täter und der von ihnen entwickelten Tötungsverfahren führen von
Grafeneck in die Vernichtungslager im Osten: Belzec, Treblinka, Sobibor und
Auschwitz-Birkenau.
Tötungsanstalten der Aktion T4 1940/1941
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Im Oktober 1939 wurde die bestehende Behinderteneinrichtung vom
Württembergischen Innenministerium "für Zwecke des Reichs" beschlagnahmt und ab
Januar 1940 zum ersten Ort der 'systematisch-industriellen Ermordung' von
Menschen im nationalsozialistischen Deutschland. Die "Aktion T4" forderte
allein in Grafeneck im Jahr 1940 über 10.600 Opfer. Diese Menschen, Männer,
Frauen und Kinder jeden Alters, wurden in einer Gaskammer auf dem Gelände des
Schlosses mit Kohlenmonoxyd getötet. Zu den Opfern zählten diejenigen Menschen
in den Heil- und Pflegeanstalten, die in den Augen der Täter - und dies nicht
erst seit der Zeit des Nationalsozialismus, sondern bereits seit Ende des 19.
Jahrhunders - als "lebensunwertes Leben" galten. Dies waren in erster Linie
Menschen in Einrichtungen, deren Arbeits- und Leistungsfähigkeit nicht mehr
vorhanden oder stark gemindert waren, Menschen die als "Langzeitpatienten"
angeblich die öffentlichen Haushalte des Landes, der Kreise und der Kommunen
belasteten sowie Menschen, die von NS-Gerichten als "Kriminelle" in Heil- und
Pflegeanstalten eingewiesen waren. Mit der gleichzeitigen Erfassung aller
jüdischen Patienten in den psychiatrischen Einrichtungen Württembergs und
Badens und ihrer Ermordung in Grafeneck, sowie der späteren Übernahme der
Technologie und des Personals der Gasmordanstalten begann hier ein Weg, der in
den "Holocaust", die Ermordung der deutschen und europäischen Juden, mündete.
Landwirtschaftsgebäude, in dem 1940 die über 10 600 Opfer mit
CO-Gas ermordet wurden
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Die landesgeschichtliche oder regionalgeschichtliche
Dimension
Grafeneck besitzt eine herausragende Bedeutung für die südwestdeutsche
Landesgeschichte und für die Geschichte des heutigen Bundeslandes
Baden-Württemberg. Untrennbar ist der Ort Grafeneck verknüpft mit der
Landesgeschichte Baden-Württembergs, mit all seinen Landesteilen, seinen
Städten und Ortschaften.
Nach dem heutigen Wissensstand waren es exakt 40 Behinderteneinrichtungen und
psychiatrische Einrichtungen in Baden-Württemberg - 22 württembergische, 17
badische und mit Sigmaringen 1 hohenzollerische -, aus denen die Opfer in die
Tötungsanstalt Grafeneck verbracht wurden. Bei einer Öffnung des Blicks über
die Grenzen Baden-Württembergs hinaus - vor allem nach Bayern - waren es sogar
48 Einrichtungen, Heil- und Pflegeanstalten genannt, aus denen die Opfer
stammten. Für alle diese Einrichtungen, die heute zum allergrößten Teil noch
existieren, ist Grafeneck ein historischer Bezugspunkt schlechthin.
Die stadt- und ortsgeschichtliche Dimension
Eine weitere Bedeutungsebene liegt in der Herkunft der Opfer (aber auch der
Täter und der Tatbeteiligten). Fragt man nach ihrem jeweiligen Geburts- oder
Wohnort, so eröffnet dies eine weitere Perspektive, neben der nationalen und
der regionalen, eine stadt- und ortsgeschichtliche. Bereits eine oberflächliche
Betrachtung der Akten zeigt, dass die über 10.600 Opfer aus allen großen und
mittleren und einer nahezu unüberschaubaren Zahl auch kleiner und kleinster
Gemeinden Baden-Württembergs stammten.
