Freizeit – ihre Bedeutung und Auswirkung für Menschen mit basal-handlungsorientierter Lebensentwicklung und/oder eminenter Körperbehinderung

Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgangen sein, dass in jüngster Zeit in den Medien der Begriff der >Freizeit< und deren vielfältigsten individuellen Gestaltungsmöglichkeiten verstärkt in den gesellschaftlichen Vordergrund rücken.

Freizeit

Gleich vorweg möchte ich betonen, dass für mich die Bearbeitung des Themas Freizeit bei/für Menschen mit „Mehrfachbehinderung“ und/oder eminenter Körperbehinderung zunächst die neuerliche Auseinandersetzung mit dem Personenkreis und mit den Begriffen Zeit, Freizeit und Spiel impliziert.

Freizeit

Nachdenklich stimmt mich, dass man in der sonderpädagogischen Literatur eine Reihe von unterschiedlichen Bezeichnungen für den gleichen Personenkreis findet, so zum Beispiel schwerstbehindert, schwerstmehrfachbehindert, intensivbehindert, schwerstgeistigbehindert.
Darüber hinaus sind verschiedene Beschreibungsmodelle des Menschen „mit schwerer Behinderung“ bekannt.
Diese Bezeichnungen und Beschreibungen ziehen in der Regel – wie alle defekt- und defizitorientierten Zuschreibungen – anhaltende Diffamierungen und eine konsequente gesellschaftliche Ausgrenzung nach sich.

Menschen mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung ( derzeit: „schwerstmehrfachbehindert“, sogenannte „smB-Menschen“ ) erfahren, erfassen und gestalten ihr Leben unmittelbar an und mit ihrem Körper. Er ist die Grundlage, auf der auf der die betroffenen Menschen ihr Verständnis von sich selbst, von anderen Menschen, von Tieren, Pflanzen und Gegenständen, von Situationen und Zusammenhängen aufbauen. Hierfür nutzen sie – je nach individueller Gegebenheit – alle basalen Körpererfahrungen: Fühlend, schmeckend, riechend, sehend, hörend und greifend nehmen Menschen mit basal-handlungsorientierter Lebensentwicklung eigenaktiven und bewussten Kontakt zu ihrer körpernahen Umwelt auf. Die daraus erarbeiteten Er-/Kenntnisse und Fertigkeiten werden in ihrem Gedächtnis gespeichert und im Bedarfsfall abgerufen – über diesen Prozessablauf verfügen bekanntlich alle Menschen.


Freizeit

... ist eines der meist benutzten Hauptwörter der deutschen Sprache
... ist die Abfolge eines Geschehens, die im menschlichen Bewusstsein als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Entstehen und Vergehen der Dinge erfahren wird.

Tageszeit... Schulzeit... Unterrichtszeit... Arbeitszeit... Essenszeit... Sommerzeit... Freizeit...
Bei allen Zeit-Formen spielt es überhaupt keine Rolle, wie der Mensch ist, was er kann, um diese verschiedenen Abfolgen des Geschehens zu erfahren.


Freizeit

... als zweckfreie und selbstbestimmte Zeit
... als freie Zeit, die gestaltet werden kann, dient vor allem
• der Erholung und Entspannung
• zur Ablenkung und zum Spaß haben
• zur Bildung von Sozialkontakten und Findung von Kommunikationspartnern

Bei Menschen wird zwischen aktiver und passiver Erholung entschieden. Die passive Erholung erfolgt zum Beispiel im Schlaf, während die aktive Erholung zum Beispiel bei Freizeitaktivitäten oder Hobbys erfolgt.


In seiner freien Zeit widmet sich der Mensch oft
• seinen Freunden, seiner Familie und Dingen, die ihm Spaß und Freude bereiten
• Hobbys wie zum Beispiel dem Lesen, Sport treiben und Spielen
• Musik hören.....

Er nutzt also die freie Zeit für das, was ihm persönlich wichtig ist. Der Mensch entwickelt in der Freizeit Entscheidungs- und Handlungskompetenzen, um etwas auszuwählen ( Dinge / Tätigkeiten / Freizeitpartner ).

