Vom Leben auf dem Lande – ein schwäbisches Dorf um 1910
Autorin: Dr. Ines Mayer
Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Tübingen
B1 Holzspielzeug aus den 1960er-Jahren – die gestanzten Holztiere der Firma Ostheimer gibt es heute immer noch
Kurzbeschreibung des Moduls:
Das binnendifferenzierte Modul für zwei Doppelstunden richtet sich in erster Linie an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Es werden Materialien für das G-/M- und E-Niveau bereitgestellt. Gleichwohl können die (E-)Materialien auch in der Sekundarstufe II eingesetzt werden, die Auswertung bzw. Diskussion ist entsprechend anspruchsvoller und differenzierter. Anhand des Moduls lässt sich das dörfliche Leben um 1900 darstellen. Die ausgewertete Quelle stellt das 1983 erschienene Erinnerungsbuch von Max Frommer über seine Heimatgemeinde Isingen im Jahr 1910 dar (Max Frommer: Vom Leben auf dem Lande: Isingen 1910. Stuttgart 1983). In dichten Beschreibungen wird ein umfassendes und detailliertes Bild des Lebens in einem württembergischen Dorf kurz vor dem Ersten Weltkrieg gezeichnet, das in seiner Anschaulichkeit auch Mittelstufenschülerinnen und -schülern zugänglich ist. Die Themenkreise können als Gruppenarbeit, Gruppenpuzzle oder Lernzirkel eingesetzt werden. Kreative Schreibaufträge sind ebenfalls enthalten. Bei den einzelnen Themen handelt es sich um: das Wohnen (das Isinger Bauernhaus), die Landwirtschaft, das Leben in der Familie und das Leben in der Gemeinde.
Hintergrund
Um 1900 arbeiteten 38 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. Das sind – zur Hochphase der zweiten Industrialisierung – ungefähr gleich viel wie im Bereich Bergbau und Industrie (37 Prozent). Was die reinen Zahlen zunächst verschleiern: Es handelte sich keineswegs um ein Nebeneinander dieser verschiedenen Bevölkerungsgruppen, sondern um geografisch getrennte Lebenswelten. Die industrialisierten Ballungsräume mit ihrer verdichteten Bebauung, den Fabriken und einer zunehmend motorisierten Mobilität hatten wenig gemein mit den Dörfern und Weilern, die zum Teil noch jahrhundertealte Lebensformen und Einstellungen konservierten. Bis auf den Pfarrer und den Lehrer – und einzelne Handwerker – arbeiteten hier alle Bewohner in der Landwirtschaft.
Es war aber nicht nur der bäuerliche Jahreszyklus, der das Leben in Familie und Gemeinde prägte. Max Frommer schreibt für das protestantisch-pietistische Isingen und die Umlandgemeinden von der „Dorfsitte“, welche unausgesprochen alle Lebensbereiche beeinflusst habe. Es gehört zu den besonderen Vorzügen seines Erinnerungsbuches, dass Frommer die detaillierten Schilderungen des bäuerlichen Alltags und des Umgangs der Menschen miteinander an diese Dorfsitte zurückbindet und reflektiert. Vor allem dadurch lohnt sich die Beschäftigung mit dem Buch „Vom Leben auf dem Lande“ – als Quelle – im Geschichtsunterricht. Es ist überdies in einem ansprechenden Stil verfasst, der den damaligen Menschen mit Achtung begegnet und gleichzeitig die Dinge weder beschönigt noch verklärt. Insofern ist es dem aktuellen Bestseller des Tübinger Historikers Ewald Frie* durchaus an die Seite zu stellen, auch wenn Frommer stilistisch und fachwissenschaftlich natürlich nicht an Frie heranreicht.
* Frie, Ewald: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland. München 2023
Bedeutung
Einige Vorzüge der für das Modul ausgewerteten Monografie von Max Frommer für den Geschichtsunterricht sind schon erwähnt worden. Es lässt sich hinzufügen, dass die im Rückblick verfassten Erinnerungen von einem Menschen stammen, der einerseits die dörfliche Lebenswelt um 1910 noch selbst erlebt hat, andererseits als einziges Kind seiner Familie und als erstes Dorfkind überhaupt in seinem beruflichen Werdegang die engen Grenzen seines Dorfes überwinden konnte. Er besuchte nach der Volksschule eine weiterführende Schule, konnte studieren und promovieren und in den höheren Schuldienst eintreten. Diese Nähe und gleichzeitige Distanz ermöglichten es Frommer, das „Leben auf dem Lande“ schnörkellos darzustellen. Es sei ihm nicht darum gegangen, ein „verlorenes Paradies“ heraufzubeschwören, er erwähnt immer wieder die Enge und die Beschränktheit eines harten Lebens. Insofern dienen seine Ausführungen dazu, der immer noch – oder gar zunehmenden – Romantisierung einer angeblich „guten alten Zeit“ entgegenzutreten. Gleichzeitig wird deutlich, welche Traditionen auf dem Dorf jahrhundertelang bestanden und noch weit in die Phase der Industrialisierung hineinwirkten. Einiges vom damaligen „Mindset“ ist in den Dörfern Baden-Württembergs – und nicht nur hier – bis heute zu beobachten.