Jeder der vier Regierungsbezirke in Baden-Württemberg, jeder der Stadt- und
Landkreise, alle größeren, aber auch eine ungeheure Zahl mittlerer und kleiner
Gemeinden Baden-Württembergs haben Opfer der NS-"Euthanasie" zu beklagen. An
dieser Stelle sollen lediglich die Heimatorte der Opfer einer einzigen
Einrichtung, der heutigen Diakonie Stetten im Remstal, aufgezählt werden:
Stuttgart, Karlsruhe, Reutlingen, Vaihingen/Enz, Neuenstein, Eningen/Achalm,
Cannstatt, Esslingen, Oberurbach, Ludwigsburg, Ennabeuren, Wimpfen, Heilbronn,
Ottenbronn, Pleidelsheim, Sindelfingen, Zuffenhausen, Schorndorf, Göppingen,
Untertürkheim, Altensteig, Neckargartach, Kirchheim/Teck, Geislingen/Steige,
Strümpfelbach, Ebersbach/ Fils, Biberach/Riss, Gültstein, Feuerbach,
Schnaitheim, Kornwestheim, Bietigheim, Metzingen, Holzgerlingen, Brackenheim,
Neuffen, Rottweil, Waldenbuch, Pfullingen, Heidenheim/Brenz, Stetten i. R.,
Neuenbürg, Schwäbisch Gmünd, Leutkirch, Ulm, Heimsheim, Tuttlingen,
Marbach/Neckar, Gaildorf, Calw, Möhringen, Beutelsbach, Öhringen, Münchingen,
Tübingen, Böblingen, Crailsheim, Nufringen, Untertürkheim, Freudenstadt,
Haigerloch, Herbrechtingen, Calmbach, Süssen, Eltingen, Aalen, Trossingen,
Hemmingen, Kleingartach, Schramberg, Nürnberg, Bolheim, Loßburg, Bietigheim,
Giengen/Brenz, Aufhausen, Neustadt, Geißelhardt, Hohenhaslach, Tamm, Hausen ob
Lontal, Schwenningen, Gschwend, Kuchen, Nagold, Winnenden, Großaspach,
Künzelsau, Asselfingen, Unterensingen, Markgröningen, Mannheim, Hirsau,
Schrozberg, Entringen Öhringen, Eschach, Unterböhringen, Magstadt,
Sulzbach/Murr, Diefenbach, Hechingen, Aldingen/Neckar, Heuchlingen.
Eine Aufstellung für alle 48 Einrichtungen steht noch aus, aber Ergebnisse
zeichnen sich im oben erwähnten Sinne ab. Die Liste der Städte und Gemeinden,
aus denen die Opfer stammten, also geboren waren und/oder gelebt hatten,
umfasst bereits jetzt über 1.000 Einträge. Darunter mehrere hundert
baden-württembergische Städte und Gemeinden - dies bei einer Zahl von 1.111
Städten und Gemeinden insgesamt. Für die baden-württembergische
Landeshauptstadt Stuttgart lässt sich die Zahl der Opfer zum jetzigen Zeitpunkt
(noch) nicht präzise bestimmen, sie liegt aber in einer Größenordnung von
mehreren hundert Menschen. Zu den Opfern von Grafeneck zählen aber auch
Menschen anderer Länder und Regionen, wie beispielsweise der benachbarten
Schweiz (Zürich, St. Gallen, Chur usf.), aber auch so weit entfernte oder
exotische wie die der Vereinigten Staaten (New York), der Ukraine (Charkow)
oder der Südsee (Samoa).
Die Dimension Individuum und Familie
Zuletzt ist Grafeneck nicht nur ein Faktor der nationalen Geschichte und der
Landesgeschichte, sondern auch einer, der sich in 10.654 Familiengeschichten
hinein erstreckt. Das Leben von exakt so vielen Menschen wurde im Jahr 1940
gewaltsam beendet, die Opfer grausam ermordet. Dieses historische Faktum wirkt
fort bis in die Gegenwart. Jede Woche wenden sich Verwandte der Opfer, sowohl
Angehörige der Opfergeneration(en) als auch Jüngere, an die Gedenkstätte und
suchen um Auskünfte nach. Oftmals ein jahrzehntelanger verdrängter und
tabuisierter Teil der familiären Geschichte. Rückblickend auf das letzte
Jahrzehnt erkennt man klar, dass die Zahl der anfragenden Nachkommen und
Angehörigen beständig angestiegen ist. Eine Erklärung hierfür mag sein, dass
erst die Zeit Barrieren und Hemmungen beseitigt hat und paradoxerweise dadurch
die Vergangenheit näher an die Gegenwart herangerückt ist, eine Vergangenheit,
die nicht vergeht.
