Hier finden Sie Informationen zu den Bildungsplänen im Fach Geschichte, außerdem Unterrichtsmaterialien, Linksammlungen, Werkzeuge zur Eigenrecherche und Hinweise auf außerunterrichtliche Lernorte.

Der Alltag im Ghetto: Isak Wasserstein berichtet aus Warschau

Isak Wasserstein (1920-2012) hat ab der Errichtung 1940 bis zu seiner Deportation im Jahre 1942 im Warschauer Ghetto gelebt und berichtet vom Alltag dort.

Es kam ein Schicksalsschlag nach dem anderen. […] In Warschau wurden neue Schikanen ausgedacht. Ein Ghetto sollte geschaffen werden, in dem Juden, umzäunt von Mauer und Stacheldraht, leben und sterben sollten. Mitten durch die Stadt sollte diese Mauer verlaufen und eine Sorte Menschen von der anderen trennen. Mit eigenen Händen mussten wir die Mauer unseres Gefängnisses bauen, uns selbst eingraben, um nicht mehr herauszukommen. […] Jeder jüdische Einwohner Warschaus wurde gezwungen, in das für ihn geschaffene, begrenzte Viertel umzuziehen. Er durfte von seiner bisherigen Wohnung, die sich nicht auf dem bezeichneten Gebiet befand, nur das mitnehmen, was er in seiner neuen Wohnung unterbringen konnte. Damit war das jüdische Ghetto geschaffen.

Leider gab es nicht genügend Platz, um alle Juden unterzubringen. Dieses Ghetto hatte nicht ausreichend Straßen und Wohnungen, um alle aus ihren Wohnungen ausgewiesenen Menschen zu beherbergen. […] So wurde in Warschau im Herbst 1940 das Ghetto geschaffen. Mauern wurden um die Gassen herum gezogen. Jeden Tag wuchsen sie höher. Sie wurden mit Stacheldraht und Glassplittern bestückt und erhielten so eine Krone, damit sie niemand bezwingen konnte. Man konnte nicht über sie hinweg klettern. Man konnte kaum über sie hinweg schauen. […]

Wie man sich an Leid im Laufe der Zeit gewöhnen kann, so begann man, sich an das Ghettoleben zu gewöhnen. […] Es gab kein Kommen und Gehen mehr, das Leben wurde abgestellt. Es hatte für uns aufgehört, außerhalb dieser Mauer zu existieren. Nur innerhalb der Mauer herrschte Leben, es gab Tod, Trauer und Verzweiflung. Der Hunger breitete sich noch mehr aus. Die Enge wurde größer, Krankheiten wurden häufiger, die Zwangsarbeit wurde fortgesetzt. Alle Männer wurden erfasst und mussten Arbeitsdienst leisten. Arbeitskolonnen wurden jeden Morgen zusammengetrieben. Zu Fuß oder mit Lastautos wurden die Männer unter strengster Bewachung der SS aus dem Ghetto gebracht. Sie wurden auf verschiedene Arbeitsplätze verteilt. Am Abend wurden sie wieder von derselben Wachmannschaft und durch dieselben Tore ins Ghetto eingelassen.

Manchen gelang es, etwas Essen von der sogenannten arischen, also polnischen Seite ins Ghetto zu schmuggeln. [Es] wurden auch Kinder auf die "arische" Seite geschleust. Sie gruben sich ein Loch unter der Mauer, schlüpften hindurch und kamen dann mit ein paar Kartoffeln, Karotten oder etwas Brot durch dieses Loch ins Ghetto zurück. […] Die meisten Kinder waren ausgemergelt; mit verstörten Gesichtern kamen sie, ein paar Kartoffeln in ausgebeulten Taschen, zurück. […] Die Kälte des Winters 1940/41 zwang uns, alles Brennbare zu verheizen. Kohle wurde Mangelware. […] Die arische Seite hätte die Möglichkeit gehabt, ihren polnischen Brüdern hinter der Mauer zu helfen und ihre Lage zu lindern. Aber sie schaute passiv mit einem Lächeln zu, wie ihre jüdischen Mitbürger langsam, aber sicher untergingen. […]

