Landesgeschichtliche Einordnung

Autor: Dr. Udo Bayer (Arbeitskreis RP Tübingen)

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Zur Geschichte der Juden in Baden und Württemberg

Eine knappe Zusammenfassung der jüdischen Geschichte auf dem Gebiet eines erst 1952 entstandenen Bundeslandes muss, außer der Territorialgeschichte der beiden unter Napoleon geschaffenen Hauptländer, noch mindestens die in ihrer historischen Entwicklung ganz heterogenen Gebiete der Reichsstädte, Hohenzollern, ursprünglich kurpfälzische Teile, Vorderösterreich und die kleinen, v. a. reichsritterschaftlichen Herrschaften einbeziehen. Lokale oder regionale Museen fokussieren die Aufmerksamkeit selbstverständlich nur auf Ausschnittsbereiche. Man muss auch festhalten, dass die Geschichte der Juden in Deutschland nicht auf die NS-Zeit reduziert werden kann. Vermutlich ist das 19. Jh. die entwicklungsgeschichtlich wichtigste Periode; schließlich ist es bemerkenswert, dass der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung konstant um nur etwa 1 % schwankte. Zu Baden und Württemberg gehören nur gut 7 % der deutschen Juden insgesamt. An entscheidenden innerjüdischen Entwicklungen wie der Aufklärung hat der Südwesten wenig Anteil. Bezug und Hintergrund für Regionalentwicklungen ist immer die Geschichte der deutschen Juden allgemein, insbesondere die von Meyer/Brenner herausgegebene umfassende Gesamtdarstellung.

Die im Mittelalter fixierte Situation der jüdischen Bevölkerung galt für Jahrhunderte. Bis Ende des 11. Jh. bestanden jüdische Gemeinden in politischen und wirtschaftlichen Zentren meist nicht als räumlich abgesonderte Viertel. In unserem Gebiet sind als älteste Gemeinden für das 11. Jh. Heilbronn und Schwäbisch Hall anzusetzen (Konstanz hatte möglicherweise bereits zur Römerzeit jüdische Bewohner), im Badischen Grünsfeld und Wertheim. Wirtschaftliche Basis waren Fernhandel und Bankgeschäfte. Die Juden standen außerhalb der Feudalgesellschaft. Das Aufblühen der Städte mit erstarkender Zunftkonkurrenz hatte für sie die Abdrängung in den lokalen Kleinhandel und die Pfandleihe zur Folge. Innerchristliche Entwicklungen (Bettelorden, Kreuzzüge, IV. Laterankonzil 1215) ließen die Feindschaft gegen die Juden wachsen, Ritualmord- und Hostienfrevelbeschuldigungen halten sich bis ins 19. Jh.

Den theologischen Rahmen der christlichen Einschätzung des Judentums bildete die Substitutionsthese, nach der die Kirche die Stelle des Volkes Israel und seiner Heilszusagen eingenommen hat. 1215 wird auf dem IV. Laterankonzil die Kennzeichnung der Juden durch besondere Kleidung dekretiert; sie bleibt teilweise bis in Schutzverträge des 18. Jh. in Kraft.1239 wurde der Talmud auf den Index gesetzt. Der vom Papst 1205 herausgestellte Begriff der Judenknechtschaft und die sich hieraus unter Friedrich II. entwickelnde Rechtsinstitution des "Kammerknechts" beschleunigte ganz entscheidend die Entrechtung bis hin zum Status einer Randgruppe; die Juden wurden quasi verstaatlicht; Freizügigkeit und das Recht des Waffentragens wurden ihnen entzogen. Folgenreich war die Veräußerung des Judenregals an andere Machtträger, Reichsstädte und Territorialherrn, vor allem unter Karl IV. Der ursprüngliche Judenschutz wurde so zur Ausbeutung; die Judensteuer stellten den größten Posten der kaiserlichen Einkünfte dar. Einen weiteren Höhepunkt der Verfolgung - nach den Kreuzzügen - bildete die Pestzeit Mitte des 14. Jh. mit der Auslöschung der meisten Gemeinden.