Spiel

..... Heckhausen hat die fünf Merkmale des Spieles für Kinder und Erwachsene genannt. Das grundlegende Spielmerkmal, nämlich die Zweckfreiheit des Spiels, steht in seiner Aufzählung an erster Stelle.
Spielen um des Spielen willen, aus Freude an der Tätigkeit und aus dem Bedürfnis heraus sich mit der Mit- und Umwelt auseinander zu setzen, gehören zu den elementaren Lebensäußerungen des Menschen.
Dies sollte uns allen immer bewusst sein.

Freude am Spiel, Spaß an der Tätigkeit und ein Zugewinn an Erfahrung kann gleichzeitig möglich sein. Im und durch das Spiel werden indirekt wichtige Erfahrungen gesammelt, die wiederum dazu beitragen die Um – Welt intuitiv neu zu erobern.

Im Spiel können kognitive, emotionale, kreative, soziale, kommunikative, motorische Kräfte / Fertigkeiten entwickelt werden.
Die aktive Auseinandersetzung mit sich, mit der Umwelt -> und folglich der Wirklichkeit ist in hohem Maße Motivation für die allgemeine Entwicklung des Individuums.



Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.

Friedrich von Schiller



Warum wird gespielt?

Spielen folgt der ursprünglichen Motivation des Kindes / des Menschen – unabhängig davon, ob die Person behindert ist – sich selbst zu erspüren, in Beziehung zu sich und der Um – Welt zu setzen und Zusammenhänge für das eigene Tun und das anderer zu erleben und darauf aufzubauen. Die Orientierung im Spiel ist auf (Weiter-) Entwicklung, Lernen wollen und somit auf Selbstständigkeit ausgerichtet.

Dies bedeutet, dass Freizeit und Spiel als Ausdruck von Selbstbestimmung und Selbstständigkeit einen großen Stellenwert inne haben.
Eine Behinderung zu haben, heißt noch lange nicht, dass man keine Angebote / keine Auswahl an Freizeitmöglichkeiten hat / bekommt.
Wo sich nicht behinderte Kinder von selbst mit Spielen oder anderen Freizeitaktivitäten beschäftigen können, bleibt für das Kind mit sogenannter Behinderung häufig nur Langeweile – würde es nicht Anregungen und Angebote zur Gestaltung seiner Freizeit ermöglicht bekommen.
Die Förderung und das geeignete Angebot von außen ( Eltern, Lebenswegbegleiter ) hat somit entscheidenden Einfluss auf das Spiel- und Freizeitverhalten des Menschen.

Als Basis aller Überlegungen – auch im Freizeitbereich – gilt stets die Frage „Warum soll der Mensch – und zwar jeder Einzelne – dieses Angebot für sein individuelles gegenwärtiges / zukünftiges Leben erfahren / erlernen?“

Freizeit

Anregungen zu Freizeit - / Beschäftigungs - / Spielmaterialien für Kinder ( ggfs. auch Jugendliche und Erwachsene ) mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung am Beispiel Mobiles

Unter dem Begriff > Mobiles < sind alle Materialien zusammenzufassen, die
- von der Zimmerdecke,
- von einer geeigneten ( standfesten, stabilen etc. ) Vorrichtung
abgehängt werden können.

Ein Mobile sollte einem Menschen mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung niemals permanent zur Verfügung stehen, da das Interesse daran sehr schnell nachlässt. Weiterhin ist es ungünstig, gleichzeitig zwei oder noch mehr Mobiles anzubieten – wir spielen auch nicht zur gleichen Zeit Skat und Doppelkopf!

Alle Materialien, aus denen Mobiles gefertigt werden, müssen
- ungiftig sein;
- so sicher verarbeitet / angebracht oder sonst wie präsentiert werden, dass sie nicht abgerissen werden können;
- so ausgewählt werden, dass sie in keiner Situation eine Verletzungsgefahr darstellen.

Vor allem sollten Mobiles so angefertigt werden, dass sie im spielfreudigen Nutzer Begeisterung und die Absicht auslösen, sich intensiv, ausdauernd und mit erkennbarem Spaßempfinden auf die Beschäftigung mit dem Mobile einzulassen.

