Pieces of Memory. Children in the Shoah and us – ein digitales Ausstellungsprojekt im Klassenzimmer

Autor: Dieter Grupp

Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Tübingen


Screenshot der Seite Pieces of Memory Children in the Shoah and Us

Screenshot der Website piecesofmemory.com

Kurzbeschreibung des Moduls:

Im Mittelpunkt des Moduls stehen 32 Biographien von Kindern, die die Shoah erlebt haben. Einige haben überlebt, andere nicht. Anhand von diesen Biographien, die als Website im Internet zugänglich sind, können die Schülerinnen und Schüler selbstständig und differenziert das Schicksal jüdischer Kinder nachverfolgen, indem sie Texte, Bilder, Dokumente und zum Teil Videos erforschen und unter einer gemeinsamen Fragestellung eine Kurzpräsentation erstellen. Diese Kurzpräsentationen wiederum dienen dann als Grundlage für einen breiteren Vergleich zum Schicksal jüdischer Kinder in den 1930er- und 1940er-Jahren sowie zur Reflexion über das weitere Schicksal der überlebenden Kinder als Erwachsene und deren erinnerungskulturelle Verstrickung. Dadurch werden in dem Modul auch Stränge jenseits der Zeit der Verfolgung und Ermordung thematisiert: das Weiterleben nach 1945 und in vielen Fällen die Rückkehr zu den Orten der Kindheit.

Grundlage für die Arbeit ist das digitale Ergebnis eines deutsch-israelischen Jugendprojekts mit dem Titel „Pieces of Memory. Children in the Shoah and us“, das 2021/22 stattgefunden hat: Junge Menschen, die sich erinnerungskulturell engagieren, haben die Biographien erstellt. Dabei haben deutsche und israelische Beitragende jeweils die Hälfte der Biographien bearbeitet. Die Kinder und Jugendlichen, deren Schicksal nachgezeichnet wird, stammen entweder aus dem deutschen Südwesten oder sie haben eine Beziehung zum israelischen Moschaw (Genossenschaft) Shavei Zion, das u.a. von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Rexingen bei Horb 1938 gegründet wurde.

Das Modul eignet sich insbesondere für Tablet-Klassen, die eigenständig mit den Biographien arbeiten können, sowie für den differenzierten und schülerorientierten Zugang zum Thema. Ausdrücklich sei der hohe Empathiefaktor betont, den die Inhalte auslösen können.


Hintergrund und Bedeutung

Die Wahrnehmung der Shoah aus der zeitgenössischen Perspektive von Kindern und Jugendlichen kommt im Schulkontext oft noch zu kurz. In dem deutsch-israelischen Projekt „Pieces of Memory. Children in the Shoah and us“ wird dieses Desiderat biographisch bearbeitet mit einem regionalen Schwerpunkt auf die Region Gäu-Neckar-Alb sowie auf Überlebende, die den Weg in die Genossenschaft (Moschaw) in Shavei Zion im Nordwesten Israels gefunden haben. Der Schwerpunkt liegt auf dem Erleben der Entrechtung, der Verfolgung und der Ermordung bzw. Rettung der Kinder und Jugendlichen. Dabei spielen bestimmte Zäsuren wie die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, die Ausplünderung, die Deportation, bei den älteren Jugendlichen auch die Machtübernahme eine Rolle. Es geht aber auch um das Erleben des schleichenden Antisemitismus durch Mitschüler, Lehrer und Nachbarn. Viele der Kinder haben erlebt, wie ihre Eltern nach der Pogromnacht vorübergehend ins Konzentrationslager kamen, viele der Eltern haben danach die Auswanderung aktiv betrieben, nicht allen ist dies gelungen – manchmal waren es nur die Kinder, die nach England, USA oder Palästina flüchten konnten, in manchen Fällen nicht einmal diese. Die Überlebenden haben nach 1945 oft ein erfülltes Leben mit Ehepartnern, Kindern und Erfolg im Beruf und Zufriedenheit im privaten Leben geführt; einige sind schon gestorben (sie wären heute z.T. schon über 100 Jahre alt); viele haben ab den 1960ern Deutschland besucht und haben sich aktiv an der Erinnerungskultur beteiligt: als Vortragende, Zeitzeugen und Ehrengäste bei der Einweihung von Gedenkstätten.


