Didaktische Grundlagen

für die Vermittlung von Bildungssprache

Unter sprachlicher Bildung ist die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen in einem umfassenden Sinne zu verstehen. Bildungssprache ist sowohl das Medium schulischen Lehrens und Lernens als auch das Ziel der schulischen Ausbildung und deswegen ein zentrales Element der sprachlichen Bildung. Es ist Aufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer, einsprachige wie mehrsprachige Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen didaktisch zu unterstützen und dabei die Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung zu berücksichtigen.

In der Konsequenz hat Schule, die bildungssprachliche Fähigkeiten fordert, die Aufgabe diese auch systematisch zu fördern. Eine durchgängige Sprachbildung ist Aufgabe des ganzen Schulsystems. Denn sprachliche Bildung ist kein Thema ausschließlich für mehrsprachige Lernende und ebenso wenig auf den Unterricht in Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache beschränkt.

didaktische_Grundlagen_Bildungssprache_Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit ist in der sprachlichen Bildung eine Ressource, die bei entsprechender Berücksichtigung (innerhalb einer Didaktik der Mehrsprachigkeit) den Erwerbsprozess erleichtert. Neu eingewanderte mehrsprachige Lernende können aufgrund ihres Schulbesuchs im Heimatland schon bildungssprachliche Vorkenntnisse wie beispielsweise Fachwortschatz in ihrer Herkunftssprache mitbringen. Diese kann als Grundlage für die Aneignung der deutschen Bildungssprache dienen. Andererseits können mehrsprachige Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten beim Erwerb der deutschen Bildungssprache in der Schule haben. Je nach Sprachstand haben sie z. B. eine doppelte Belastung beim sprachlichen und dann inhaltlichen Entschlüsseln von Aufgaben. 

Um vorhandene sprachliche Ressourcen zu nutzen und damit Schwierigkeiten zu überwinden, ist der erste, notwendige Schritt ein Perspektivenwechsel: Schülersprache ist vor allem Lernersprache statt Defizitsprache. Fehler bzw. produktive Irrtümer gehören dazu und sind als Lernanlass wichtig. Wer diesen Perspektivenwechsel vollzogen hat und die Lernersprachen mit den Schülerinnen und Schülern immer wieder bewusst in den Fokus nimmt, schult kontinuierlich Sprachintuition und Sprachreflexion (s. u. Language-Awareness-Ansatz) und berücksichtigt dabei auch unterschiedliche Einflussfaktoren auf den Spracherwerb.

 

Lernersprache statt Defizitsprache

Sprachintuition und Sprachreflexion fördern (Language-Awareness-Ansatz)

Einflussfaktoren beim Erwerb der Bildungssprache

Links und Literatur zur Vertiefung

Bibliographische Nachweise

Lernersprache statt Defizitsprache
Sprachkompetenz ist nie vollkommen statisch, sie entwickelt sich bei jedem Menschen immer weiter, er sammelt Erfahrungen mit Formulierungen, bringt passiv beherrschte Elemente in die aktive Verwendung, lernt immer neue oder präzisere Vokabeln und deren Bedeutungsvarianten etc. Keine noch so erfahrenen Deutschsprechenden kennen den gesamten deutschen Wortschatz.

Bei Mehrsprachigen erfolgen die Annahmen zu Bedeutung oder Form eines Wortes oft auf Grundlage der Erstsprache. Das kann zu Fehlern führen (Interferenzfehler). Die Erstsprache mit ihrer Struktur “funkt“ in die Zweitsprache hinein. Außerdem sollten sich alle an der sprachlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen Beteiligten klar machen, dass der erfolgreiche Erwerb einer Sprache auch unter günstigen Bedingungen immer seine Zeit braucht. Für eine solide Basis (BICS) muss man von einer Erwerbsdauer zwischen 1 und 3, für bildungssprachliche Kompetenzen 5 bis 7 Jahre veranschlagen. (vgl. Erläuterungen des Sprachenzentrum an der Universität Münster zu BICS&CALP)

Unter dieser Voraussetzung müssen die sprachlichen Fehler von Lernenden neu bewertet werden. Bei diesen Fehlern handelt es sich oft nicht um Defizite, sondern etwa um vorübergehende falsche oder unzureichende Annahmen zur Bedeutung eines Wortes oder um eine vorübergehend übergeneralisierte Hypothese über die Funktion einer grammatischen Endung.