Standesamtliche Beglaubigung der Abschrift einer Eintragung
im Sterbebuch (08.02.1940)
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Industrieller Mord: NS-"Euthanasie" in Grafeneck
Die Wahl Grafenecks als Standort für die reichsweit erste Vernichtungsanstalt
ging auf das enge Zusammenwirken der Berliner "T4"-Behörde (Tiergartenstraße 4)
mit dem württembergischen Innenministerium in Stuttgart zurück. Schloss
Grafeneck, im heutigen Kreis Reutlingen sechs Kilometer von der Stadt Münsingen
entfernt, entsprach hierbei in nahezu idealer Weise den Organisations- und
Geheimhaltungskriterien der "Euthanasie"-Planer, lag es doch abgeschieden und
leicht abzuschirmen auf einer langgestreckten Anhöhe der Schwäbischen Alb.
Daneben, und dies spielte eine ebenso große Rolle, war das 1929 von der
Samariterstiftung Stuttgart erworbene und seither als Behindertenheim genutzte
Schloss, gerade keine staatliche, sondern eine konfessionelle Einrichtung. Die
Planer im Württembergischen Innenministerium wollten bewusst verhindern, dass
beispielsweise eine so alte Institution wie die Heil- und Pflegeanstalt
Zwiefalten mit den bevorstehenden "Euthanasie"-Morden in Verbindung gebracht
wurde. Daneben bot das Schloss Grafeneck die Logistik, von räumlichen
Unterbringungs- und Arbeitsmöglichkeiten für die große Zahl der Täter wie für
deren Bürokratie.
Die Unterbringung des Tötungspersonals, das von Berlin und Stuttgart aus
rekrutiert wurde, erfolgte ab Oktober 1939. Es setzte sich aus etwa achtzig bis
100 Personen zusammen. Der eigentliche Tötungskomplex, das heißt der Ort, an
dem die Morde stattfanden, befand sich etwa dreihundert Meter vom Schloss
entfernt und bestand aus dem mit einer Gaskammer versehenen Tötungsschuppen,
dem Krematorium mit zwei mobilen Verbrennungsöfen, einer Aufnahmebaracke, in
der die Opfer entkleidet, fotografiert und einer oberflächlichen ärztlichen
Begutachtung unterzogen wurden, sowie einer Garage für die in Grafeneck
stationierten und zum Transport der Opfer eingesetzten grauen Busse.
Rosen auf dem Gedenkbuch
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Von Grafeneck nach Auschwitz - "Euthanasie" und "Endlösung"
Der spätere Einsatz des "Euthanasie"-Personals und der Tötungstechnologie der
Gasmord-Anstalten zur Ermordung der europäischen Juden zeigen den direkten
Zusammenhang zwischen den "Euthanasie"-Verbrechen und der "Endlösung der
Judenfrage": Dr. Horst Schumann (1906-1983), zwischen Oktober 1939 und April
1940 der erste Leiter und ärztlicher Direktor von Grafeneck, war ab Herbst 1942
Lagerarzt in Auschwitz und selektierte an der Rampe von Birkenau. Daneben war
er verantwortlich für grausame und oftmals tödliche
Röntgensterilisationsversuche. Der Stuttgarter Polizeikommissar Christian
Wirth, der die ersten Vergasungen in Grafeneck leitete, wurde 1941/42 erster
Kommandant des Vernichtungslagers Belzec in Polen und später Generalinspekteur
der Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor.
