510-490/80 v. Chr. Aphaiatempel
Ägina liegt nur wenige Seemeilen vom Piräus, dem Hafen Athens, entfernt. In der archaischen Zeit des 7. und 6. Jahrhunderts vor Christus erreichte die Insel ihre höchste wirtschaftliche und politische Blüte. Hier prägte man das erste Münzgeld in Griechenland. Die politische Landkarte von Hellas wies damals keinen einheitlichen Flächenstaat auf, sondern bildete einen Flickenteppich aus zahllosen miteinander rivalisierenden Stadtstaaten. In den Jahren um 500 vor Christus wurde die Machtstellung Äginas so groß, dass man sogar in der Lage war, dem mächtigen Nachbarn Athen die Stirn zu bieten. In mehreren Kriegen behaupteten sich die Ägineten. Als 480 vor Christus die Perser mit einer riesigen Streitmacht in Griechenland einfielen, kämpften die Inselbewohner jedoch Seite an Seite mit den Athenern und weiteren griechischen Städten gegen den Feind. Nach der erfolgreichen Seeschlacht von Salamis gegen die persische Flotte wurde Ägina eine besondere Ehrung zuteil: Die miteinander verbündeten Griechen sprachen der Insel wegen der Tapferkeit ihrer Soldaten die besten Teile der Beute als Siegespreis zu.
Bereits am Ende des 6. Jahrhunderts vor Christus hatten die Ägineten damit begonnen, in ihrem bedeutendsten Heiligtum, das der altehrwürdigen einheimischen Göttin Aphaia geweiht war, einen neuen Tempel zu bauen. Die Arbeiten nahmen um 510 vor Christus an der Westfassade ihren Anfang. Vollendet wurden sie 10 bis 20 Jahre später im Osten. Das Gebäude aus Kalkstein wurde mit Skulpturen aus parischem Marmor geschmückt. Vor allem in den beiden Giebelgruppen sollte der neue Machtanspruch der Insel sinnfällig zum Ausdruck gebracht werden. Sie hatten trojanische Kriege zum Thema: Im Westen wurde der Konflikt gezeigt, den auch Homer in seiner Ilias beschreibt. Im Osten hingegen stellte man einen anderen Kampf um die Stadt dar, der nach der mythologischen Erzählung eine Generation vorher stattgefunden hatte.
Der Skulpturenschmuck des Aphaiatempels steht genau auf der Grenze zwischen zwei wichtigen Stilphasen der griechischen Kunst: Der Westgiebel ist noch spätarchaisch, der Ostgiebel frühklassisch. Nirgends sonst wird dieser einschneidendste Epochenwechsel der antiken Kunstgeschichte so anschaulich dokumentiert wie hier. Das macht die Ägineten zum wohl bedeutendsten uns erhaltenen Monument der griechischen Kunst.
Die Giebelskulpturen des Aphaiatempels wurden im April 1811 von einer Gruppe deutscher und englischer Forscher, zu denen der Nürnberger Architekt Carl Haller von Hallerstein gehörte, in Ägina entdeckt. Ein Jahr später konnte sie Martin von Wagner in einer Auktion für den bayerischen Kronprinzen Ludwig ersteigern. Man brachte sie nach Rom, wo sie vom dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen unter der Leitung Wagners ergänzt wurden. Seit 1827 stehen sie in der Glyptothek. Nach der kriegsbedingten Auslagerung 1940 wurden in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die teilweise fehlerhaften Ergänzungen wieder entfernt. Die inzwischen bei Nachgrabungen in Ägina gewonnenen neuen Erkenntnisse zur Architektur des Tempels ermöglichten die heute noch gültige Aufstellung der Figuren. Sie entspricht dem antiken Befund.
Der Künstler, der den Westgiebel des Aphaiatempels von Ägina konzipierte, stand vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen musste er das naturgemäß unübersichtliche, ja wirre Durcheinander eines heftigen Kampfgetümmels für den Betrachter klar lesbar machen. Zum anderen war dabei der speziellen Raumvorgabe eines Giebelfeldes mit seinem dreieckigen Aufbau Rechnung zu tragen. Beide Probleme löste der Bildhauer mit Bravour.
