Senecas Sprache
Bei der Übersetzung von Seneca-Texten kann man auf folgende „Stolpersteine“ treffen:
1.) Gebrauch der Pronomina
a.) Ein Pronomen verweist auf einen folgenden a.c.i. oder Gliedsatz.
Liquere hoc tibi, Lucili, scio, neminem posse beate vivere ... sine sapientiae studio.
Ich weiß, dass dir klar ist, mein Lucilius, dass niemand glücklich leben kann ... ohne Bemühung um Weisheit (ep. 16,1).
Plus operis est in eo, ut proposita custodias.
Mehr Mühe liegt darin, dass du die Vorsätze einhältst (ep. 16, 1).
In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus. (ep. 1, 2)
Darin täuschen wir uns nämlich, dass wir den Tod vor uns sehen.
b.) Es ist genau abzuklären, worauf sich ein Pronomen bezieht.
Philosophia ... sola somnum excutiet gravem: illi te totum dedica.
Nur die Philosophie wird schweren Schlaf vertreiben. Jener widme dich ganz (ep. 53, 8) .
c.) Manchmal wird das Demonstrativpronomen, vom dem ein Relativsatz abhängt, ausgelassen (Vergleiche Nr.2 a).
Et tanta stultitia mortalium est, ut <ea>, quae minima et vilissima sunt, ... imputari sibi ... patiantur.
Und so groß ist die Dummheit der Menschen, dass sie sich das, was sehr gering und sehr wertlos ist, in Rechnung stellen lassen (ep. 1, 3).
2.) Relativsatz
a.) Relativsatz als Subjekt oder Objekt. In den beiden folgenden Beispielen gibt es kein Bezugswort zum Relativsatz.
Qui imperia libens excipit, partem acerbissimam servitutis effugit. (ep. 61,3)
Wer Befehle willig entgegennimmt, entgeht der schlimmsten Seite der Sklaverei.
Desinamus, quod voluimus, velle! (ep. 61,1)
Hören wir auf, das zu wollen, was wir gewollt haben!
b.) Verschränkter Relativsatz
Prodest ... habere, quem interesse cogitationibus tuis iudices. (ep. 25, 5)
Es ist nützlich, jemanden zu haben, der deiner Meinung nach an deinen Gedanken Anteil nimmt.
Quod vides accidere pueris, hoc nobis quoque ... evenit. (ep. 24, 13)
Was, wie du siehst, den Jungen geschieht, geschieht auch uns.
3.) Substantivierungen
a.) Substantivierte Adjektive, meist Neutrum Plural
Illis (=posteris, d.h. der Nachwelt, den Späteren) aliqua, quae possint prodesse, conscribo.
Für sie schreibe ich manches auf, das nützen kann (ep. 8,2) .
Qui nihil agere videntur, maiora agunt: humana divinaque simul tractant.
Diejenigen, die nichts zu tun scheinen, vollbringen in Wirklichkeit Größeres: Mit Menschlichem und Göttlichem befassen sie sich zugleich (ep., 8,6).
Achtung auf Kongruenz: Aus dem lateinischen Plural wird bei dieser Wiedergabe im Deutschen Singular.
b.) Substantivierte Partizipien
Magna pars vitae elabitur male agentibus.
Ein großer Teil des Lebens entgleitet denen, die schlecht handeln. (ep.1,1)
Praecipiemus, ut (homo) ... erranti viam monstret?
Werden wir lehren, dass er (der Mensch) dem Umherirrenden den Weg zeigen soll? (ep. 95, 51)
4.) Prädikat + Prädikat im Konjunktiv
Bisweilen kommen zwei Prädikate nebeneinander vor, von denen eines im Konjunktiv steht.
Malo serves tua.
Ich will, dass du dich um deine Angelegenheiten kümmerst. (ep. 1,5)
In rem praesentem venias oportet.
Es ist nötig, dass du dich auf die Gegenwart besinnst. (ep. 6,5)
Tu quoque idem facias volo. (ep. 16,2). Ich möchte, dass auch du dasselbe machst.
Das Prädikat im Konjunktiv ist durch ein zu ergänzendes „ut“ zu erklären, welches Seneca aber auslässt.
licet + Gliedsatz im Konjunktiv wird im Deutschen mit den Ausdrücken „mag auch, wenn auch“ wiedergegeben.
Nec me ulla res delectabit, licet sit eximia et salutaris.
Und mich wird keine Sache erfreuen, mag sie auch außerordentlich und heilsam sein. (ep. 6,4)
5.) Genitiv
a.) Gebrauch des Genitivus partitivus
- magna pars vitae elabitur (ep. 1,1). Ein großer Teil des Lebens entgleitet...
- quidquid aetatis (ep. 1,2). jeder Lebensabschnitt
- ne multum operae impendas (ep. 6,5). ...damit du nicht viel Mühe aufwendest.