2. Geschichte
Luftbild des Samariterstifts Grafeneck
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Vom Renaissanceschloss zur Tötungsanlage
Ursprünglich war Grafeneck ein auf einer mittelalterlichen Wehranlage
errichtetes Renaissanceschloss. In der Mitte des 18. Jahrhunderts (1762-1765)
wurde es durch Carl Eugen (1728-1793) zu einer prachtvollen barocken
Schlossanlage mit einem kleinen Dorf (Theater, Kaserne, Kapelle ) umgebaut.
Bis auf das Schloss wurde diese Schlossanlage jedoch in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts wieder abgebrochen. Zwischen 1856 und 59 ließ es der
württembergische Herzog Christoph zu einem Jagdschloss umbauen. 1904 wurde
Freiherr Max von Tessin neuer Eigentümer des Schlosses, 1923 übernahm sie der
Reichsminister Graf von Kanitz. 1925 wechselte der Eigentümer erneut; Grafeneck
fiel in die Hände von Eugen Wörwag, dem Stuttgarter Kurhausbesitzer. Im Jahr
1928 erwarb die Samariterstiftung Stuttgart das Schloss, das sie für die
"Versorgung krüppelhafter und gebrechlicher Leute" nutzte.
Am 12. Oktober 1939 erfolgte die Beschlagnahmung Grafenecks durch einen Erlass
des Württembergischen Innenministeriums für "Zwecke des Reiches". Damit
verbunden war die Auflage an die Samariterstiftung die Anstalt bis zum 14.
Oktober zu räumen. Am 15. Oktober wurde das im Besitz der Samariterstiftung
Stuttgart befindliche "Krüppelheim" Grafeneck offiziell an den
württembergischen Ministerialrat Dr. Stähle übergeben.
Danach wurde Grafeneck innerhalb von drei Monaten in eine Mordanstalt
verwandelt. Die offizielle Bezeichnung Grafenecks lautete nun
Reichspflegeanstalt, bzw. Landespflegeanstalt.
Mit grauen Bussen wurden die Opfer nach Grafeneck deportiert (Aufnahme 1940
Diakonie Stetten)
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Die Organisation der "Aktion T4"
Seit Sommer 1939 gab es konkrete Planungen für die systematische Ermordung von
psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in den deutschen Heil- und
Pflegeanstalten. Jedoch war das Ermächtigungsschreiben Hitlers die einzige
pseudorechtliche Grundlage für die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". De
facto gab es keine gesetzliche Freigabe.
Die zentrale "Tötungsbehörde" (T4), die aus der Kanzlei des Führers der NSDAP
hervorgegangen und Hitler direkt untergeordnet war, hatte ihren Sitz in der
Tiergartenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg.
Ab September 1939 wurden zuerst die Heil- und Pflegeanstalten, danach die
Anstaltsbewohner mit Hilfe von zwei Meldebögen und einem Merkblatt erfasst: Die
beiden ausgefüllten Meldebogen wurden an die Zentrale der T4 weitergeleitet, wo
zwei Gutachter und ein Obergutachter über Leben und Tod tausender Patienten und
Heimbewohner entschieden. Die T4-Zentrale schickte die begutachteten Meldebogen
den Tötungsanstalten. Von den Innenministerien (in Baden, Bayern und
Württemberg) gingen die Verlegungsanordnungen in die Anstalten. Mit grauen
Bussen wurden die Opfer schließlich von den Anstalten nach Grafeneck gebracht.
"Vorbildcharakter"
Grafeneck war der Ort, an dem am 18. Januar 1940 die systematische,
"industrielle" Vernichtung von Menschen im NS-Deutschland begann.
Dadurch bekam Grafeneck "Vorbildcharakter" für andere Vernichtungsanstalten im
Deutschen Reich.
Allein im Schloss Grafeneck, der zentralen Tötungsstätte in Südwestdeutschland,
wurden 1940 von Januar bis Dezember 10.654 Menschen ermordet - Männer und
Frauen, alte Menschen, Erwachsene, Jugendliche und Kinder.
