Kleine Leute als große Helden? Das Fluchthilfenetzwerk um Luise Meier und Josef Höfler im Nationalsozialismus
Hintergrundinformationen
1. Bedeutung
Widerstand im Dritten Reich ist ein wichtiges Thema für den Geschichtsunterricht. Es zeigt, dass es auch im totalitären NS-Staat mutige Menschen gab, welche sich gegen die Menschenverachtung des Regimes stellten. Es zeigt, dass sich nicht alle Menschen „gleichschalten“ und sich ihrer Menschlichkeit berauben ließen.
Noch immer liegt der Fokus im Geschichtsunterricht auf den `großen´ Widerständlern wie Claus Schenk von Stauffenberg oder den Geschwistern Scholl, die unter Einsatz des eigenen Lebens gegen Hitler arbeiteten. Der Widerstand der `kleinen Leute´ wird hingegen eher selten betrachtet. Dieses Modul widmet sich bewusst diesem.
Es illustriert am Beispiel des Fluchthilfe-Netzwerks um die Berliner Witwe Luise Meier und den Gottmadinger Arbeiter Josef Höfler, dass auch „kleine Leute“ die Unmenschlichkeit des NS-Regimes erkannten und mutig genug waren, bei großem persönlichem Risiko anderen Menschen zu helfen. 28 jüdische Deutsche konnten dank Luise Meier und Josef Höfler in den Jahren 1943 und 1944 in die Schweiz fliehen. Damit gehört dieses Fluchthilfe-Netzwerk zu den erfolgreichsten in Deutschland.
Das Netzwerk um Meier und Höfler ist besonders gut dokumentiert. Neben einem Interview mit Luise Meier von 1955 und einer Anklageschrift gibt es vor allem die Überlieferungen derjenigen Juden, die dank der Hilfe der Gruppe überlebten. Dieses – im Vergleich zu anderen Fluchthilfe-Netzwerken – reiche Quellenmaterial gibt Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit,
-
die Situation deutscher Juden im Berliner Untergrund um 1943/44 zu rekonstruieren,
-
die Funktionsweise des Fluchthilfe-Netzwerks zu rekonstruieren,
-
Gefahren/ Risiken der Fluchthilfe für Helfer und Flüchtlinge zu erkennen,
-
die komplexen Motive der Fluchthelfer zu ermitteln und zu reflektieren,
-
das Handeln der Fluchthelfer zu bewerten,
-
die Möglichkeiten von Widerstand für `normale Menschen´ in einem totalitären Staat zu beurteilen und zu bewerten,
-
sich intensiv mit Selbstzeugnissen (Autobiografie, Interview) auseinanderzusetzen.
2. Geschichte
Fluchthilfe in die Schweiz 1941-45
Nach dem Beginn der reichsweiten Deportationen der Juden am 18. Oktober 1941 und dem Auswanderungsverbot für die jüdische Bevölkerung vom 23. Oktober 1941 war Deutschland für alle jüdischen Deutschen, die noch im Land waren, zur „tödlichen Falle“ geworden. Wer sich den Deportationen entziehen wollte, musste in den Untergrund. Die meisten untergetauchten Juden, etwa 5000, lebten in Berlin. Da das Leben im Untergrund äußerst gefährlich war, dachten viele Juden an Flucht. 1500 Juden überlebten in Berlin.
Die Grenze zwischen Südbaden und der Schweiz spielte für die Flüchtlinge eine besondere Rolle: nach der Besetzung der Nachbarländer blieb die Schweiz das einzige neutrale, an Deutschland angrenzende Land. Die „grüne Grenze“ im Gebiet zwischen Singen und Schaffhausen zog wegen ihrer Länge und Unübersichtlichkeit zahlreiche Flüchtlinge an. Zwischen 1942 und 1945, also während der Zeit der Massendeportationen und der Vernichtung, gelangten 95 Juden nach Schaffhausen. Dank des Netzwerkes um Luise Meier und Josef Höfler konnten sich 28 Juden in den Kanton Schaffhausen retten.
