5. Jh. v. Chr. Doryphoros des Polyklet
Der Doryphoros (Speerträger) des Polyklet
Die Funktion des Proportionskanons
Die klassische Epoche der griechischen Antike ist getragen von der Suche nach dem „rechten“ / dem idealen Maß (gr.: méson = Maß). In der Antike war man der Überzeugung, dass wahre Schönheit auf einer gelungenen Proportionierung beruht. Dieser Proportionskanon fußt auf bestimmten Zahlenverhältnissen und Maßen. Die Griechen führten die Maßverhältnisse auf die Überzeugungen des griechischen Philosophen Platon (427-347 v. Chr.) zurück. In diesem Sinne beruhe das Schönheitsideal auf der Symmetrie und den Proportionen der Glieder / Körperteile. Dabei ging es gleichzeitig um das Verhältnis muskulöser Kraftentfaltung und tänzerisch, rhythmischer Bewegtheit.
Polyklet entwickelte einen Proportionskanon und formulierte damit die „richtigen“ Maßverhältnisse der einzelnen Körperteile zueinander. Das ist deutlich an der Figur Doryphoros des Polyklet zu erkennen. Der Bildhauer verbindet individuelle Maße mit Systematisierungen und Idealmaßen. Damit schafft er praktikable Maßeinheiten für die Gestaltung einer Figur. Wenn zum Beispiel die Gesamthöhe einer Plastik 180 cm beträgt, ist ein Viertel der Höhe die Position für das Kniegelenk des Spielbeins, auf halber Höhe befindet sich der Penis und auf der Höhe Dreiviertel die Armansätze. Bei der besagten Gesamthöhe von 180 cm ist der Abstand vom Kinn bis zum Haaransatz 18 cm (ein Zehntel). Diese Systematisierung lässt sich auf alle Körperteile übertragen. Die Maßverhältnisse sind auf die Streckenentsprechungen 4:2:1 zu verallgemeinern.
Der Kontrapost
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Durch die idealen Maßverhältnisse des Körpers ergeben sich folgerichtig wiederum Funktionszusammenhänge.
In der Archaik finden wir die Figur kraftvoll und in einer leichten bzw. angedeuteten Vorwärtsbewegung dargestellt. In der Klassik entwickelt sich der Typus des lockeren Stehens. Der sogenannte Kontrapost (ital.: contrapposto = Gegensatz, -stück) beruht auf dem Wechselspiel Last und Kraft (Anspannung und Entspannung).
Die Körperkomposition Kontrapost am Beispiel des Doryphoros:
Wir sehen hier eine Figur, die sich auf ein Standbein stützt, während das Spielbein zurückgesetzt ist und scheinbar am Becken hängt. Dieses ist wiederum schräg, da es nur vom Standbein gestützt wird. Die schräge Hüftstellung hat Auswirkungen auf die Haltung des Oberkörpers. Um die Asymmetrie der Standbein-Spielbein-Haltung im Oberkörper wieder auszugleichen, neigt sich der Oberkörper in Richtung Spielbein, um der Asymmetrie entgegen zu wirken. Das hat zur Folge, dass die Schulterpartie entgegengesetzt zum Becken schräg gestellt wird. Der Körper muss sich somit aus der vertikalen Achse in eine Art S-Schwung bewegen. Die Figur erhält somit eine leichte und lebendige Körperhaltung. Der Kontrapost zeigt sich hier im Gegensatz (kontra) von Last und Kraft. Der Oberkörper wird zum Ausdrucksträger der Bewegung, wobei die Bauchmuskulatur die den Körper durchlaufende Bewegung widerspiegelt. Viele Bewegungen, wie die des Streckens, des Drehens, des Beugens, des Verdehens usw. kann durch die Bauchmuskulatur eindrucksvoll verdeutlicht werden.
Die Künstler der Renaissance werden diese formale Sprache wieder entdecken und anwenden (vgl.: Michelangelo Buonarroti, David, 1499).
Literatur:
- Detlef Lotze (2017): Griechische Geschichte: Von den Anfängen bis zum Hellenismus. C.H.Beck Verlag
- Ernst Hövelborn (2017): Verkörperungen. Griechische Antike - Antony Gormley. BDK Fachverband für Kunstpädagogik. Landesverband Baden-Württemberg
- Margot Michaelis (2002): Plastik - Objekt - Installation. Ernst Klett Schulbuchverlag. Leipzig Stuttgart Düsseldorf
- Hans Baier (1988): Stilkunde. Seemann Verlag. Leipzig
- Gerhard Zinserling (1977): Abriß der griechischen und römischen Kunst. Reclam Verlag. Leipzig