Die ersten Opfer Grafenecks kamen aus der bayerischen Heil- und Pflegeanstalt
Eglfing-Haar bei München. Ungefähr 4.500 Opfer stammten aus badischen, knapp
4.000 aus württembergischen, über 1.500 aus bayerischen Einrichtungen, sowie
ungefähr weitere 500 aus anderen Anstalten des Reiches. In Württemberg wurden
aus über 20 Einrichtungen Patienten nach Grafeneck gebracht und dort ermordet.
Gedenkstein
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Die Schließung Grafenecks und das Ende der "Aktion T4"
Im Dezember 1940, zwölf Monate nach dem Beginn der "Euthanasie"-Aktion, wurde
die Vernichtungsanstalt Grafeneck - vermutlich auf Grund Himmlers Einlenken -
geschlossen. Das Personal wurde nach Hadamar versetzt, wo die Krankenmorde bis
August 1941 mit derselben Brutalität weitergingen. Im März 1941 wurden weitere
500 Menschen aus Südwestdeutschland in Hadamar ermordet.
Erst im August 1941 beendete Hitler durch eine mündliche Anordnung an Viktor
Brack die "Aktion T4" im gesamten Deutschen Reich.
Gründe für das Schließen der Tötungsanstalt Grafeneck
Gründe für die Schließung waren zum einen das zunehmende Wissen im Verlauf des
Jahres 1940 über "Die Geheime Reichssache Grafeneck" und damit das Scheitern
der Geheimhaltungsbemühungen. Außerdem gab es immer häufiger Proteste gegen die
"Euthanasie-Aktion" von Seiten der Anstalten, Angehörigen, Kirchen und selbst
von NSDAP-Mitgliedern. Des weiteren waren es organisatorische Gründe, die zum
Ende führten: Das Ziel der "Aktion T4" wurde erreicht, 70.000 Menschen wurden -
wie bereits 1939 festgelegt - ermordet. Dies sind etwa 20% der Insassen aller
deutschen Heilanstalten. In Südwestdeutschland wurde sogar jeder zweite Patient
einer Heil- und Pflegeanstalt ermordet. Schließlich führte auch die zunehmende
Konzentration des nationalsozialistischen Regimes auf den im Juni 1941
begonnenen Russlandkrieg zum Ende der "Aktion T4".
Nach: Dr. Martin Häußermann,
http://www.landesarchiv-bw.de/stal/grafeneck/
(19.02.2007)
Zeittafel
1920
Binding/Hoche veröffentlichen die Schrift "Die Freigabe der Vernichtung
lebensunwerten Lebens"
Juli 1933
Verabschiedung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"
1938
Gesuche an die Kanzlei des Führers (KdF), in denen um Sterbehilfe für
Schwerkranke gebeten wird
Mai 1939
Dr. Mauthe vom Württembergischen Innenministerium und zwei weitere
Ministerialbeamte besichtigen die Einrichtung Grafeneck.
Juli 1939
Bouhler bittet 15 bis 20 Ärzte zu einem Gespräch über die Euthanasie nach
Berlin.
Oktober 1939
Hitlers "Ermächtigungsschreibe" wird im Oktober 1939 geschrieben und dann
zurückdatiert.
6. Oktober 1939
Ministerialrat Stähle, Dr. Linden und Viktor Brack besichtigen Grafeneck.
7. Oktober 1939
Stähle setzt Landrat Alber (Münsingen) über die bevorstehende Beschlagnahmung
in Kenntnis.
9. Oktober 1939
Runderlass des Reichsinnenministeriums an südwestdeutsche Anstalten - die
Anstalten müssen Meldebögen ausfüllen.
14. Oktober 1939
Eingeschriebener Eilbrief Albers an die Anstalt Grafeneck, diese am selben Tag
zu räumen
November 1939
Beginn des Umbaus in Grafeneck, Erstellung der Todeszone
Januar 1940
"Probe-Vergasung" in der Anstalt Brandenburg
6. Januar 1940
Ankunft des in Berlin rekrutierten "Tötungs-Personals" in Grafeneck
18. Januar 1940
Beginn der Tötungen in Grafeneck
16. Februar 1940
Stähle informiert die württembergischen Anstaltsleiter über die Euthanasie und
verpflichtet sie zum Stillschweigen.