Genitivus partitivus im Arbeitsblatt Kasuslehre
b.) Genitivus possessivus/proprietatis bei unpersönlichem esse
Artificis est clusisse totum in exiguo.
Es ist Aufgabe / Pflicht / Sache eines Künstlers, das Ganze in engem Raum einzuschließen. (bei Personen im Gen.) (ep. 53, 11)
Stultitiae est ... – Es ist ein Zeichen von ... / Es verrät ... (bei Abstrakta im Gen.)
Genitivus proprietatis im Arbeitsblatt Kasuslehre
6.) Imperative
a.) Imperativ Singular der Deponentien
complectere (ep. 1,2) - umarme!
Signal: –re (Nicht verwechseln mit Infinitiv Präsens Aktiv!)
b.) Imperativ II
Neben den bekannten Impterativen (habe! habete!) findet man auch den Imperativ II.
Illud autem ante omnia memento, demere rebus tumultum.
Du sollst vor allem daran denken, den Dingen ihre Aufregung zu nehmen. (ep. 24,12)
7.) „nisi“ + Verneinung
Nihil feras ad nocendum nisi necessitas incitat.
Die wilden Tiere treibt nur Not dazu zu schaden. (ep. 103, 2)
8.) Parallelismus
Vor der Übersetzung ist bei längeren Satzperioden sorgfältig der Aufbau zu analysieren. Bei parallelem Satzbau spart Seneca gerne Wörter ein, so dass die Bezüge genau beachtet werden müssen.
Liquere hoc tibi ...scio .. beatam vitam perfecta spaientia effici, ceterum tolerabilem etiam inchoata.
Ich weiß, dass es dir klar ist, dass glückliches Leben durch vollkommene Weisheit erlangt wird, ein erträgliches aber auch durch begonnene Weisheit. (ep. 16, 1)
9.) Gedankenführung
a.) Seneca reiht seine Gedanken aneinander wie Glieder einer Perlenkette.
Quis est ergo hic animus? Qui nullo bono nisi suo nitet. Quid enim est stultius, quam in homine aliena laudare? Quid eo dementius, qui ...
Was also ist dieser Geist? Es ist der, der nur durch sein eigenes Gut glänzt. Was ist nämlich dümmer, als beim Menschen etwas zu loben, das ihm fremd ist? Was ist unsinniger als einer, der... (ep. 41,6)
b.) Der Hauptgedanke wird durch zahlreiche Beispiele (meist aus dem Alltagsleben) erläutert.
Non faciunt meliorem equum aurei freni. Aliter leo aurata iuba ... aliter incultus <leo>...
Vitem laudamus, si fructu palmites onerat ... in homine quoque id laudandum est, quod ...
Goldene Zügel machen ein Pferd nicht besser. Ein Löwe mit vergoldeter Mähne ist anders als ein ungezähmter...
Wir loben den Weinstock, wenn er die Zweige mit Früchten belastet... Beim Menschen ist dies zu loben, dass... . (ep. 41, 6-8)
c.) Derselbe Gedanke wird in Varianten wiederholt, um ihn dem Leser 'einzuhämmern'.
6. Brief: Idee des gemeinsamens Philosophierens, z.B. § 2, tecum communicare, § 3, omnia habere communia, § 4, in te ... transfundere, § 5, et viva vox et convictus, § 6, plurimum enim alter alteri conferemus
d.) Dasselbe Wort kann innerhalb eines Gedankengangs in seiner ursprünglichen und in übertragener Bedeutung gebraucht werden.
44. Brief: nobilis (äußerer Adel / sozialer Stand, innerer Adel / edle Art), libertas (äußere und innere Freiheit). 44. Brief in der Lateinischen Bibliothek.
e.) interlocutor fictus (fiktiver Gesprächspartner)
Um seine philosophischen Darlegungen aufzulockern, lässt Seneca einen fiktiven Gesprächspartner das Wort ergreifen, der z.B. Seneca Fragen stellt.
Dicet aliquis: „Quid mihi prodest philosophia, si fatum est?“
Es wird jemand sagen: "Was nützt mir die Philosophie, wenn es ein Schicksal gibt?" (ep. 16, 4)
f.) weitere häufige Gedankenfiguren: Antithese, Paradoxon, Pointe, Sentenz
10.) Weitere grammatische Vorlieben
Außerdem empfiehlt es sich für die Übersetzung von Seneca-Texten folgende Grammatikkapitel zu wiederholen:
- konjunktivischer Relativsatz mit Nebensinn - zum Kapitel konjunktivische Relativsätze im Bereich Satzlehre
- Konjunktiv im Hauptsatz, u.a. Potentialis
- unterschiedlicher Modusgebrauch im Lateinischen und Deutschen
- -nd-Formen (Gerundium und Gerundivum) - zum Arbeitsblatt -nd-Formen im Bereich Satzlehre
- Partizip Futur Aktiv
- Indefinita
Diese Übersicht wurde dem Landesbildungsserver von Volker Mayer zur Verfügung gestellt.