Wieder gab es neue Verordnungen, neue Bekanntmachungen hingen an den Mauerwänden. Es waren die Namen von Erschossenen: Diese Menschen hatte man ohne Armbinde angetroffen oder man hatte sie beim Stehlen von Kartoffeln erwischt. […] Jeder Schmuggel, selbst der noch so kleinste, wurde mit dem Tod bestraft. […]  Und doch gerade die Kleinsten litten am meisten von uns allen. Man sah sie auf der Straße, vom Hunger aufgedunsen, die Füße in Lumpen gewickelt, die Körper von Fetzen umhüllt, schmutzig und verwahrlost. Wie Leichen zogen sie blass durch die Gassen des Ghettos. Mit dem scharfen Blick eines Raubvogels stürzten sie sich auf diejenigen, die ein Stück Brot hatten, um es ihnen zu entreißen […], die unglücklichen, einsamen, verwaisten, verlassenen, zerbrochenen jüdischen Kinder, die keine Freude erlebt hatten. Früh wurden ihnen die Eltern entrissen. Vater und Mutter hatten sie kaum gekannt. Man sah sie oft zu zweit oder zu dritt, es waren meist arme Geschwister. Die Größeren sorgten für die Kleineren, doch selbst die großen und älteren Kinder waren noch klein. Die Eltern waren verhungert oder waren erschossen worden. Alle Mühe, diesen Kindern zu helfen, scheiterte. Alle hungerten. Mit gebrochenem Herzen musste man zusehen, wie diese kleinen Kinder tot auf den Straßen lagen. Die Gesichter waren mit Zeitungspapier zugedeckt. Steine beschwerten das Papier, damit es der Wind nicht wegblasen konnte. Diese unzähligen, namenlosen, kleinen jüdischen Kinder! Man wusste nicht, woher sie kamen und wer sie waren. Sie lebten und starben ohne Namen. Jeden Tag wurden die toten Körper aufgesammelt, auf Fuhrwerke gelegt und zum Hauptfriedhof in der Genschastraße gefahren, wo sie in Massengräber gelegt wurden, genau wie ihre Eltern, die das gleiche Schicksal erlitten hatten. Niemand wird sich ihrer erinnern, niemand wird mehr an sie denken. Sie werden immer zu den vielen Namenlosen gehören, zu den Hunderttausenden, die umgebracht wurden, die kein Grab haben und für die niemand das Kaddisch-Gebet gesprochen hat - die besondere Tragik der elternlosen Kinder im Ghetto. […]

Im Ghetto entstanden auch immer wieder neue Probleme, mit denen man nicht so leicht fertig werden konnte. Krankheiten und Epidemien brachen aus. Durch die Enge, durch die mangelnde Hygiene und durch die außergewöhnlichen Umstände im Ghetto machte sich Typhus, das Fleckfieber, breit. Die Seuchen nahmen solche Ausmaße an, dass ganze Häuser von der Ordnungspolizei geschlossen wurden. Die Bewohner mussten in Gruppen zur Entlausung geführt werden. Das Haus wurde unter Quarantäne gestellt. Niemand durfte das Gebäude betreten oder verlassen. So blieb das Haus oftmals mehrere Tage lang verschlossen und wurde von der Ghetto-Polizei bewacht. Die Bewohner blieben in ihren Wohnungen. Es spielten sich herzzerreißende Szenen ab. In den meisten Fällen starben die Erkrankten und wurden ohne jegliche Zeremonie zum Friedhof gebracht und dort verscharrt. […] Charakteristisch für die schwere Lage der Juden im Ghetto von Warschau war die Tatsache, dass das Zusammenleben der Menschen untereinander immer besser wurde und einen Höhepunkt erlebte. Die Ghettobewohner respektierten sich und waren hilfsbereit untereinander. Sie schlossen sich enger zusammen und bildeten Hilfsgruppen. Vor allem blieben sie gläubig und gottesfürchtig. Trotz des Verbotes und trotz Androhung schwerer Strafen wurde im Ghetto viel gelernt und gelesen. In einem Keller oder auf einem Dachboden sammelten sich junge Menschen und lernten Nächte hindurch. Sie bildeten Gruppen und überlegten, wie man den Unglücklicheren helfen könnte. Es gab viele Bücher, die Menschen hatten einen Drang danach. Es war auch die einzige Abwechslung neben der schweren Last, die jeder zu tragen hatte. Die Resignation war jedem einzelnen vom Gesicht abzulesen. […]