Verlaufsplan und Materialien
Zeit/ Phase |
Inhalte/ methodische Hinweise |
Material | ||
G | M | E (G8/G9) | ||
1. Doppelstunde: Ein „verlorenes Paradies“? Vor-Urteile und Vorwissen über das Leben auf dem Lande um 1910 |
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Einstieg |
Als Einstieg werden zwei Alternativen (evtl. nach Leistungsstand der Klasse) angeboten: Über das Holzspielzeug-Foto (AB 1):
Über die Hütchen-Anekdote (AB 6c):
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AB 1 |
AB 1 | AB 6c |
Überleitung |
Über die Präsentation und das UG wird zum Thema hingeleitet. Die Lehrkraft stellt die Quelle (Max Frommers Erinnerungen) vor. Als einführendes Textbeispiel kann das AB 2 über den Autor gemeinsam gelesen und besprochen werden – hierbei kann auf die Formulierung vom „verlorenen Paradies“ und auf Frommers Schreibintention („für die Nachkommen festhalten“) eingegangen werden. Alternativ kann die Lehrkraft das Wichtigste aus AB 2 auch zusammenfassen |
AB 2 | AB 2 | AB 2 |
Erarbeitung |
Die Materialien werden thementeilig in Gruppen ausgewertet. Die AA für die Gruppen befinden sich auf AB 7a. Die Ergebnisse zu den einzelnen AA werden für eine spätere Präsentation notiert. In AB 7b werden die wichtigsten Ergebnisse stichwortartig bereitgestellt. Die Materialien können auch im Rahmen eines Gruppenpuzzles oder Lernzirkels verwendet werden. Es liegt jeweils eine gekürzte Variante (a) vor. |
AB 3a AB 4a AB 5a AB 6a AB 7a AB 7b |
AB 3a AB 4a AB 5a AB 6a AB 7a AB 7b |
AB 3b AB 4b AB 5b AB 6b AB 7a AB 7b |
Hausaufgabe |
Schreibauftrag zum Familienfoto (AB 5c): Versetzt euch in eines der elf Kinder und verfasst einen inneren Monolog. Was geht eurer Person gerade durch den Kopf? Ihr könnt zum Beispiel Bezug nehmen auf:
oder: Recherche zu den Begrüßungsformeln (AB 6d): In Isingen gab es nach dem Bericht von Max Frommer feste Begrüßungsformeln. Recherchiert in der Familie, bei Nachbarn und Bekannten, an welche Formeln sie sich aus ihrer Jugendzeit erinnern. Wie nehmt ihr selbst das Thema Begrüßungen in eurem Ort, eurer Nachbarschaft usw. wahr? Verfasst einen beschreibenden Bericht dazu. |
AB 5c AB 6d |
AB 5c AB 6d |
AB 5c AB 6d |
2. Doppelstunde: Bäuerlicher Jahreszyklus und „Dorfsitte“ – Abgleich mit der historischen Realität |
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Anknüpfung |
Über die Besprechung der HA wird an das Thema der vorigen Doppelstunde angeknüpft. | |||
Erarbeitung und Präsentation | Je nach Stand der GA: Präsentationen werden vollends vorbereitet und gehalten. (ggf. Rückfragen der Mitschülerinnen / Mitschüler) | |||
Integration | Die „Dorfsitte“ im täglichen Leben: Über eine Auswahl schwäbischer Ausdrücke werden wichtige Themenbereiche noch einmal angesprochen und auf den zentralen Begriff der Dorfsitte bezogen. | AB 8 | AB 8 | AB 8 |
Schlussgespräch |