Verlaufsplan

Zeit/Phase

Inhalte/methodische Hinweise

1. Doppelstunde: Einzelne Kinderschicksale erforschen - Biographien recherchieren

1.1. Motivation: Kennenlernen und Projektvorstellung

Die Schülerinnen und Schüler lernen das Projekt über ein Video kennen, indem sie zwei überlebende Kinder in der Rückschau über ihre Schulzeit im NS sprechen hören: Doris und Hans Bernheim erzählen von ihrer Schulzeit im Nationalsozialismus.

Doris Doctor and John Bernheim about their change of schools [YouTube, Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb e.V., 1.33 min]

bzw.

Biografie Doris und Hans Bernheim [piecesofmemory.com]

Dabei können bei den SuS folgende Themen zu Fragen führen:

- Überlebende der Shoah erzählen von ihrer Schulzeit im NS.

- Sie sprechen über einen Schulwechsel: nach England bzw. an die Jüdische Schule nach Berlin.

- der lokale Bezug: Tübingen, Bronnweiler (heute: Ortsteil von Reutlingen), Stuttgart

- Die Familie musste offensichtlich Haus und Fabrik verkaufen.

- Die Flucht in die USA ist geplant und wird begonnen.

Im anschließenden Gespräch sollte die Lehrkraft das Thema auf das Schicksal jüdischer Kinder während der NS-Diktatur im Allgemeinen lenken und zur Vorstellung des Projekts überleiten.
1.2 Projektvorstellung durch die Lehrkraft Die Lehrkraft stellt das Projekt vor: Biographien von Kindern aus der Region, die die Shoah miterlebt haben, werden in Partnerarbeit erforscht. Diese biographischen Schicksale sollen dann vorgestellt und verglichen werden, um dann unter bestimmten Kriterien zu allgemeineren Aussagen zu kommen. Wichtig zu betonen ist aber auch, dass es sich um individuelle Schicksale handelt. Ausdrücklich soll bei Interesse auf die Möglichkeit der individuellen erweiterten Eigenrecherche aufmerksam gemacht werden.
1.3 Gallery Walk: Kennenlernen der Kinder und Auswahl eines Einzelschicksals Die Schülerinnen und Schüler sollen zunächst die Personen kennenlernen, indem sie ein Bild und einen prägenden Satz sehen – über den QR-Code auf den Bildern des Gallery Walks (M 1) kommen sie zu mehr Informationen. Am Ende des Gallery Walks sollen sie sich paarweise für eine Person entscheiden, mit der sie sich näher beschäftigen wollen. Der Umfang und die Komplexität der vorliegenden Informationen sind mit (**) und (***) jeweils auf dem Bild markiert. Hierauf kann die Lehrkraft hinweisen, muss es aber nicht. M 2 dient als Überblick für die Lehrkraft.

1.4 Erarbeitung I: Children of the Shoah

Die Lehrkraft geht den komplexen Projektarbeitsauftrag (M 3) mit den Schülerinnen und Schülern durch. Danach sollten die Schülerinnen und Schüler den Rest der Doppelstunde Zeit haben, sich dem Einzelschicksal zu widmen und die entscheidenden Informationen zu einem Vortrag in der nächsten Doppelstunde zu ordnen.

Wichtig ist, dass sie der Lehrkraft ein Bild (Screenshot) zukommen lassen, das während ihres Vortrages eingeblendet wird.