In der Mitte steht in voller Rüstung Athena, die kriegerische Schutzgöttin der griechischen Helden. Mit ihrer Unterstützung kämpfen zu beiden Seiten zwei Heroen gegen trojanische Feinde, von denen nur Teile der Beine erhalten sind. Der auf der linken Seite von Athena weg agierende Krieger hat ein Schildzeichen, das einst mit Farbe aufgemalt war und auch heute im Verwitterungsrelief noch schwach erkennbar ist. Es zeigt einen Adler mit Schlange im Schnabel. Der Krieger kann deshalb als der Held Aias identifiziert werden. Bei dem anderen Griechen muss es sich wegen seiner Ehrenstellung rechts von Athena um Achill, den berühmtesten griechischen Helden handeln. Aias und Achill kämpfen in weitem Ausfallschritt, so dass sie kleiner als Athena sind und sich problemlos in das zu den Seiten hin niedriger werdende Bildfeld einfügten. Noch etwas kleiner waren ihre Gegner dargestellt: Am rechten Bein des von Achill attackierten Trojaners wird noch erkennbar, dass er bereits bezwungen ist und ins Knie bricht.
Auf die beiden mittleren Zweikämpfe folgen zu den Giebelecken hin zwei weitere, diesmal aus jeweils vier Figuren gebildete Kampfgruppen. Sie bestehen aus je einem griechischen Bogenschützen, einem Lanzen- oder Schwertkämpfer, der ebenfalls Grieche ist, und zwei gefallenen Trojanern. Rechts fehlt der zweite Gefallene heute zwar, er war aber in der Antike vorhanden. Die hockenden, vorgebeugten und in verschiedener Schräglage auf den Boden gestreckten Körper passen sich ebenfalls treffend in den dreieckigen Giebelraum ein. Bei dem linken Bogenschützen, der mit Lederkappe und elastischen Hosen bekleidet ist, haben wir es vermutlich mit Teukros, dem Bruder des ganz in seiner Nähe kämpfenden Aias zu tun.
Wenn man die Komposition noch einmal im Ganzen überblickt, muss man neben der Figurenstaffelung die Klarheit bewundern, mit der der planende Künstler das Bild strukturierte: Der Aufbau mit jeweils zwei Kampfgruppen neben der zentralen Athena ist streng symmetrisch und leicht lesbar. Dennoch erfährt die Darstellung durch die gegenläufig zu den Seiten gewendeten Figuren eine ungeheure Belebung. Stellt man sich die Skulpturen mit wenigen intensiven Farben gefasst vor, so dürfte die Dramatik des Geschehens noch wesentlich gesteigert gewesen sein.
Immer bleibt aber deutlich: Die Griechen siegen, die Trojaner unterliegen. Die gezeigten griechischen Helden Achill, Aias und Teukros gehören schon bei Homer zu den bestimmenden Protagonisten des trojanischen Krieges – und sie stammen alle aus Ägina! Klarer und wirksamer als an diesem Monument hätten die Ägineten ihren Machtanspruch kaum formulieren können.
Der Stil der Figuren ist noch ganz und gar archaisch. Das kann man schön an dem Gefallenen in der rechten Giebelecke sehen. Sterbend zieht er sich einen Pfeil aus der Brust. Doch ist an seiner Körperhaltung davon nichts spürbar: Er präsentiert sich dem Betrachter, sein Körper steht noch unter voller Spannung und Lebenskraft, die Glieder sind hochaufgerichtet, der Blick weist aus dem Bild. Nicht um die Darstellung des Todes, sondern um die eines lebendigen, beweglichen Menschen geht es dieser Kunst.
Der Ostgiebel des Aphaiatempels von Ägina gehört bereits in klassische Zeit. Um dies zu verstehen, genügt ein kurzer Blick auf den sterbenden Krieger in der linken Giebelecke. Wie der Sterbende des Westgiebels wurde er von einem Pfeil in die Brust getroffen. Doch ist bei ihm die Kraft den Gliedern schon weitgehend entwichen. Sein Oberkörper und sein Kopf sind nicht aufgerichtet und dem Betrachter zugewandt, sondern zu Boden gedreht. Er stirbt einsam, ist ganz bei sich. Der linke Arm rutscht bereits aus dem Bügel des senkrecht aufgestellten Schildes, während die Rechte das Schwert krampfhaft umfasst und sich mit letzter Kraft in die Höhe stemmt. Schon im nächsten Augenblick wird der Schild krachend niedersausen und das Haupt des Kriegers unter sich begraben.