Die Frommer-Zitate aus AB 4b („…meine Annahme, dass die kleinbäuerliche Kultur in Isingen vor dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt erreicht hatte, bevor sie durch das Eindringen des Maschinenzeitalters, des industriellen Konkurrenzkampfes und der Unrast der Wachstumsideologie der Massengesellschaft ein jähes Ende fand.) sowie aus AB 2 („Dabei liegt es mir fern, eine Art verlorenes Paradies vorzustellen.“) dienen als Impulse zur zweiteiligen Schlussdiskussion. 1. Was ist anders im „Maschinenzeitalter“ und in der „Massengesellschaft“? Diskutiert Frommers These mit Blick auf die Modernisierung ab 1918 (bis heute). Berücksichtigt Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Stadt und Dorf. 2. Nehmt Stellung: Würdet ihr gerne zurück ins Isingen um 1910? War es das „verlorene Paradies“? „Die gute alte Zeit?“ |
AB 4b AB 2 |
AB 4b AB 2 |
AB 4b AB 2 |
Materialien-Download
- alle Materialien (*odt und *pdf) [ZIP, 61 MB]
- Arbeitsblatt 1 [PDF, 359 kB]
- Arbeitsblatt 2 [PDF, 60 kB]
- Arbeitsblatt 3a [PDF, 647 kB]
- Arbeitsblatt 3b [PDF, 655 kB]
- Arbeitsblatt 4a [PDF, 1400 kB]
- Arbeitsblatt 4b [PDF, 1400 kB]
- Arbeitsblatt 5a [PDF, 233kB]
- Arbeitsblatt 5b [PDF, 248kB]
- Arbeitsblatt 5c [PDF, 819 kB]
- Arbeitsblatt 6a [PDF, 711 kB]
- Arbeitsblatt 6b [PDF, 715 kB]
- Arbeitsblatt 6c [PDF, 72 kB]
- Arbeitsblatt 6d [PDF, 60 kB]
- Arbeitsblatt 7a [PDF, 72 kB]
- Arbeitsblatt 7b [PDF, 84 kB]
- Arbeitsblatt 8 [PDF, 72 kB]
Didaktische Hinweise und Bildungsplanbezug
Standardstufe: Sek. I und evtl. Sek. II
Inhaltbezogene Kompetenzen:
Gemeinsamer BP, Sek. I
3.2.5 Der industrialisierte Nationalstaat – Durchbruch der Moderne: (3) moderne Lebenswelten um 1900 beschreiben (Großstadt) – als Kontrast: Leben im Dorf
BP Sek. II
3.4.1 Wege in die westliche Moderne (11.1, Basisfach)
3.4.2 Wege in die Moderne (11.1, Leistungsfach)
Auch hier: als Kontrast zur Urbanisierung über den im BP geforderten Aspekt „ambivalente Erfahrungen der Moderne“
Berufliches Gymnasium, BP 2021:
BPE 1 Wege in die moderne Gesellschaft:
BPE 1.2 Erscheinungsformen der Moderne um die Jahrhundertwende und deren Ambivalenz
BPE 1.3 Auswirkungen der Industrialisierung auf die Gesellschaft
Prozessbezogene Kompetenzen:
nachvollziehe2.2 2.2 Methodenkompetenz
unterschiedliche Materialien (insbesondere Texte, Fotografien, Zeitzeugenaussagen) … analysieren
die historische Bedingtheit der Gegenwart sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Vergangenheit und Gegenwart analysieren und bewerten
das kollektive Gedächtnis … analysieren und bewerten
historische Sachverhalte in Raum und Zeit einordnen
Zäsuren und Kontinuitäten benennen und in ihrer Bedeutung beurteilen
Leitperspektive
Literatur
Frommer, Max: Vom Leben auf dem Lande: Isingen 1910. Stuttgart 1983
Vgl. auch:
Bätzing, Werner: Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. München 2020
Bidlingmaier, Maria: Die Bäuerin in zwei Gemeinden Württembergs. [Diss. 1915]. Kirchheim/Teck 1990
Braun, Annegret: Frauen auf dem Land. Eigenständige Landwirtinnen, stolze Sennerinnen, freiheitssuchende Sommerfrischler und viele andere von damals bis heute. Berlin 2014
Frie, Ewald: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland. München 2023
Henkel, Gerhard: Landleben in Deutschland – gestern und heute. Darmstadt 42020
Ruge, Uta: Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang. München 2020
Wimschneider, Anna: Herbstmilch. Lebenserinnerungen einer Bäuerin. München/Zürich 1984
- Arbeitskreis Landeskunde/Landesgeschichte an der ZSL-Regionalstelle Tübingen -
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
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