1. Wie findet Schriftspracherwerb statt?

Grundlage dieser Ausführungen bildet eine Definition von Lernen, die besagt, dass sich der Lernende bestimmte Theorien zu Problemem "erfindet", diese anwendet, überprüft und gegebenenfalls neu formuliert. So nähert er sich dem objektiven Sachverhalt selbstständig, selbsttätig und selbstgesteuert immer weiter an. Sein Wissen wird in Strukturen organisiert, bei neuen Themen wird überprüft, ob vielleicht bereits Analogiebildungen möglich sind.
Ein Beispiel: Eine Kuh wird von einem Kleinkind als "Hund" oder "Wauwau" bezeichnet, da es in die Kategorie "Tier" gehört und vier Beine hat.
Lange Zeit ging man in der Didaktik des Schriftspracherwerbs von der sogenannten "Wortbildtheorie" aus. Kinder sollten durch Nachahmen und Üben sich möglichst schnell das korrekte Wortbild einprägen. Fehler - also falsche Wortbilder - wurden weitestgehend verbannt und gemieden. Alle falsch geschriebenen Wörer wurden korrigiert, damit nichts Falsches hängen bleibt.
Es stellt sich nun die Frage, warum Kinder, obwohl sie im Alltag fast ausschließlich die korrekten Schreibweisen zu Gesicht bekommen, nicht von Anfang an richtig schreiben können. Manche lernen es auch nie.
Seit etlichen Jahren wird auf dem Gebiet des Schriftspracherwerbs sehr viel geforscht und man ist zu der Erkenntnis gelangt, dass sich Schriftspracherwerb in Analogie zum Spracherwerb vollzieht.
Was bedeutet das?
Kleine Kinder bemächtigen sich ihrer Muttersprache (und manchmal gleichzeitig auch noch einer Zweitsprache) ohne jemals einen Lehrgang oder Unterricht erhalten zu haben. Sie sind zunächst in ein "Sprachbad" getaucht, hören und absorbieren immer und immer wieder diese Laute, bis sie feststellen, dass damit Sinn verbunden ist und man sich damit verständigen kann. Dann beginnen sie selbst, sich auszudrücken, das bisher Gelernte/Gehörte anzuwenden und zu testen, ob die für sie damit verbundenen Theorie richtig ist: "Bekomme ich den Ball, wenn ich darauf deute und "Ball" (oder etwas Ähnliches) sage?" Diese Regelbildungsprozesse laufen mit zunehmendem Alter auf höherem Niveau ab, manchmal kommt es auch als Folge einer Übergeneralisierung zu falschen Regeln. So benutzen Kinder Vergangenheitsformen, die sie nie so gehört haben (ich hang oder ich gehte), weil sie auf Grund ihrer Vorerfahrungen eine falsche Analogie bildeten. Dies ist aber keineswegs ein Grund, sie zu schimpfen oder zu lachen, denn es zeigt, dass ihre intellektuelle Entwicklung gut fortschreitet.
Obwohl bei Schuleintritt die Bandbreite der Erfahrungen mit Lesen und Schreiben um bis zu drei Entwicklungsjahre differieren können, verfügen alle Kinder zu Beginn des ersten Schuljahres bereits über eine vielfältige sprachliche Kompetenz. Ausnahmslos alle haben ihre Muttersprache selbstständig erlernt, können hören und verstehen, ihre Absichten äußern und werden von anderen verstanden.
Auf dem Weg, sich auch die Schriftsprache zu "erobern" müssen Kinder folgendes verstehen: Die Druckschrift und die lateinische Schreibschrift sind in unserem Kulturkreis übliche und festgelegte Zeichensysteme, bei denen eine Verbindung besteht zwischen den Lauten und den Zeichen. Aus diesen Zeichenketten kann beim Lesen Sinn entnommen bzw. beim Schreiben Sinn festgehalten werden. Außerdem gibt es Verabredungen über die Zeichenketten, die nicht immer den Lautfolgen entsprechen müssen.
Besteht man von Anfang an auf orthographischer Richtigkeit über Nachahmung, so kann das Rechtschreiben als Auswendiglernen von rechtschrifltichen Besonderheiten für den Schüler als riesiger Berg erscheinen, der in ihm eine große Hoffnungslosigkeit hervorruft: "Das lerne ich niemals!"
Sieht man den Schriftspracherwerb aber als erweiterten Spracherwerb und traut man den Kindern die Fähigkeit zu, sich die Schriftsprache mit denselben Kategorien anzueignen, so haben die Fehler der Kinder plötzlich eine ganz andere Dimension. Sie sind nicht mehr falsch eingeprägte Wortbilder, sondern sie sind Problemlösungsversuche und also Ausdruck höherer Denkleistungen. So kann anhand der "falschen" Verschriftungen der Stand der Lernentwicklung dokumentiert werden.
So gesehen ist Schriftspracherwerb auch ein höchst individueller Prozess, dem mit einem für alle gleichen Fibel-Lehrgang wenig gedient ist. Wie ich bereits oben erwähnte, können die Erfahrungs- und Lernentwicklungsstände am ersten Schultag um bis zu drei Jahre auseinander gehen. Bei gleichschrittigem Lernen wäre also nur das fiktive Durchschnittskind optimal bedient, alle anderen sind täglich über- bzw. unterfordert. Also ist es sinnvoll, auf einen individualisierten Anfangsunterricht zu setzen. Mit dem Schreiben von eigenen Texten von Beginn an bietet sich dem Schreiber die Möglichkeit, beim Verfassen des Textes sowohl über die Laut-Buchstaben-Beziehung als auch über die Struktur der Sätze nachzudenken und zu eigenen Lösungen zu kommen. Bei dieser Art von Unterricht kommt das Lesen quasi von selbst. Die Kinder bringen es sich selbst bei, wenn sie erstanden haben, wie die Laute und Buchstaben zueinander in Beziehung gesetzt werden. Viele Kolleginnen und Kollegen haben mit dieser Methode oder einer Mischform bereits sehr positive Erfahrungen gemacht.
Ich fasse zusammen: Die Aneignung der Schriftsprache erfolgt in immer komplizierter werdenden, eigenaktiven Prozessen von Hypothesenbildung, Überprüfung und Verbesserung. Jedes Kind geht dabei seinen eigenen Weg und braucht mehr oder weniger Zeit, je nach intellektuellen Voraussetzungen und Lernentwicklungsstand. Es bedarf individueller Förderung und Unterstützung und ich werde zeigen, wie der Computer dabei wirkungsvoll eingesetzt werden kann.