In diesem Bild zeigen sich wie in einem Brennglas die wesentlichen Züge der frühen klassischen Kunst. Sie bindet die Darstellung des Menschen an die Situation, ohne dabei zur bloßen Momentaufnahme zu werden. Sie ist ernst und streng, zugleich aber auf ganz neue Art innerlich und empfindsam.
Beim Sterbenden in der linken Ecke des Ostgiebels handelt es sich um den Trojanerkönig Laomedon, der eine Generation vor dem homerischen Kampf um Troja über die Stadt herrschte. Laomedon hatte gegen die Götter gefrevelt. Die schickten ein Meerungeheuer, das die Bevölkerung terrorisierte. Erst Herakles, der größte aller Heroen, vermochte das Monster zu überwältigen. Auch ihn beleidigte Laomedon, da er ihm den Lohn für die Rettungstat versagte. Herakles scharte daraufhin eine Gruppe von Helden um sich, zu der auch Telamon und Peleus, die Väter der im Westgiebel dargestellten Aias und Achill, gehörten. Gemeinsam eroberten sie die Stadt, wobei Herakles den treulosen König tötete.
Der planende Künstler des Ostgiebels konnte bei seinen Arbeiten nur das Ziel haben, die geniale Komposition des Westgiebels noch einmal zu übertreffen. Dabei ist zu beachten, dass die antike Kunst – anders als die Moderne – nicht hauptsächlich auf Originalität und Andersartigkeit aus war. Ihr höchstes Ethos lag vielmehr darin, die Vorbilder der Vergangenheit zunächst technisch wie künstlerisch zu erreichen, um sie dann in einem zweiten Schritt hinter sich zu lassen.
In welch souveräner, ja überragender Manier dies bei der Gestaltung der Ostgiebelgruppe gelang, offenbart sich dem Betrachter, wenn er die Skulpturen eingehend betrachtet. Zunächst scheint alles wie gehabt: Wieder steht Athena im Zentrum des Bildes. Von ihr weg kämpfen abermals zwei griechische Heroen, von denen nur der rechte erhalten ist, der linke aber sicher ergänzt werden kann. Diese Vorkämpfer müssen in Analogie zu den Helden vom Westgiebel, Aias und Achill, als deren Väter Telamon und Peleus identifiziert werden. Ihre trojanischen Gegner sind auch hier bereits besiegt und brechen in die Knie, obwohl ihnen jeweils ein Kamerad helfend zur Seite springt – vergeblich.
Neben den zentralen Dreiergruppen kniet ein weiteres Mal je ein griechischer Bogenschütze, links nur fragmentarisch, rechts fast vollständig erhalten. Es scheint, als sei das Bildschema des Westgiebels getreu kopiert. Doch durch eine simpel wirkende Änderung kommt es zu einer kühnen Umwandlung der Komposition: Die Bogenschützen sind nicht mehr nach außen gewendet und erschießen auf kurze Distanz einen Gegner. Vielmehr haben sie über die Mitte hinweg ihren Feind in der gegenüberliegenden Ecke tödlich getroffen. Der erzielte Effekt könnte größer nicht sein. Zum einen wird auf diese Weise das Geschehen ganz im Sinn der Klassik realitätsnäher und damit ernsthafter und dramatischer, zum anderen werden die beiden Giebelhälften eng miteinander verklammert.
Ein Blick auf die inhaltliche Deutung des Bildes offenbart vollends die Meisterschaft dieses Entwurfs: Der nahezu unversehrte Bogenschütze rechts trägt einen Löwenskalp über dem Haupt. In ihm können wir Herakles erkennen. Mit einem gezielten Fernschuss tötet er den Frevler Laomedon. Dadurch wird er wie im Mythos zur Hauptperson der Handlung, ohne jedoch die Mitte des Giebelfeldes zu besetzen. Die Ehrenplätze neben Athena bleiben somit frei für die Ägineten Telamon und Peleus, die den Ruhm und den Rang der Insel Ägina eindrücklich vor Augen stellen sollen.
Quellen:
Texte und Grafiken: Mediaguide Glyptothek / Antike am Königsplatz (eigene App der Glyptothek)
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