Cicero, De Officiis 3, 46 – 49: Über den gerechten Krieg, Teil 2Mit Übersetzung |
Über den gerechten Krieg: Sind Grausamkeit und Lüge im Krieg erlaubt, wenn sie doch nützlich scheinen?
Im dritten Buch seiner Schrift De Officiis (Über die Pflichten) behandelt Cicero den Wertekonflikt zwischen dem Nutzen und dem Ehrenhaften. Er untersucht hier derartige Konflikte im Kriegsfall und kommt auch auf die Frage zu sprechen, ob Grausamkeit akzeptabel sein kann (3, 46). In 3, 47 erörtert er die Behandlung von Fremden, um dann abschließend auch die Frage aufzuwerfen, ob eine ehrlose, aber nützlich erscheinende Kapitulation richtig sein kann.
Es gibt auch eine Version dieser Textstelle ohne Übersetzung, aber mit Übersetzungshilfen.
Fortsetzung von De officiis 1, 34 – 39
Dieser Textauszug ist zugleich Teil der Textsammlung aus Ciceros Werk De officiis (Textsammlung: De officiis) und Teil des Lektüreprojekts bellum iustum - der gerechte Krieg (Textsammlung: bellum iustum). Hierzu gibt es auch eine aktuelle Linksammlung.
Am Ende dieses Textes finden Sie Interpretationsfragen.
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[De officiis 3, 46] Cum igitur id, quod utile videtur in amicitia, cum eo, quod honestum est, comparatur, iaceat utilitatis species, valeat honestas. |
Wenn man das, was an der Freundschaft nützlich erscheint, mit dem, was ehrenhaft ist, vergleicht, dann soll der Begriff der Nützlichkeit einen geringen Wert bekommen, aber die Ehrenhaftigkeit soll den Vorrang erhalten. |
Cum autem in amicitia, quae honesta non sunt, postulabuntur, religio et fides anteponatur amicitiae. […] |
Wenn aber in einer Freundschaft Dinge gefordert werden, die nicht ehrenhaft sind, dann sollen die richtige Einstellung zur Religion und die Pflichttreue der Freundschaft vorgezogen werden. |
Sed utilitatis specie in republica saepissime peccatur, ut in Corinthi disturbatione nostri; |
Aber im Staat werden unter dem Anschein der Nützlichkeit sehr häufig Fehler gemacht, wie es unsere Leute bei der Zerstörung Korinths gemacht haben; KommentarKommentarCorinthi: Cicero spielt hier auf die vollständige Zerstörung Korinths durch die Römer im Jahr 146 v. Chr. an. Korinth hatte sich nach dem zweiten makedonischen Krieg dem Widerstand gegen Rom angeschlossen. Siehe Tabelle zur römischen Geschichte. |
durius etiam Athenienses, qui sciverunt, ut Aeginetis, qui classe valebant, pollices praeciderentur. |
noch härter gingen sogar die Athener vor, die beschlossen, den Einwohnern von Aegina, die eine mächtige Flotte besaßen, die Daumen abzuhacken. KommentarKommentarDie Athener hatten die Bewohner der griechischen Stadt Aigina (lat. Aegina) 431 v. Chr. versklavt, nachdem sie sie besiegt hatten. Wenn sie die Daumen verloren hatten, konnten sie nicht mehr rudern, d. h. ihre Kriegsschiffe nicht mehr verwenden. |
Hoc visum est utile; nimis enim imminebat propter propinquitatem Aegina Piraeo. |
Dies erschien nützlich, denn Aegina war wegen der unmittelbaren Nachbarschaft zum Piräus allzu bedrohlich. KommentarKommentarPiraeus: Halbinsel bei Athen, auf der der athenische Hafen angelegt war. |
Sed nihil, quod crudele, utile; est enim hominum naturae, quam sequi debemus, maxima inimica crudelitas. |
Aber nichts, was grausam ist, ist nützlich; der Natur der Menschen, an der wir uns orientieren müssen, ist nämlich die Grausamkeit im höchsten Maße feindlich. |
[De officiis 3, 47] Male etiam, qui peregrinos urbibus uti prohibent eosque exterminant, ut Pennus apud patres nostros, Papius nuper. |
Schlecht handeln auch diejenigen, die die Fremden daran hindern, sich in den Städten aufzuhalten, und sie vertreiben, wie Pennus bei unseren Vorfahren und neulich Papius. KommentarKommentarPennus: Volkstribun 146 v. Chr.; C. Papius: Volkstribun 65 v. Chr. |
Nam esse pro cive, qui civis non sit, rectum est non licere, quam legem tulerunt sapientissimi consules Crassus et Scaevola. Usu vero urbis prohibere peregrinos sane inhumanum est. |
Denn dass jemand als Bürger gilt, obwohl er es nicht ist, dass wird zu Recht nicht zugelassen – ein Gesetz, das die sehr weisen Konsuln Crassus und Scaevola eingebracht haben. KommentarKommentarCrassus et Scaevola: Cicero spielt hier auf ein Gesetz aus dem Jahr 95 v. Chr. an. Den Fremden aber den Aufenthalt in der Stadt zu verwehren, das ist wirklich unmenschlich. |
Plena exemplorum est nostra res publica cum saepe, tum maxime bello Punico secundo, quae Cannensi calamitate accepta maiores animos habuit quam umquam rebus secundis; nulla timoris significatio, nulla mentio pacis. Tanta vis est honesti, ut speciem utilitatis obscuret. |
Voll von Beispielen ist unser Staat, zum einen ganz allgemein, im Besonderen aber im Zweiten Punischen Krieg. Der Staat hat nach der Niederlage bei Cannae mehr Mut gesehen als jemals unter besseren Umständen; es gab kein Zeichen von Angst, keine Erwähnung einer Kapitulation. So groß ist die Kraft des Ehrenhaften, dass sie den Schein des Nutzens verdunkelt. |
Lüge und Betrug im Krieg
Im nächsten Abschnitt gibt Cicero weitere Beispiele für den Konflikt zwischen dem Nützlichen und dem Ehrenhaften. Konkret untersucht er die Frage, ob Lüge und Täuschung im Krieg erlaubt sind.
Cicero bezieht sich im folgenden Abschnitt auf die Perserkriege am Anfang des 5. Jh. v. Chr. Siehe hierzu Informationen bei Lernhelfer (Duden-Verlag) und bei der Wikipedia.
[De officiis 3, 48] Athenienses cum Persarum impetum nullo modo possent sustinere statuerentque, ut urbe relicta, coniugibus et liberis Troezene depositis, naves conscenderent libertatemque Graeciae classe defenderent, Cyrsilum quendam suadentem, ut in urbe manerent Xerxemque reciperent, lapidibus obruerunt. Atque ille utilitatem sequi videbatur, sed ea nulla erat repugnante honestate. |
Als die Athener dem Angriff der Perser auf keine Weise standhalten konnten, da beschlossen sie, dass sie erst die Stadt verlassen und die Frauen und Kinder in Troizen in Sicherheit bringen, dann ihre Schiffe besteigen und die Freiheit Griechenlands mit ihrer Flotte verteidigen. Als ein gewisser Kyrsilos ihnen riet, dass sie in der Stadt bleiben sollten und den Xerxes freundlich aufnehmen sollten, da haben sie ihn gesteinigt. Dabei schien jener sich am Nutzen zu orientieren, aber dieser Nutzen war überhaupt keiner, da er der Ehrenhaftigkeit widersprach.
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[49] Themistocles post victoriam eius belli, quod cum Persis fuit, dixit in contione se habere consilium rei publicae salutare, sed id sciri non opus esse; postulavit, ut aliquem populus daret, quicum communicaret; datus est Aristides. |
Themistokles sagte nach dem Sieg in diesem Krieg, der gegen die Perser geführt wurde, in einer Versammlung, dass er einen Plan habe, der für den Staat nützlich sei, aber dieser dürfe nicht bekannt werden. Er forderte, dass das Volk ihm jemanden nennen solle, mit dem er sich darüber austauschen könne. Ihm wurde Aristides genannt. |
Huic ille, classem Lacedaemoniorum, quae subducta esset ad Gytheum, clam incendi posse, quo facto frangi Lacedaemoniorum opes necesse esset. |
Diesem sagte er, dass die Flotte der Spartaner, die bei Gytheon an Land gezogen worden war, heimlich in Brand gesetzt werden könne. Dadurch würde die Macht der Spartaner notwendig gebrochen. |
Quod Aristides cum audisset, in contionem magna exspectatione venit dixitque perutile esse consilium, quod Themistocles adferret, sed minime honestum. Itaque Athenienses, quod honestum non esset, id ne utile quidem putaverunt |
Als Aristides dies gehört hatte, trat er unter großer allgemeiner Erwartung vor die Volksversammlung und sagte, der Plan, den Themistokles vorgetragen habe, sei äußerst nützlich, aber keinesfalls ehrenhaft. Deshalb meinten die Athener, dass das, was nicht ehrenhaft ist, auch nicht nützlich sei, und sie lehnten diese ganze Sache, die sie nicht einmal gehört hatten, auf Antrag des Aristides ab. |
Melius hi quam nos, qui piratas immunes, socios vectigales habemus. Maneat ergo, quod turpe sit, id numquam esse utile, ne tum quidem, cum id, quod utile esse putes, adipiscare. Hoc enim ipsum – utile putare, quod turpe sit – calamitosum est. |
Besser gehandelt haben diese als wir, die wir die Piraten nicht bestraft haben, aber die Bundesgenossen mit Steuern belegten. Bestand haben soll also der Grundsatz, dass das, was moralisch verwerflich ist, niemals nützlich ist, nicht einmal dann, wenn man das, was man für nützlich hält, erlangen kann, denn eben dies, etwas für nützlich zu halten, was moralisch verwerflich ist, ist schädlich. |
Interpretationsfragen
- Fassen Sie die Aussagen des Textes über das Verhältnis von Nutzen und Sittlichkeit bzw. Moralität zusammen.
- Arbeiten Sie die Aussagen zum Thema Krieg heraus.
- Untersuchen Sie, was der Autor zu den Begriffen Freiheit (libertas) und Grausamkeit (crudelitas) sagt.
- Erörtern Sie, ob die Aussagen dieses Textes eine überzeitliche, also auch für heute geltende Bedeutung haben. Über die aktuelle Diskussion zum Thema gerechter Krieg und humanitäre Intervention können Sie sich anhand der Linksammlung orientieren.
Weiter mit De officiis 3, 74 – 78: Der gutgesinnte, ehrliche Mann
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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