1.5 Puffer/Hausaufgabe: Ein weiteres Schicksal Zur Vertiefung können diese Schicksale noch mit Biographien von Personen aus Polen, Belarus und Rumänien ergänzt werden, die die Shoah überlebt haben und in dem Moschaw Shavei Zion gelebt haben. Eine Übersicht mit QR-Codes kann den Schülern vorgelegt werden (M 4).
2. Doppelstunde: Das Schicksal der Kinder im Vergleich: Präsentieren und reflektieren                   
2.1 Präsentation und Erarbeitung II: (bis zu) 15 Einzelschicksale „Children in the Shoah“ Die Schülerinnen und Schüler präsentieren die Informationen zu ihrem „Child in the Shoah“. Währenddessen machen sich die Zuhörenden Notizen auf dem Auswertungsbogen (M 5), den die Lehrkraft zu Beginn der Stunde kurz vorstellt. Ziel ist es, zu gemeinsamen und allgemeineren Aussagen zu kommen – die Kategorien orientieren sich an dem Projektarbeitsauftrag (M 3).
2.2 Auswertung II: Schicksale im Vergleich

In einem Unterrichtsgespräch wird die Vergleichbarkeit der Informationen thematisiert (Lösungen in Stichworten für die Lehrkraft in M 6):

Gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede bei den einzelnen Kindheitsschicksalen?

  • Wie stark waren die Familien der Kinder in der Gesellschaft integriert?
  • Ab wann und wie haben sie Ausgrenzung und Entrechtung erlebt?
  • Sind die Zäsuren im Leben der Kinder vergleichbar?
  • Ab wann haben sich die Eltern über Flucht zu retten versucht? Warum ist das gelungen bzw. gescheitert?
  • Wie viele Familienmitglieder haben sie in der Shoah verloren?
  • Wie haben sich die emigrierten Kinder in ihrer neuen Umgebung zurechtgefunden? Wie ging ihr Leben weiter?
Haben sie Deutschland nach dem Krieg nochmals besucht? Wie stark haben sie sich in der Erinnerungskultur engagiert?
2.3 Reflexion:  Children in the Shoah

In einem abschließenden Unterrichtsgespräch sollen die Schülerinnen und Schüler Raum erhalten, um über das Projekt selbst und den letzten Teil des Titels „… and us“ zu sprechen:

  • Was hat dieses Projekt bei mir bewirkt? Was hat mich (besonders) beeindruckt?
  • Hat sich mein Verhältnis zur Shoah verändert?
  • Was hat die Shoah mit mir zu tun?

Hier kann der Ansatz des Projekts auch verglichen werden mit anderen unterrichtlichen Erfahrungen zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah.

2.4 Puffer: Lang-Interviews Weil das Projekt ausdrücklich darauf angelegt ist, Interesse zur weiteren Befassung zu wecken, kann die Lehrkraft noch auf die „Langinterviews“ hinweisen, von denen die mit Fredy Kahn und Pavel Hofmann in deutscher Sprache aufgenommen sind, das mit Vern Gideon in englischer, die übrigen in hebräischer Sprache (aber alle mit Übersetzungen in Untertiteln).
Ein Hinweis auf die alljährliche Jugendguide-Ausbildung würde das Projekt abrunden (aktueller Flyer [gedenkstaetten-bw.de]).

Materialien

Für Abbildungen, Materialien und differenzierte Arbeitsblätter zu diesem Modul und deren Verwendung im Unterricht schreiben Sie bitte eine email an landeskunde@zsl-bw.de.


Didaktische Hinweise und Bildungsplanbezug

Projektmöglichkeiten (insbesondere für die Sek. II), die man mit „Children in the Shoah“ umsetzen kann, bzw. Möglichkeiten für GFS:

• eine Fragestellung über verschiedene Biographien hinweg verfolgen (Sek. II: M 6 Aufgabenblatt))
• spezielle (amtliche) Dokumente in den Blick nehmen (M 7/AB Bsp.): Stelle ein Originaldokument vor, das dich besonders beeindruckt hat – verorte es und begründe die Auswahl.
• Fotos als Material in den Blick nehmen (M 8/ Bsp.): Stelle ein Foto detailliert vor, das dich besonders beeindruckt hat – verorte es und begründe die Auswahl.
• Fasse eines der (langen) Interviews zusammen.

