Das Paradox des Euathlos (Gellius, Noctes Atticae 5, 10)
Der Schriftsteller Aulus Gellius gibt in diesem Text aus den Noctes Atticae ein Paradox wieder, das in der Philosophie bis heute diskutiert wird.
Fragen zur Diskussion und Literaturhinweise stehen am Ende des Dokuments.
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Lateinischer Text mit Übersetzung
De argumentis, quae Graece ἀντιστρέφοντα (antistrephonta) appellantur, a nobis „reciproca” dici possunt. |
Über die Argumente, die auf Griechisch ἀντιστρέφοντα (antistrephonta, dt. Umkehrschluss), von uns „Umkehrung“ genannt werden können. |
Inter vitia argumentorum longe maximum esse vitium videtur, quae ἀντιστρέφοντα (antistrephonta) Graeci dicunt. Ea quidam e nostris non hercle nimis absurde „reciproca” appellaverunt.
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Unter den Fehlern der Argumente scheint bei weitem der schwerwiegendste der zu sein, den die Griechen ἀντιστρέφοντα (antistrephonta) nennen. Diese Schlussformen nannten einige von unseren Autoren, beim Herkules, nicht allzu abwegig „rückwirkender Schluss”. |
Id autem vitium accidit hoc modo, cum argumentum propositum referri contra convertique in eum potest, a quo dictum est, et utrimque pariter valet; quale est pervolgatum illud, quo Protagoram, sophistarum acerrimum, usum esse ferunt adversus Euathlum, discipulum suum.
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Dieser Fehler tritt dann auf, wenn ein vorgetragenes Argument umgedreht und gegen den gewandt werden kann, von dem es aufgestellt wurde, und dann beides gleichermaßen gilt. Ein bestimmter Schluss dieser Art ist sehr bekannt, und zwar jener, den ProtagorasProtagorasDer griechische Philosoph Protagoras lebte von ca. 485 v. Chr. bis ca. 415 v. Chr. Er gilt als einer der Begründer der sophistischen Lehre. Die Sophisten waren wandernde Lehrer, die jungen Männern Methoden des Denkens und der Wissenschaft beibringen wollten. Sie wurden von ihrer Mitwelt und auch der Nachwelt oft als prinzipienlos und spitzfindig dargestellt.
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Lis namque inter eos et controversia super pacta mercede. Haec fuit:
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Es gab nämlich einen Streit zwischen ihnen und eine Kontroverse über einen vereinbarten Lohn. Dies ist die Geschichte: |
Euathlus, adulescens dives, eloquentiae discendae causarumque orandi cupiens fuit. Is in disciplinam Protagorae sese dedit daturumque promisit mercedem grandem pecuniam, quantam Protagoras petiverat, dimidiumque eius dedit iam tunc statim, priusquam disceret, pepigitque, ut relicum dimidium daret, quo primo die causam apud iudices orasset et vicisset. |
Euathlos, ein reicher junger Mann, wollte die Redelehre und die Juristerei lernen. Er nahm bei Protagoras Unterricht und versprach als Honorar eine erhebliche Geldsumme, so viel, wie Protagoras gefordert hatte: Die Hälfte davon gab er sogleich, bevor er den Unterricht aufnahm, und er vereinbarte mit ihm, dass er die zweite Hälfte des Honorars an dem Tag abliefern werde, an dem er in einem Prozess vor Gericht aufgetreten wäre und diesen Prozess gewonnen hätte. |
Postea cum diutule auditor adsectatorque Protagorae fuisset et in studio quidem facundiae abunde promovisset, causas tamen non reciperet tempusque iam longum transcurreret et facere id videretur, ne relicum mercedis daret, capit consilium Protagoras, ut tum existimabat, astutum: Petere institit ex pacto mercedem, litem cum Euathlo contestatur.
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Als er später eine Weile als Hörer und Lernender bei Protagoras gewesen war und in der Redefähigkeit recht weit gekommen war, dennoch keinen Prozess aufnahm und schon eine lange Zeit verflossen war und es so aussah, dass er den Rest des Honorars nicht begleichen würde, da fasste Protagoras einen, wie er damals meinte, schlauen Entschluss: Er beschloss, das Honorar gemäß dem Vertrag zu fordern, und ging gegen Euathlos vor Gericht. |
Et cum ad iudices coniciendae consistendaeque causae gratia venissent, tum Protagoras sic exorsus est:
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Und als sie vor die Richter traten, um den Prozess zu verhandeln und entscheiden zu lassen, da sprach Protagoras folgendermaßen: |
„Disce”, inquit „stultissime adulescens, utroque id modo fore, uti reddas, quod peto, sive contra te pronuntiatum erit sive pro te. Nam si contra te lis data erit, merces mihi ex sententia debebitur, quia ego vicero; sin vero secundum te iudicatum erit, merces mihi ex pacto debebitur, quia tu viceris.”