Diese Fehler zeigen also auch positiv, welche Annahmen getroffen wurden und lassen somit Kompetenzen erkennen, die schon vorhanden sind. Darauf aufbauend kann dann der nächste logische Lernschritt erfolgen. (Vgl. dazu auch Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit/Grundlagen/Kapitel 2.1, S. 11f: Form-Funktion-Hypothesen und „Produktive“ Fehler in Lernersprachen.)

Jemanden beim (bildungssprachlichen) Spracherwerb zu unterstützen bedeutet nicht, Fehler zu markieren und durch Lernen abzustellen, sondern Intuitionen und Hypothesen dem Bewusstsein der Lernenden zugänglich machen, um ihre kognitive Leistung zu würdigen und den nächsten Lernschritt zu initiieren. Konkret fragt die Lehrkraft: „Erkläre bitte, warum du das so genannt hast. Kannst du dir erklären, wieso es eigentlich so heißen müsste?“ Sie lobt die richtige Einsicht und (ver-)urteilt nicht: „Das hast du falsch gemacht. So wäre es richtig gewesen!“

nach oben

 

Sprachintuition und Sprachreflexion fördern (Language-Awareness-Ansatz)
Sprachkompetenz ist nicht denkbar ohne Sprachintuition und Sprachreflexion. Wer Sprache produziert, stellt immer bewusste oder noch öfter unbewusste Annahmen darüber an, ob eine sprachliche Äußerung mehr oder weniger akzeptabel ist oder nicht, man könnte auch sagen, ob sie grammatisch korrekt und kommunikativ angemessen ist oder nicht. Jeder, der Sprache produziert oder rezipiert, hat immer durch seine bisherige Erfahrung mit dieser Sprache eine mehr oder minder richtige Annahme darüber, was ein Ausdruck oder eine komplexe Äußerung bedeutet. Diese Sprachintuition kann sich sowohl beim Erwerb einer Erstsprache als auch beim Gebrauch einer erlernten weiteren Sprache bilden. 

Der englische Begriff language awareness enthält ein ganzes Konzept von Umgang mit Sprache im Lernkontext und ist nur verkürzend mit "Sprachbewusstsein" ins Deutsche zu übersetzen. Sprache wird hierbei in der Sprachlernsituation ganzheitlich betrachtet und reflektiert. Es geht nicht nur um Wortbedeutungen oder grammatischen Strukturen. Auch pragmatische und kulturelle Kategorien werden betrachtet wie Adressatenbezug, Begrüßungen, Respektsäußerungen, etc. Sprachliche Äußerungen werden in ihren gesellschaftlichen Funktionen bewusster verstanden und angewendet, wenn über sie bewusst nachgedacht wird. Es entsteht eine Sensibilität für den differenzierten Ausdruck einer Sprache. Auch für kulturelle Muster, Vorurteile, Machtstrukturen die in der Sprache oder in der Sprachverwendung bestimmter Gruppen verankert sind, können erkannt bzw. entlarvt werden (z. B. die androzentrische vs. geschlechtsneutrale Sprache).

Die meist unreflektierte, innere Bildung von Regeln und Annahme von Konventionen (Lernersprache), die in den Lernenden sowieso stattfindet, wird durch Thematisierung ins Bewusstsein gehoben und somit explizit zugänglich gemacht. Besonders im Kontext von Mehrsprachigkeit ist der Vergleich von Herkunftssprache und Zweitsprache(n) fruchtbar, da sie sich gegenseitig beeinflussen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede und auch individuelle oder typische Fehler, die durch die gegenseitige Beeinflussung der Sprachen entstehen (Interferenzfehler), werden thematisiert. Dies erlaubt Einblicke in verschiedene Ausschnitte des Sprachsystems je nachdem, zu welchem Phänomen eine Reflexion angeregt wird. („Ich mache da immer viele Fehler mit er, sie, es und so. In Türkisch gibt es nur „o“. Das ist viel einfacher.“ - „Und wie erkennt man dann, ob ein „o“ eine Frau oder ein Mann ist?“ - „Das weiß man einfach. Ne, warte, ich überleg mal.“) Durch einen kognitiven Prozess des Erkennens und Durchschauens können Hürden überwunden werden. Sprachreflexion ist also eine besonders wichtige Ressource für den Spracherwerb,(vgl. dazu Jeuk 2015, S. 130/131). Darüber hinaus findet sie alltäglich statt beim Nachdenken über Anlässe wie Missverständnisse oder bei der Suche nach dem passenden Wort. Sie wird professionell im Rahmen des Unterrichts geschult. Dass die eigene Herkunftssprache, die ein Teil der Identität mehrsprachiger Lernender ist, eine wichtige Rolle spielt, ist Motivation und Hilfe zugleich.