Standardstufe: Sek. I 


Inhaltbezogene Kompetenzen:

3.3.1

(3) das All­tags­le­ben in der NS-Dik­ta­tur zwi­schen Zu­stim­mung, Un­ter­drü­ckung und Wi­der­stand er­läu­tern und Aus­wir­kun­gen auf die Sta­bi­li­tät der NS-Herr­schaft be­ur­tei­len (Dik­ta­tur; Pro­fi­teur: „Ari­sie­rung“; Pro­pa­gan­da, Mas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on: zum Bei­spiel HJ, BdM; Ter­ror, Ver­fol­gung: Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, Po­grom, po­li­tisch, ras­sisch, re­li­gi­ös Ver­folg­te, Ju­den, Sin­ti und Ro­ma, Ho­mo­se­xu­el­le, „Eu­tha­na­sie“; Wi­der­stand)

(4) den Zweiten Weltkrieg charakterisieren und bewerten (Vernichtungskrieg; Holocaust - Shoah)


Prozessbezogene Kompetenzen:

2.1 Fragekompetenz:

(1) Fra­gen an die Ge­schich­te for­mu­lie­ren und vor­ge­ge­be­ne his­to­ri­sche Fra­ge­stel­lun­gen nach­voll­zie­hen

(4) Un­ter­su­chungs­schrit­te zur Be­ant­wor­tung his­to­ri­scher Fra­gen pla­nen

nachvollziehe2.2 2.2 Methodenkompetenz:

(2) un­ter­schied­li­che Ma­te­ria­li­en (ins­be­son­de­re Tex­te, Kar­ten, Sta­tis­ti­ken, Ka­ri­ka­tu­ren, Pla­ka­te, His­to­ri­en­ge­mäl­de, Fo­to­gra­fi­en, Fil­me, Zeit­zeu­gen­aus­sa­gen) auch un­ter Ein­be­zie­hung di­gi­ta­ler Me­di­en kri­tisch ana­ly­sie­ren

(3) die für ei­ne Pro­blem­lö­sung er­for­der­li­chen In­for­ma­tio­nen be­schaf­fen (zum Bei­spiel Bi­blio­thek, In­ter­net)

2.3 Reflexionskompetenz:

(6) his­to­ri­sche Sach­ver­hal­te re­kon­stru­ie­ren (Re­kon­struk­ti­on)

2.4 Orientierungskompetenz:

(5) die Über­trag­bar­keit his­to­ri­scher Er­kennt­nis­se auf ak­tu­el­le Pro­ble­me und mög­li­che Hand­lungs­op­tio­nen für die Zu­kunft er­ör­tern

2.5 Sachkompetenz:

(6) his­to­ri­sche Sach­ver­hal­te in Zu­sam­men­hän­gen dar­stel­len (Nar­ra­ti­on)

(7) regionalgeschichtliche Beispiele in übergeordnete historische Zusammenhänge einordnen


Literatur

  • Freudenfeld, Leonie und Jule Henninger: „Pieces of memory. Children in the Shoah and Us”. Deutsch-israelische Erinnerung an die Shoah. Ein Austauschprojekt mit Gestaltung einer Online-Ausstellung, in: Gedenkstätten-Rundbrief 209, S. 58-65, 3/2023.

  • Högerle, Heinz: Pieces of memory. Children in the Shoah and Us. In: Gedenkstätten-Rundschau 29 (Nov. 2022), 1-6.

  • Landeszentrale für politische Bildung und Träger- und Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen e. V.: Vom Neckar ans Mittelmeer. Jüdische Flüchtlinge aus dem schwäbischen Dorf Rexingen gründen 1938 eine neue Gemeinde in Galiläa. Stuttgart 2008 , 44 Seiten. Pdf als download [lpb-bw.de] verfügbar

Links

(Alle Links aufgerufen am 04.12.2024)


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