Eigentlich gab es in Warschau zwei Ghettos, nämlich das große und das kleine. Über eine hohe Holzbrücke gelangten wir von dem einen in den anderen Teil Schaute man von der Brücke hinunter, konnte man eine breite, lange Straße sehen, die die beiden Lager kreuzte. […] Denn diese Straße teilte den arischen vom jüdischen Teil Warschaus. Nur durch die Holzbrücke waren die beiden Ghettoteile miteinander verbunden.

Über diese Brücke gingen nur Ghettobewohner. Sie konnten auf das pulsierende Leben der Nichtjuden hinunterblicken. […] 

Es ergab sich, dass dadurch oftmals die Ghettomauer in der Mitte des Fahrweges gezogen wurde und praktisch zwischen der jüdischen und der arischen Seite eine Grenze verlief. Die Häuser standen sich gegenüber, die Bewohner konnten sich gegenseitig sehen. Damit sich hier kein Schmuggel entwickeln konnte, wurde die Mauer besonders hoch gebaut. So wurden beide Seiten voneinander getrennt. Dort, wo es keine gegenüberliegenden Häuser gab, wurde statt der Mauer ein Stacheldrahtzaun gezogen. Diese Stellen waren sehr gut für den Schmuggel geeignet. Die Polen nützten die Situation, um leicht Geld zu verdienen. Die Juden mussten essen und brauchten Lebensmittel, so war es für beide Parteien nützlich. […]  Der Platz war für die christlichen und die jüdischen Schmuggler sehr geeignet. Man brauchte den Stacheldraht nur hochzuziehen und einige Säcke, gefüllt mit Kartoffeln, Mehl, Graupen und anderen Lebensmitteln durch den Zaun zu schieben. Natürlich erfuhren die Deutschen schnell von dieser Schmuggelmöglichkeit und verkündeten sogleich auf Plakaten im ganzen Ghetto, dass auf den Schmuggel am Drahtzaun die Todesstrafe verhängt werden würde. Da Geld eines der stärksten Mittel dieser Welt ist, ließen sich die Schmuggler viel einfallen. Die Deutschen verließen sich nicht nur auf ihre strengen Verordnungen and auf die Todesdrohung, sondern stellten um die Ghettomauern außerdem bewaffnete Posten auf. Auch die Zäune wurden schwer bewacht. Dadurch sollte der Schmuggel ganz unterbunden werden, um das Ghetto auszuhungern. Kluge Köpfe der jüdischen und der arischen Seite versuchten sich mit den wachhabenden Posten anzufreunden und durch Bestechung den Schmuggel aufrecht zu erhalten. In vielen Fällen gelang dies beiden Parteien. Der Posten ging dann am Zaun Schnell wurde der Stacheldraht gehoben und hinter seinem Rücken fand Warenaustausch statt. Die Schmuggler verschwanden schnell wieder in den Gassen. Wenn der Posten von seinem Rundgang zurückkehrte, war alles vorbei. Posten, die sich nicht mit Geld bestechen ließen, waren aber für Gold und Brillanten empfänglich. Für die unbestechlichen Deutschen wurde andere Möglichkeit ersonnen: eine schöne Polin wurde an den Zaun gebrach freundete sich mit dem Posten an, flirtete mit ihm und lenkte ihn so ab. […] Mit der Zeit wurde der ganze Schmuggel noch perfektioniert und verbessert stellte. Er stellte die einzige Möglichkeit der Versorgung des Ghettos dar. Natürlich war es für beide Parteien, die jüdische wie die arische, ein großes Risiko. Nicht wenige bezahlten dies mit ihrem Leben. Es fiel aber fast immer etwas ab. Mit Hilfe der Wachen wurden Waren durch den Zaun, durch ein Loch oder durch die ??? geschoben. Die Menschen im Ghetto hätten sonst nicht überleben können. […] Es musste alles getan werden, den Schmuggel, die Lebensader im Ghetto, aufrechtzuerhalten. Die einzige Lebensquelle durfte nicht gefährdet werden. In den Straßen wurden laufend Razzien durchgeführt. Es wurde nach Schmugglern und Zwischenhändlern gesucht. […]