2. April 1940
Erster Transport aus der Zwischenanstalt Zwiefalten
April 1940
Umzug der Euthanasie-Verwaltung in Berlin in die Tiergartenstraße 4, von nun an
"T4" genannt
1. Juni 1940
Anfrage des Freiburger Erzbischofs Gröber in Sachen Euthanasie beim badischen
Innenministerium
18. Juni 1940
Beschluss der badischen Kirchenleitung, beim Badischen Innenministerium
vorstellig zu werden
19. Juni 1940
Protestbrief des badischen Landesbischofs Dr. Kühlewein, Abschrift an den
württembergischen Landesbischof Wurm
8. Juli 1940
Vormundschaftsrichter Kreyssig prangert in einem Brief an Gürtner die
Euthanasie an.
19. Juli 1940
1. Brief des württembergischen Landesbischofs Wurm an Innenminister Frick
1. August 1940
Protestschreiben des Freiburger Erzbischofs Gröber und des Rottenburger
Generalvikars Dr. Kottmann an Lammers
23. August 1940
Brief des württembergischen Landesbischofs Wurm an Justizminister Gürtner
20. August 1940
Vormundschaftsrichter Kreyssig verbietet die "Verlegung" von Patienten, die
seiner Vormundschaft unterstehen
5. September 1940
Brief des württembergischen Landesbischofs Wurm an Innenminister Frick
13. Dezember 1940
Letzte Vergasung in Grafeneck
19. Dezember 1940
Schreiben Himmlers an Brack
Januar 1941
Tötungsanstalt Hadamar löst Grafeneck ab.
3. August 1941
Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen
24. August 1941
Euthanasie-Stopp Hitlers
Herbst 1941
"T4" im Dienst der "Endlösung" tätig
8. Juni 1949
Beginn des Tübinger Schwurgerichtsprozesses über die Euthanasie in Grafeneck
5. Juli 1949
Urteile im Tübinger Schwurgerichtsprozess
1965
Abriss des Todesschuppens
Aus: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.),
"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940. Historische Darstellung -
Didaktische Impulse - Materialien für den Unterricht, Stuttgart 2000, S. 70f.
3. Anlage
Die Gedenkstätte Grafeneck
Nach der Restitution an die Samariterstiftung im Jahr 1947 wurde Grafeneck
wieder eine Behinderteneinrichtung. Nach jahrzehntelangem lähmendem Schweigen,
das erst in den 1970er Jahren durchbrochen wurde, konnte 1990 unter dem
Leitgedanken "Das Gedenken braucht einen Ort", fünfzig Jahre nach den
"Ereignissen", eine Gedenkstätte entstehen. Eine in die Erde eingelassene
steinerne Schwelle am Zugang zur Gedenkstätte nennt die Namen der über vierzig
baden-württembergischen und bayerischen Einrichtungen und Heime, aus denen
Menschen zur Tötung nach Grafeneck gebracht wurden.
Das vom Verein "Gedenkstätte Grafeneck" 1995 erstmals der Öffentlichkeit
übergebene Gedenkbuch bewahrt, bis heute fortgeschrieben, die Namen von über
8.000 Opfern des Massenmordes. Wenigstens ein Teil der Opfer wurde hiermit der
Anonymität entrissen, jedoch scheint auch nach fünfzehnjähriger Forschung ein
Ende der Suche noch nicht in Sicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden nicht
mehr alle Namen und Schicksale zu rekonstruieren sein. Aus diesem Grund
erinnert seit 1998 der sogenannte Alphabet-Garten an die "bekannten und die
unbekannten Opfer" von Grafeneck. Die als Granitquader in die Erde
eingelassenen 26 Buchstaben des Alphabets, geschaffen durch die amerikanische
Künstlerin Diane Samuels, sind inzwischen ein fester Bestandteil der
Gedenkstätte.