nach oben

 

Einflussfaktoren beim Erwerb der Bildungssprache
Spracherwerb ist generell trotz einer bestimmten Abfolge von Erwerbsschritten ein individueller Prozess (siehe z. B. Jeuk 2015, S. 56ff. und Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit/Grundlagen/Kapitel 2.1, v. a. S. 11-15). Das liegt einerseits an den jeweils individuellen kognitiven Voraussetzungen, vielleicht noch mehr jedoch an sozialen Faktoren (vgl. Jeuk 2015, S. 38). Ob das Alter einen Einfluss hat, ist nur bedingt nachweisbar. Als sicher gilt, dass die über einen IQ messbare Intelligenz keinen Einfluss hat.
Grundsätzlich steuerbare Einflüsse auf den Erwerbsprozess, die Schule bietet, sind:

  • Qualität und Quantität des Inputs haben besonders hohe Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung;
  • Schaffen einer wertschätzenden Lernumgebung;
  • Erfahrung vermitteln, dass man Bildungssprache lernen kann;
  • durch Sprachreflexion die sprachliche Bewusstheit (language awareness) als Routine fördern (vgl. Fürstenau / Lange 2013, S. 206).

nach oben


Literatur und Links zur Vertiefung
Esser, H. (2006): Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten. Campus. Frankfurt am Main/New York.
Umfangreiche, quantitativ ausgerichtete Metastudie mit z. T. Einsichten für die Praxis.

Benholz, C. / Frank, M. / Gürsoy, E. (2015) (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Fillibach. Stuttgart.
Sammelband mit Artikeln zu allen relevanten Sprachbildungskontexten, u. a. zum Deutsch- und Fremdsprachenunterricht oder zur Situation von ‚Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern‘, aber auch zur Lehrerausbildung und zum Förderunterricht.

Jeuk, S. (2015): Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen – Diagnose – Förderung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Kohlhammer. Stuttgart.
Grundlagenwerk, das klassische Ansätze und aktuelle Forschung mit der Praxis verbindet und viele Anregungen liefert.

Landesinstitut für Schulentwicklung (Hrsg.) (2016): Deutsch als Zweitsprache in der Grundschule. Zweite überarbeitete und ergänzte Auflage, Stuttgart 2016
Auf die Bedürfnisse der Grundschule zugeschnitten, vor allem Kapitel 5 und 6 in diesem Zusammenhang, Schwerpunkt bei Mehrsprachigkeit

Rösch, H. (2005) (Hrsg.): Mitsprache. Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Grundlagen – Übungsideen – Kopiervorlagen. Schroedel. Braunschweig.
Einführungswerk zu einer Reihe von Unterrichtsmaterialien, Theorie und Praxis verbindend, mit Materialteil und Übungsideen. 

nach oben


Bibliographische Nachweise
Esser, H. (2006): Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten. Campus. Frankfurt am Main/New York.

Fürstenau, S. / Lange, I. (2013): Bildungssprachförderliches Lehrerhandeln. Einblicke in eine videobasierte Unterrichtsstudie. In: Gogolin, I. u. a. (Hrsg.): Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert. Waxmann. Münster, S. 188-219.

Gogolin, I. (2013): Mehrsprachigkeit und bildungssprachliche Fähigkeiten. In: Gogolin, I. et al. (Hrsg.): Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert. Waxmann. Münster, S. 7-18.

Jeuk, S. (2105): Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen – Diagnose – Förderung. 3., überarbeitete Auflage. Kohlhammer. Stuttgart.

Sprachenzentrum der Westfälischen Wilhelms Universität Münster: BICS&CALP
Online abrufbar hier:

nach oben

 

 

 


Der Text dieser Seite ist verfügbar unter der Lizenz CC BY 4.0 International
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

Bitte beachten Sie eventuell abweichende Lizenzangaben bei den eingebundenen Bildern und anderen Dateien.