Der Kanton Schaffhausen war als Fluchtort auch deshalb so beliebt, weil hier mit Flüchtlingen humaner umgegangen wurde als in anderen Kantonen, beispielsweise dem Thurgau. Trotz Schließung der Schweizer Grenze für Juden am 13.8.1942 durch den Schweizer Bundesrat nahmen die Schaffhauser jüdische Flüchtlinge auf. Insgesamt gelangten zwischen 1939 und 1945 etwa 1400 Juden in die Schweiz.
Eine Flucht von Berlin nach Süddeutschland und dann über die von deutschen wie Schweizer Grenzwächtern streng bewachte Grenze war riskant und ohne Ortskenntnisse kaum zu schaffen. Daher suchten viele untergetauchte Berliner Juden Hilfe. Luise Meier, deren Aktivitäten im Berliner Untergrund bekannt waren, war für viele eine erste Anlaufstation.
(vgl. Franco Battel, Claudia Schoppmann & Kurt Schilde)
Luise Meier und Josef Höfler
Luise Meier wurde 1885 in Westfalen geboren und war 1936 mit ihrem Mann Karl, einem Buchhalter, von Köln nach Berlin gezogen. Dort bezogen sie in Berlin-Grunewald eine geräumige Wohnung in einer Gründerzeitvilla. Luise Meier war nicht berufstätig und hatte vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter.
In dem Berliner Haus betrieb die Jüdin Fedora Curth eine Pension. Luise Meier kam in Kontakt mit den Pensionsgästen, freundete sich mit einem jüdischen Ehepaar, den Perls, an und ließ einige Gäste auch bei sich telefonieren, als dies Juden bereits verboten war. Die nach 1941 immer prekärer werdende Situation der Berliner Juden nahm Luise Meier also aus nächster Nähe wahr. Ihr Mann starb 1942 an Lungenkrebs, zwei ihrer Söhne dienten an der Ostfront und fielen im Krieg.
Nach der zwangsweisen Schließung ihrer Pension mussten Fedora Curth und ihre Gäste in sogenannte Juden-Wohnungen ziehen. Curth wusste von Massenerschießungen von Juden in Polen und wollte durch Flucht ihrer Deportation entgehen. Ihr gelang die Flucht in die Schweiz bei Bregenz im November 1942. Aus der Schweiz wandte sich Fedora Curth über einen Mittelsmann an Luise Meier mit der Bitte, anderen Juden zu helfen. So begann Luise Meiers Tätigkeit als Fluchthelferin. Über den deutschen Juden Dr. Nathan Wolf, einen Arzt aus Wangen am Untersee, der nach Stein am Rhein geflohen war, kam der Kontakt zu Josef Höfler zustande.
Luise Meier war gläubige Katholikin und stand nach eigenen Aussagen dem NS-Regime ablehnend gegenüber. Das Leid der Juden nahm sie persönlich war, auch war sie mit einem jüdischen Ehepaar befreundet. Zwei Flüchtlinge nennen als weiteres Motiv zwei ihrer Söhne, die an der Ostfront im Einsatz waren und fielen. Luise Meier befürchtete, dass sie, gegen ihren Willen, an Erschießungen von Juden beteiligt gewesen waren. Ihre Fluchthilfe sah die Katholikin als Kompensation für die möglichen Vergehen der Söhne an. Flüchtlinge bestätigen, dass sie für ihre Fluchthilfe kein Geld nahm, sich nur Auslagen (Fahrkarten etc.) bezahlen ließ.
Josef Höfler war gelernter Schlosser und bei den Alu-Walzwerken in Singen beschäftigt, die für die Rüstungsindustrie produzierten. Höfler lebte in Gottmadingen und war mit den Örtlichkeiten an der Grenze bestens vertraut. Nach dem Krieg war er an der Gründung der SPD in Gottmadingen beteiligt. Mit dem Elektromeister Willy Vorwalder und, nach dessen Aussteigen aus der Fluchthilfe, mit dem Mechaniker Wilhelm Rietzi sowie dem Zollassistenten Hugo Wetzstein organisierten sie die Fluchthilfe vor Ort.
Josef Höfler und die anderen Fluchthelfer ließen sich für ihre Hilfe mit Geld oder Wertgegenständen bezahlen. Unklar ist, wie viel Geld sie für eine Flucht verlangten. Der Flüchtling Jizchak Schwersenz berichtet, dass die Fluchthelfer erst 6000 Reichsmark verlangt, sich dann aber mit vier Koffern Wäsche begnügt hätten. Die Gestapo fand im Haus der Höflers nach dessen Festnahme zahlreiche Wertgegenstände, die im Keller vergraben waren. Ob das tatsächlich der Lohn der Fluchthilfe war oder ob Höfler die Gegenstände zur Aufbewahrung angenommen hatte, ist nicht mehr zu klären.
Die Historiker Franco Battel und Claudia Schoppmann sind sich einig, dass bei Höfler, der im Vergleich zur wohlhabenden Luise Meier in finanziell bescheidenen Verhältnissen lebte, Geld nicht das ausschlaggebende Motiv war. Höfler, auch seine Familie, ging bei der Fluchthilfe ein großes Risiko ein. Es ist zu vermuten, dass die Entlohnung dazu dienen sollte, die Familie im Fall einer Festnahme abzusichern. Ein Flüchtling schreibt, dass Frau Höfler gläubige Christin war.
(vgl. Franco Battel & Claudia Schoppmann)
Die Fluchthilfe
B 2 & B 3: Die junge Jüdin Lotte Kahle (links) und der jüdische Lehrer Jizchak Schwersenz überlebten dank Luise Meier und Josef Höfler die NS-Zeit. © Metropol-Verlag (B1) & Wichern-Verlag (B2)
In Berlin nahmen untergetauchte Juden mit Luise Meier Kontakt auf. Diese nahm mit Josef Höfler Kontakt auf, der dann meist nach Berlin fuhr, um gemeinsam mit dem Flüchtling und Meier die Flucht zu besprechen. Einige Male fuhr auch Frau Meier zur Beratung nach Gottmadingen. Einen gefälschten Ausweis mussten sich die Flüchtlinge anderweitig beschaffen.
Luise Meier begleitete die Flüchtlinge dann oft mit dem Zug von Berlin nach Singen. Die Zugfahrt war risikoreich, besonders mit männlichen Flüchtlingen: die Gestapo suchte intensiv nach Deserteuren, untergetauchten Juden und entflohenen Zwangsarbeitern; einige Male kam es zu gefährlichen Situationen, ein Flüchtling wurde dabei auch festgenommen.
In Singen wartete ein Fluchthelfer, 1943 meist Willy Vorwalder, am Bahnhof. Dieser gab sich durch ein Zeichen zu erkennen, und die Flüchtlinge mussten dem Fluchthelfer folgen. Vorwalder brachte sie zu Josef Höfler, der sie von Gottmadingen aus an die Grenze führte und ihnen einen sicheren Weg anzeigte. Die Flüchtlinge mussten dann allein über die Grenze bei Ramsen oder Buch gehen. Nachdem Willy Vorwalder ausgestiegen war, holte Höfler die Flüchtlinge vom Bahnhof ab und führte sie zu Wilhelm Ritzi und Hugo Wetzstein. Die wiesen den Flüchtlingen bei Beuren-Büsslingen den Weg über die Grenze.
Die Fluchthelfer professionalisierten ihr Handeln zunehmend. So ließen die Höflers den ersten Flüchtling, die junge Jüdin Lotte Kahle, noch bei sich zu Hause übernachten. Auch brachte Höfler sie in einer riskanten Aktion selbst über die Grenze. Das taten die Fluchthelfer in der Folge nicht mehr: sie zeigten den Flüchtlingen nur noch den genauen Weg an, über die Grenze mussten sie allein. Auch wiesen sie ihnen Verstecke an, falls sie mit der Flucht noch warten mussten.