Lageplan Grafeneck heute
© Archiv Gedenkstätte Grafeneck
Zu den ursprünglichen Kernaufgaben des Gedenkens und Mahnens traten in den
letzten Jahren verstärkt solche der Forschung und der historisch-politischen
Bildungsarbeit hinzu. Nahezu 10.000 Besucher kommen jedes Jahr an die
Gedenkstätte. Oftmals gilt ihr Besuch der Gedenkstätte und dem Samariterstift
Grafeneck. Es ist auch diese Gleichzeitigkeit von zentraler Gedenkstätte von
Opfern der NS-"Euthanasie" in Baden-Württemberg und der Existenz des
Samariterstifts als einer modernen Einrichtung der Behindertenhilfe und
Sozialpsychiatrie, die die Singularität dieses Ortes nicht nur in der
Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart ausmacht.
Zur "Erinnerungstopografie" Gedenkstätte Grafeneck zählen heute
- das neue Dokumentationszentrum,
- die offene Kapelle Gedenkstätte,
- der Friedhof mit dem frühen Gedenkort von 1962,
- das Schlossgebäude als Sitz der Täter,
- die nur noch in Umrissen sichtbare Vernichtungsanlage.
Aufgaben und Ziele der Gedenkstätte Grafeneck
- Die Gedenkstätte Grafeneck ist heute Erinnerungs- und Mahnstätte für die über
10.600 Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen in
Südwestdeutschland - und damit für viele tausend Menschen ein Ort individueller
Trauer und kollektiven Gedenkens.
- Die Gedenkstätte Grafeneck versteht sich als Dokumentations- und
Forschungsstätte. Sie bewahrt das historische Wissen und macht es der
Öffentlichkeit zugänglich. Dies geschieht in erster Linie durch
Veröffentlichungen, Vorträge, Lesungen, durch eine Wanderausstellung sowie
insbesondere durch das 2005 geschaffene Dokumentationszentrum. Träger der
Gedenkstättenarbeit, die in enger Zusammenarbeit mit der Samariterstiftung
Nürtingen und dem Samariterstift Grafeneck geschieht, ist der 1994 gegründete
Verein Gedenkstätte Grafeneck e.V.
- Die Gedenkstätte Grafeneck ist Bildungsstätte mit den Schwerpunkten historische
und politische Bildungsarbeit. Informiert wird hierbei über das Denken sowie
die konkreten Mechanismen, die nach einer langen Vorgeschichte zu den
Verbrechen von 1940 führten. Eine große Zahl nationaler und internationaler
Jugend- und Erwachsenengruppen besuchen jährlich die Gedenkstätte und das
Samariterstift Grafeneck.
- Die Gedenkstätte erfüllt öffentliche und humanitäre Aufgaben als Auskunfts- und Informationsstelle für Städte und Gemeinden ebenso wie für Gerichte in Sachen Entschädigung und Nachlass. Durch eine verstärkte Wahrnehmung der Gedenkstätte in der Öffentlichkeit nimmt seit einigen Jahren auch die Zahl der Verwandten und Nachkommen der Opfer von 1940 zu, die sich an die Gedenkstätte wenden. Nach einer jahrzehntelang verweigerten Erinnerung, aber auch Verdrängung und Tabuisierung dieses Teils der NS-Verbrechen bahnt sich hier ein Wandel an.
Die Aufgaben bleiben somit auch in der Zukunft: die Bewahrung und
Zugänglichmachung der Dokumente des damals Geschehenen, das Gespräch mit
Angehörigen der Opfer, die Weitergabe der Erinnerung an Besucher - nicht nur
als Information über ein historisches Ereignis, sondern im Sinne einer
kritischen Bildungsaufgabe. Themen wie die Bioethik- und neue
"Euthanasie"-Debatte, aber auch politischer Extremismus, Rassismus,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit unterstreichen die Wichtigkeit einer
Auseinandersetzung mit dem Denken und den Vorgängen, die zur Ermordung von
10.654 Menschen in Grafeneck geführt haben. Unabdingbar bleibt aber, um den
Ansprüchen der Öffentlichkeit gerecht zu werden - neben einem breiten
bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagement als unverzichtbarer Basis -
die verlässliche und dauerhafte Unterstützung von Gedenkstätten wie Grafeneck,
und nicht nur dieser, durch die Rechtsnachfolger des NS-Staates, den Bund und
seine Länder, Kreise und Städte.
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -