Deutschsprachige Rechenbücher - Adam Ries und Leonhard Euler

Um die Linie von den Ägyptern über die Inder in unsere jüngere Vergangenheit weiterzuzeichnen, sollen im Folgenden vor allem zwei bedeutende Männer hervorgehoben werden, die einen großen Beitrag zur Gleichungslehre geleistet haben.

1. Adam Ries (1492 - 1559)


Mit der Entwicklung des Frühkapitalismus stieg plötzlich das Bedürfnis nach Beherrschung der Zahlen und des Rechnens; da die Kloster- und Domschulen dem nicht mehr gerecht werden konnten, entwickelte sich in den meisten europäischen Ländern ein neuer Berufsstand, der des Rechenmeisters.

Als 17jähriger verließ Adam Ries sein Elternhaus und ließ sich nach einer Zeit der Wanderjahre 1518 in Erfurt nieder, wo er als Rechenmeister eine Rechenschule gründete; im gleichen Jahr noch veröffentlichte er sein erstes Rechenbüchlein.
1523 zog er in den sächsischen Bergbauort Annaberg. Dort wurde er in das Amt des Rezessschreibers gehoben, was heute mit dem eines Buchhalters im Bergbau vergleichbar wäre. In dieser Zeit vollendete Ries die "Coss", ein Buch das neben vielen praktischen Aufgaben auch zahlreiche mit formalem Charakter enthält, also auch die Lösung algebraischer Aufgaben mit Hilfe "des Algorithmus".

Das Wort "Coss'' leitet sich ab von der Bezeichnung "Ding", "Sache", für die gesuchte Größe, die aus Gleichungen zu bestimmen war und bisher eben als "Ding" geschrieben wurde; der lateinische Name war "res", italienisch hieß dies "cosa", deutsch "Coss".

Das große und einmalige Verdienst des am 30.03.1559 verstorbenen Adam Ries besteht darin, die hohe Rechenkunst so aufbereitet zu haben, dass jedermann sie verstehen und anwenden konnte.

Von diesem Rechenmeister stammen die folgenden Aufgaben:


Item 3 gesellen haben gewunnen ein anzal geldes,
der erste nimet 1/7, der ander 1/4 und
der dritte nimet das vbrig das ist 17 fl.
Nun frage, wieuil des geldes ist das sie gewunnen habn. (1)

Während hier eine einfache Gleichung mit einer Unbekannten zu lösen ist, führt die folgende Aufgabe, die der dem Euklid zugeschriebenen von "Esel und Maultier" (s.o.) gleicht, auf ein lineares Gleichungssystem mit zwei Unbekannten:


Item eyner spricht zu dem andernn
gib mir 1 pfennig,
so hab ich souil sam Dir pleibet,
spricht der ander zum erstenn
gib mir 1 pfennig,
so hab ich zwey mal souil sam dir pleibet.
Nun wolt ich gern wissen,
wiuil eynn etzlicher gehabt hab. (2)

Hier wie in allen seinen Büchern bezeichnete Ries die Proben als zur vollständigen Lösung einer Aufgabe gehörig!

Da sich im 14. und 15. Jh. die indischen Ziffern in Europa durchzusetzen begannen, widmete sich Ries in seinem zweiten Buch nun auch dem schriftlichen Rechnen (im Gegensatz zum Rechnen mit dem Rechenbrett). Dieses Buch erlebte bis fast hundert Jahre nach Rieses Tod über 60 Auflagen, was vor allem daran lag, dass es in deutscher Sprache geschrieben und didaktisch so aufbereitet war, dass jeder Leser sich damit Rechenfertigkeiten erwerben konnte. Denn gerade in Bezug auf die praktischen Anwendungen bestand ein großes Bedürfnis, dem das Studium an den Hochschulen keineswegs entsprach.

2. Leonhard Euler (1707 - 1783)


Schon die ältesten überlieferten mathematischen Schriften zeigten, dass neben den aus der Praxis des Bauens, der Verteilung von Feldern und Nahrungsmitteln, des Tausches und Handels, des Wiegens und Messens gestellten Aufgaben schon sehr früh andere Probleme sich größter Beliebtheit erfreuten: Wir nennen sie heute mathematische Rätsel oder mathematische Unterhaltungsaufgaben.
Wie ihre Verbreiter manchmal explizit sagen, sollten sie der Schärfung des Verstandes dienen und sind also eine Art Denksportaufgaben. Manchmal treten auch bei Aufgaben des täglichen Lebens praxisfremde Bruchteile von Menschen oder Tieren auf, bei den Problemen der Unterhaltungsmathematik dagegen entbehrt die Einkleidung meist der Realität.
Auch wenn wir im einzelnen nicht wissen, auf welchem Wege sich die dem Geistestraining dienenden Unterhaltungsaufgaben in aller Welt verbreiteten, ob durch Reisende, Handelsleute, so ist doch Tatsache, dass solche Probleme überall auftauchten und sich sehr lange gehalten haben.

Auch bei Leonhard Euler, dem in der Schweiz geborenen Mathematiker, finden sich in seiner 1770 in Leningrad (dem damaligen Petersburg) erschienenen "Vollständigen Anleitung zur Algebra" derartige Beispiele, von wo aus sie ihren Weg in viele Rechenbücher bis in unsere Tage gefunden haben. Dieses Werk, ein Lehrbuch der Algebra für Anfänger und Liebhaber, eine "Anleitung zum Genuss der Eigenschaften der Zahlen", soll Euler, nachdem er erblindet war, seinem Diener diktiert haben, einem Schneidergesellen, der nur geringe mathematische Kenntnisse besaß. Es ist von besonderer Klarheit, so dass der Diener den teilweise recht schwierigen Stoff verarbeiten und manche Aufgabe selbständig lösen konnte.

Euler beschrieb bei allen Problemen, auch wenn er sie alten Rechenbüchern entnahm, einen ausführlichen Lösungsweg.
Ein Beispiel, das ich hier nennen möchte, führt Euler unter dem Abschnitt "Von den algebraischen Gleichungen und ihrer Auflösung" vor. Es taucht dort auf in der Einkleidung einer Erbschaftsverteilung, und der Autor merkt an, dass es besondere Beachtung verdiene:


Ein Vater hinterlässt einige Kinder und ein Vermögen,
das die Kinder in folgender Art unter sich teilen:
Das erste nimmt 100 Taler und dazu den zehnten Teil des Restes.
Das zweite nimmt 200 Taler und dazu den zehnten Teil des nunmehr erhaltenen Restes.
Das dritte nimmt 300 Taler und dazu den zehnten Teil des verbliebenen Restes.
Das vierte nimmt 400 Taler und dazu den zehnten Teil des verbliebenen Restes usw.
Hierauf stellt sich heraus, daß das ganze Vermögen gleichmäßig verteilt worden ist.
Nun ist die Frage, wie groß das Vermögen war,
wie viele Kinder der Vater hinterließ und wieviel jedes bekam. (3)

Diese Aufgabe zählt zum Typ "Der Wächter im Apfelgarten",

Dass die Tradition der Unterhaltungsmathematik mit neuem Leben gefüllt wurde und das unterhaltsame Element des Rätsels mit dem nützlichen der Anwendung und Ausbildung mathematischen Wissens verbunden blieb, haben wir also vor allem L. Euler zu verdanken.


(1) alpha, 18. Jg. Heft 1/1984, 3ff.
(2) Ebd.
(3) A.a.O., 17. Jg. Heft 2/1983, 34. Vgl. a.a.O., 17. Jg. Heft 6/1983, 131 und 17. Jg. Heft 3/1983, 59.