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„Nimm zur Kenntnis, dummer Junge, dass in beiden Fällen der Fall eintreten wird, dass du mir das, was ich fordere, geben musst, ganz gleich, ob man für oder gegen dich entscheiden wird. Denn wenn der Prozess zu deinen Ungunsten ausgeht, dann steht mir das Geld nach dem Vertrag zu, weil ich gesiegt habe. Wenn aber zu deinen Gunsten entschieden wird, dann steht mir das Geld nach dem Vertrag zu, weil du gesiegt hast.“ |
Ad ea respondit Euathlus: |
Darauf antwortete Euathlos: |
„Potui”, inquit „huic tuae tam ancipiti captioni isse obviam, si verba non ipse facerem atque alio patrono uterer. Sed maius mihi in ista victoria prolubium est, cum te non in causa tantum, sed in argumento quoque isto vinco. |
„Ich hätte deinem derart doppeldeutigen Trugschluss entgegentreten können, indem ich nicht selbst hier vorgetragen hätte, sondern mich der Dienste eines Anwalts bedient hätte. Aber ich habe größeren Spaß an diesem Sieg, wenn ich dich nicht nur im Prozess, sondern auch im Argumentationsgang besiege. |
Disce igitur tu quoque, magister sapientissime, utroque modo fore, uti non reddam, quod petis, sive contra me pronuntiatum fuerit sive pro me. Nam si iudices pro causa mea senserint, nihil tibi ex sententia debebitur, quia ego vicero; sin contra me pronuntiaverint, nihil tibi ex pacto debebo, quia non vicero.”
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Nimm daher zur Kenntnis, weisester Lehrer, dass in beiden Fällen der Fall eintreten wird, dass ich dir das Geforderte nicht zurückgebe, ganz gleich, ob der Prozess gegen oder für mich ausgeht. Denn wenn die Richter in meinem Sinne entscheiden, dann schulde ich dir aufgrund des Gerichtsurteils nichts, weil ich gesiegt haben werde. Wenn sie aber gegen mich entscheiden, dann werde ich dir gemäß dem Vertrag nichts schulden, weil ich nicht gesiegt haben werde.“ |
Tum iudices dubiosum hoc inexplicabileque esse, quod utrimque dicebatur, rati, ne sententia sua, utramcumque in partem dicta esset, ipsa sese rescinderet, rem iniudicatam reliquerunt causamque in diem longissimam distulerunt.
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Da meinten die Richter, dass das, was von beiden Seiten vorgetragen wurde, ein Zweifelsfall und unerklärlich sei, und damit ihr Urteil, ganz gleich, in wessen Sinne sie entschieden, sich nicht selbst widerspräche, ließen sie die Sache unentschieden und vertagten den Fall auf unbestimmte Zeit. |
Sic ab adulescente discipulo magister eloquentiae inclutus suo sibi argumento confutatus est et captionis versute excogitatae frustratus fuit.
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So wurde der berühmte Redelehrer von einem jugendlichen Schüler durch seine eigene Argumentation widerlegt und durch einen schlau ausgedachten Trugschluss in die Irre geführt. |
Übersetzer: Tilman Bechthold-Hengelhaupt
Fragen zur Bearbeitung und Diskussion
- Informieren Sie sich, was man unter einem Paradox versteht. Sie können z. B. in Metzlers Philosophielexikon unter dem Eintrag Paradox nachschauen.
Das Stilmittel des Paradox wird auch in der Liste der Stilmittel erläutert. - Erklären Sie in wenigen Sätzen, welches Paradox in der vorliegenden Geschichte dargestellt wird.
- Eine vorgeschlagene Lösung lautet: Die Richter hätten Euathlos gewinnen lassen sollen, da er ja bis dahin noch keinen Prozess gewonnen hatte. In einem zweiten Prozess, den Protagoras dann hätte anstrengen müssen, hätte dieser gewonnen, da Euathlos ja zuvor einen Prozess (nämlich den ersten) gewonnen hatte. Was meinen Sie?
- Zur Sprache:
- An mehreren Stellen kommt das Futur II vor. Suchen Sie diese Stellen im lateinischen Text heraus und erklären Sie, warum es hier verwendet wird.
- Untersuchen Sie, wie die beiden Kontrahenten miteinander umgehen, d. h. ob Sie sich gegenseitig respektvoll oder mit Schimpfwörtern ansprechen. Prüfen Sie bei möglichen respektvollen Anreden, ob Ironie Ironie und SarkasmusDer Begriff Ironie wird in der Liste der Stilmittel erläutert. vorliegen kann. Belegen Sie Ihre Befunde am lateinischen Text.
- Arbeiten Sie am Text heraus, was für ein Bild von den Sophisten in dieser Anekdote gezeichnet wird.
- Prüfen Sie, ob man diesen Text der Textsorte der Anekdote zurechnen kann. Recherchieren Sie dafür die Merkmale einer Anekdote.
Tipps zum Weiterlesen
Das Paradox des Euathlos (englisch auch paradox of the court) beschäftigt Philosophinnen und Philosophen bis heute. Beispiele für neuere philosophische Veröffentlichungen:
- Anton Zamorev, Alexander Fedyukovsky (2020): Euathlus and Crocodile paradoxes: dialectic solution’s advantages, E3S Web of Conferences
- Das Problem des Protagoras (Norbert Tholen, Blog also42)
- Wolfgang Lenzen (1974): Protagoras contra Euathlus. Betrachtungen zu einer so genannten Paradoxie, Universität Osnabrück
Vorschläge zur Arbeit mit den Texten
Weitere Informationen:
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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