Diese Strategie erwies sich als erfolgreich. Nur vier Flüchtlinge wurden geschnappt: Eberhard Einzig benahm sich auf der Zugfahrt auffällig, wurde von der Gestapo festgenommen und ins KZ Theresienstadt verschleppt, wo er starb; Hans-Georg Kornblum hatte sich eigenmächtig eine Nacht vor der Flucht in einem Singener Gasthof einquartiert und war dort bei einer Ausweiskontrolle festgenommen worden (vgl. AB 2 ). Zwei junge Jüdinnen fanden den angezeigten Weg über die Grenze nicht und kehrten nach Singen zurück. Dort wurden sie von der Gestapo verhaftet. Emma Brandt nannte die Namen der Fluchthelfer, die daraufhin alle inhaftiert wurden.
Die Fluchthilfe war für Helfer und Flüchtlinge ein riskantes und konfliktreiches Unternehmen. Die Gefahr einer Entdeckung bestand auf der Zugfahrt und beim Grenzübertritt: die Grenze war von Schweizer und deutscher Seite scharf bewacht. Wurden Flüchtlinge in Deutschland erwischt, wurden sie in ein KZ deportiert; wurden sie von Schweizer Grenzern gestellt, bestand die Gefahr, dass sie wieder nach Deutschland überwiesen wurden. Die Fluchthelfer mussten fürchten, dass Flüchtlinge bei einer Festnahme ihre Namen verrieten. Viele Flüchtlinge verhielten sich unvorsichtig und hielten sich nicht an Absprachen. Den Fluchthelfern drohte wegen „Judenbegünstigung“ Gefängnis- oder KZ-Haft sowie eine Geldstrafe. Die Todesstrafe wurde bei Fluchthilfe nicht verhängt, wobei einige Fluchthelfer jedoch an den Folgen der Haft starben.
Konflikte bestanden zwischen Fluchthelfern und Flüchtlingen. Waren die Fluchthelfer auf ihre Sicherheit bedacht, wollten die Flüchtlinge die Ortskenntnisse der Helfer möglichst lange nutzen. Auch verhielten sich Flüchtlinge während der Flucht unbedacht und auffällig. Manche Flüchtlinge hielten sich auch nicht an die Verabredungen und brachten zuviel Gepäck oder weitere Flüchtlinge mit.
(vgl. Franco Battel & Claudia Schoppmann)
Festnahme, Haft, späte Ehrung
Im Juni 1944 kamen alle Fluchthelfer (Meier, Höfler, Vorwalder, Wetzstein, Ritzi) in Untersuchungshaft. Das Sondergericht Freiburg ermittelte wegen „fortgesetzter Beihilfe zur illegalen Auswanderung von Juden nach der Schweiz“. Im Juli 1944 wurde der Fall auf Geheiß des Reichsjustizministeriums an den Volksgerichtshof in Berlin übergeben, wo die Anklage auf „Feindbegünstigung“ lauten sollte. Im Januar 1945 waren die Ermittlungen abgeschlossen. Allerdings kam es nicht mehr zu einem Prozess, was wohl am Chaos der letzten Kriegsmonate lag.
Luise Meier saß im Gefängnis in Stockach und wurde am 21.4.1945 befreit. Josef Höfler und Hermann Rietzi wurden am 25.5.1945 im Landgerichtsgefängnis Konstanz befreit. Willy Vorwalder und Hugo Wetzstein waren noch im April ins KZ Dachau überstellt worden und konnten dort befreit werden.
Nach dem Krieg mussten Luise Meier und Josef Höfler lange um eine finanzielle Entschädigung kämpfen. Der Antrag Höflers wurde 1951 abgelehnt, da er nicht nachweisen könne, dass er aus politischen Gründen und nicht aus Gewinnsucht gehandelt habe. erst nach einem Prozess wurde ihm Haftentschädigung gewährt.
Eine offizielle Anerkennung ihres Handelns blieb Luise Meier zu Lebzeiten verwehrt. 1984 bekam Josef Höfler das Bundesverdienstkreuz. 2001 wurden beide von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt.
(vgl. Franco Battel & Claudia Schoppmann)
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte RP Freiburg -