Schlussendlich gilt es, dem jeweiligen Nutzer nicht einfach irgendein Mobile anzubieten:
Aus der umfangreichen Palette der problemlos selbst herstellbaren Mobiles müssen einige ausgewählt werden, an denen der Nutzer Freude hat und bei deren Erarbeitung / Herstellung er soweit als möglich aktiv mit einbezogen werden kann .
Hierzu sollte auf die möglicherweise bekannten Vorlieben ( für Farbe, taktile Struktur, haptische Gegebenheiten, akustische / olfaktorische Erlebnismöglichkeiten usw. von Materialien ) des Nutzers zurückgegriffen werden. Höchstwahrscheinlich müssen derartige Informationen ( nach dem Prinzip > Versuch und Irrtum < ) ermittelt werden.
Dabei ist es nicht erforderlich, bereits vollständige Mobiles herzustellen – es genügt durchaus festzustellen, ob sich der zukünftige Nutzer von einem Material positiv angesprochen fühlt und bereits bei der bloßen Präsentation dieses Materials begeistert zeigt.

Der besondere, eine Spielfreude auslösende Aufforderungscharakter von Mobile – Materialien zeigt sich in ihren spezifischen Erfahrungselementen

• beim Fühlen ( weich, hart, glatt, rau, kühl, warm usw. )
• beim Greifen ( beweglich, statisch, leicht, schwer )
• beim Hören ( klingeln, klappern, knistern etc. )
• beim Sehen ( farbig, glänzend, mit Spiegeleffekt )
• beim Riechen ( Eigengeruch von Materialien, fremdaromatisierte Materialien ).

Der Umgang mit dem ausgewählten und angebotenen Material hat zur Folge, dass sich der Nutzer orientiert, entscheidet, eigenaktiv wird und vielfältige Erfahrungen sammelt.

Beispiele aus der Praxis

-->3 cm breite, lange ( Meterware auf Rollen ), metallisch glitzernde ( dadurch mit leichtem Spiegeleffekt ausgestattete ) Kunststoffstreifen – wenn gewünscht in verschiedenen Farben oder auch in Ton – in – Ton variierenden Farbtönen der Lieblingsfarbe eines Nutzers.
Die Kunststoffstreifen können mit bloßen Händen nicht zerrissen werden, sie sind nicht giftig und können auch nicht zerbissen werden ( sollte ein Nutzer sie in den Mund nehmen, kann man sie – einzeln oder en bloc – mühelos abwaschen ).
Die Kunststoffstreifen können über eine dünne, stabile Rolle ( einen Holz- / Bambusstab, eine nicht mehr benötigte Gardinenstange, einen Bügel usw. ) gelegt und absolut rutschfest und gegen ein vollständiges Abtrennen gesichert befestigt werden.

Das Mobile sollte dem spielfreudigen Nutzer so nahe wie möglich angeboten werden, so dass er das Spielobjekt bequem erreichen kann. Andererseits sollte die räumliche Präsentation die Möglichkeit gewährleisten, dass der Nutzer sich von den Streifen nicht belästigt fühlt und sich von dem Spiel lösen kann, wenn er eine Pause einlegen oder das Spiel gänzlich beenden möchte.

-->Unzerreißbare, durchsichtige ( und daher auch nur schwer erkennbare ) Perlonschnüre werden in (un)regelmäßigen Abständen mit Gegenständen bestückt, die beim Nutzer Spielaktivitäten auslösen – hierfür eignen sich vor allem Dinge, mit denen der Spielende Töne / Geräusche produzieren kann. Diese Töne / Geräusche sollten ihn ( und selbstverständlich auch seine soziale Umwelt! ) erfreuen und keinesfalls belästigen – dies sollte für den gesamten Zeitraum gelten, innerhalb dessen der Mensch das Spielangebot nutzen möchte.

Freizeit
Basierend auf den entwicklungstheoretischen Erkenntnissen können die Mobiles
-->eine Möglichkeit zur eigenen Entscheidung in den verschiedensten Freizeit- / Beschäftigungs- und Spielsituationen bieten
-->eine zunehmende Selbsttätigkeit und -> damit verbundene Selbstbestimmung und
-->eine Zunahme des Aktivitätsbedürfnisses fördern.

Bei Menschen mit basal-handlungsorientierter Lebensentwicklung können mit dem Angebot eines Mobiles in Alltagssituationen die Interessen und Möglichkeiten bezüglich der Wahrnehmung, dem Erfassen von einfachen Zusammenhängen, lautsprachliche Äußerungen ( bei Gefallen / bei Nichtgefallen) und Handlungs-repertoire geweckt und erweitert werden.