Im Ghetto ging man kaum einer geregelten Arbeit nach. Nur wer keine Zwangsarbeit leisten musste, versuchte, mit irgendeiner Arbeit, Handel oder Schmuggel, sein Leben zu fristen. Es gab weder Arme noch Reiche, alle Menschen waren gleichermaßen arm. Jeder hatte mit der täglichen Not zu kämpfen. […]  Ein Vater ließ sein Kind verhungern, weil er es nicht ernähren konnte. Die Kleinkinder waren vom Hunger aufgeschwollen. Mütter starben, ihre Kinder konnten nicht einmal um sie trauern. […] Die Polen, die eigentlich unsere Verbündeten gegen die Deutschen hätten sein sollen und mit uns gegen die deutschen Besatzer hätten agieren sollen, halfen uns in keinster Weise. […] Einige wenige Polen halfen uns, so gut sie konnten. Es gab welche, die ihre  jüdischen Freunde unter Einsatz des eigenen Lebens versteckten. Trotz Todesstrafe versorgten und pflegten sie ihre Freunde. Doch leider waren es nur sehr wenige. […] 

Im Ghetto gab es weder Post noch Radio, Telefon oder Zeitung. Man war von jeglichen Nachrichten abgeschnitten. Die Mauern um das Ghetto ließen nur noch die Luft von draußen eindringen, sonst nichts. […]. Ich ging jeden Morgen vom großen ins kleine Ghetto. Dort kaufte ich einige Kilo Mehl, Gries, Haferflocken, Graupen, Bohnen und andere Lebensmittel, die ich dann auf dem Rückweg ins große Ghetto schaffte. Dort verkaufte ich die Sachen an Lebensmittelhändler. Da es Schwarzhandel war und schwer bestraft werden konnte, war es ein gefährliches Geschäft. Aber im Ghetto war alles lebensgefährlich. […] Es passierte mir trotz starker Vorsicht, dass ich von einem Polizisten in Zivil gestellt wurde. Ich hatte circa fünf Kilo an Lebensmitteln in meinem Rucksack verstaut. Von außen war die Ware so getarnt, dass man sie nicht gleich kennen konnte. Plötzlich wurde ich von einem Polizisten gestellt, nachdem er mich nach dem Inhalt des Rucksacks gefragt hatte. Ich fing an zu zittern und musste ihm stotternd den Inhalt zeigen. […] Er fragte mich, was er mit mir machen und ob er mich der Gestapo ausliefern sollte. Er fragte mich auch, ob ich denn nicht wisse, dass mein Tun streng verboten sei. Ich versuchte, ihm, so gut es ging, meine Unschuld zu beteuern. Es dauerte nicht lange und er machte mir das Angebot, mich gegen die Zahlung eines Betrages freizulassen.  […]

Es wurde immer schlimmer, von Woche zu Woche kamen grausamere Verordnungen. Die großen Aussiedlungen begannen. Trauer und Leid lagen über allem. […] Es kamen im Ghetto leise Stimmen auf, die Rache forderten. Junge Leute versammelten sich nachts, um zu beraten und zu überlegen, was zu tun sei. Sie waren nicht mehr bereit, sich der Tyrannei zu beugen. Man hörte auch von einem geplanten Aufstand. 

(aus: Isak Wasserstein, „Ich stand an der Rampe von Auschwitz“, Norderstedt 2011, S. 26-47 (Auszüge))


Zurück zur Hauptseite

 


Der Text dieser Seite ist verfügbar unter der Lizenz CC BY 4.0 International
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

Bitte beachten Sie eventuell abweichende Lizenzangaben bei den eingebundenen Bildern und anderen Dateien.