Durch die Positionierung der betreffenden Person in adäquaten Lagerungsmöglich-keiten, wie Knautschsack, Hängematte, Lagerungskeil... können die Mobiles aus verschiedenen Perspektiven heraus wahr genommen werden.
Vom Prinzip Zufall kann der beeinträchtigte Mensch hin zu gezielten Spielmöglichkeiten gelangen.
Bei zusätzlichen motorischen Einschränkungen kann sich der Einsatz von Sensoren in Zusammenhang mit Umweltsteuergeräten als sehr erfolgreich zeigen: der regelmäßige und behutsame Einsatz eines Round Pads und eines Einfachschaltgerätes / Netzschaltadapters oder des Powerlink kann dahin gehend eingesetzt werden, dass der Nutzer des Mobiles mit Hilfe eines Ventilators dann das Mobile selbstständig bewegen kann. Die Ansteuerung und das Auslösen kann mit einem Körperteil - welcher am besten einsetzbar ist und bei dem die betreffende Person die geringste Kraft aufwenden muss – erfolgen.
-> Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung wird erfahrbar.
-> Eine aktive Teilnahme an Gruppenaktivitäten wird möglich.
-> Das selbstständige An- und Ausschalten ist möglich, ohne auf Assistenz angewiesen zu sein ( Spieldauer selbst entscheiden ).

Abschließende Bemerkung:

Das elementare Spiel mit seinen verschiedenen Spielformen ist als Handlungsfeld zu verstehen.
Das körperbezogene Spiel ( z.B. geschaukelt werden, Fingerspiele ) hat ebenso wie das personenbezogene Spiel ( z.B. auch andere Menschen beobachten, einfache Bewegungsspiele ) für alle Menschen zunächst einen großen Stellenwert.
Mit dem Angebot des Mobiles wird ein Handlungsfeld im Rahmen des objektbezogenen Spieles geschaffen, in welchem der Mensch in einer lebensnahen Situation seine vielfältigen Kompetenzen, größtmögliche Eigenaktivität und Ressourcen entwickeln kann -> um aktuelle ( -> und zukünftige ) Teilhabemöglichkeiten erschließen und erweitern zu können. Er wird durch die Freizeit-Anregung Mobile vom beobachtenden zum aktiv handelnden Spieler.

Es ist notwendig auf dem Hintergrund der genauen Kenntnis der individuellen Möglichkeiten des einzelnen Menschen Aktivitätsangebote zur Gestaltung von Freizeit anzubieten.
Der Einsatz verschiedener Kommunikationshilfsmittel kann hier darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Aktivitäten im Freizeitbereich – zu Gunsten der Selbstbestimmung – darstellen:
• Netz-Schaltadapter und Jelly-Bean -> Radio an- und ausstellen, Lieblingsmusik hören, Dauer bestimmen; elektrische Zug fahren lassen....
• Power-Link / Jelly-Bean und Fön / Ventilator -> Pustebilder gestalten
• Maus-und Tastatursimulator ( KIM ) und Sensoren -> am PC vor- und zurückblättern, Fotos auswählen zum Einkleben in die Kommunikationstagebücher...
• ....

Eine Steigerung der Aktivierungsphase kann durch Wiederholung mit leichten Variationsabweichungen ermöglicht werden.
Ziel könnte sein, diese in freien Zeiten erworbenen Funktionen und Fertigkeiten dauerhaft und in verschiedenen Situationen verfügbar zu machen und gegebenenfalls antizipatorisch -> Transferleistungen zu erbringen.

Bei der Intensität der Auseinandersetzung mit den Anregungen im Freizeitbereich benötigt man ein enormes Maß an Geduld, Zeit und Sensibilität für und Respekt vor dem Menschen mit basal – handlungsorientierter Lebensentwicklung.
Ein Höchstmaß an Wiederholung, häufigen Auswahl- und Entscheidungs-möglichkeiten ist erforderlich, um dem Menschen in seiner sogenannten freien Zeit die optimale Möglichkeit sozialer und kommunikativer Teilhabe ( Inklusion ) und selbstbestimmten Handelns zu ermöglichen.




Literatur:
• Schäffer, F. (2003): Eine persönliche Erklärung, in : Sonderpädagogische Förderung
• Oerter, R. (1997): Psychologie des Spiels
• Wikipedia – Die freie Enzyklopädie



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