Figurengruppe am Hauptportal des Freiburger Münsters

Figurengruppe am Hauptportal des Freiburger Münsters (spätes 13. Jh.): Heimsuchung (Maria und Elisabeth) und Symbolfigur der Synagoge (Augenbinde, Stab)
© www.lmz-bw.de

Karlsruher Thorarolle

Karlsruher Thorarolle, mutmaßlich die älteste Seferthora Badens (wohl 13. Jh.)
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Grabstein der Mina

Grabstein der Mina (1288) aus der seit 1233 nachweisbaren jüdischen Gemeinde in Ulm: "Diesen Stein stellte ich als Grabmal zu Häupten der Frau Mina, Tochter des Herrn Jizchak HaLewi. Sie verstarb am 6. Tag [Freitag], den 27. Elul 48 [27.08.1288] im 6. Jahrtausend. Ihre Ruhe sei im Garten Eden. Amen, ich sage sela."
© Udo Bayer

Karl IV. verlieh auch den beiden württembergischen Grafen 1360 das Judenschutzrecht; in Form vertragsähnlicher Schutzbriefe wurden seitdem und bis ins 18. Jh. Niederlassung und Erwerbstätigkeit festgelegt. Württemberg schränkte die kündbaren Rechte bald wieder ein, und Eberhard im Bart verschlechterte in seiner Landesordnung von 1495 die Erwerbsmöglichkeiten weiter; sein Testament legte sogar den Ausschluss der Juden als "schädliche Würm" aus seinem Territorium fest, ein Landesgesetz von 1498 bis 1806. Allerdings war ab 1551 gegen Geleitgeld ein Betreten des Territoriums möglich. Zu unseren wenigen mittelalterlichen Bauzeugnissen gehört eine Mikwe in Offenburg.


Die endgültige Ausweisung der Juden aus fast allen Reichsstädten (z. B. Ulm 1499) führte zur Ausbildung des Landjudentums als bis ins 19. Jh. charakteristischer Lebensform der deutschen Juden - fern der Entwicklung des städtischen Lebens. Die Sicherheit der Juden hing allein vom Interesse des Territorialherrn oder der Stadt ab. Judenordnungen ermöglichten als gewissen Rechtsschutz die Anrufung des Reichskammergerichts. Die Kurpfalz vertrieb ihre Juden 1391, Vorderösterreich 1574. Gelegentlich wechselten sich Vertreibung und Wiederzulassung aus wirtschaftlichen Gründen ab wie in den beiden badischen Markgrafschaften. Die Vertreibungen hielten aber bis in das 17. Jh. an, so auch in Hohenzollern-Hechingen, wo Juden erst wieder 1701 einen Schutzbrief erhalten.

Blick auf Hechingen

Blick auf Hechingen mit Brücke und Häusern mit Synagoge im Vordergrund
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Ehemaliger jüdischer Freidhof am Waldenberg in Neckarsulm

Ehemaliger jüdischer Freidhof am Waldenberg in Neckarsulm (2008): Grabsteine mit hebräischen Inschriften, im Hintergrund Tahara-Haus
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Der Frühabsolutismus mit dem Merkantilismus und das Ende des 30-jährigen Krieges waren insofern ein Einschnitt für die Geschichte der Juden auch in unseren Territorien, als der Status des Kammerknechts endete und eine kleine Gruppe von Juden mit privilegierter Position entsteht, die Hofjuden oder Hoffaktoren. Abhängig vom Territorialherrn, misstrauisch von den Ständen beobachtet, kennzeichnen ihre Stellung Risikobereitschaft, gute auswärtige Verbindungen und weit verzweigte verwandtschaftliche Kontakte. Gleichzeitig werden sie gerne als verantwortliche Vorsteher der Juden des Territoriums eingesetzt. Pacht von Monopolen und nichtzünftige Manufakturen sind neben Kreditgeschäften ihr Betätigungsfeld. Die interessantesten Beispiele für Württemberg sind Josef Süß Oppenheimer (hingerichtet 1738) und die Kaulla-Familie. Sie errichtete in Hechingen 1803 eine bedeutende Talmud-Schule. Die Hoffaktoren und ihre Bediensteten fielen nicht unter das Ausschließungsgesetz; entsprechendes galt für die zum herzoglichen Kammergut gehörenden Orte. Ziel der frühneuzeitlichen Judenordnungen war generell die Bekehrung als Konsequenz aus der angeblichen Verderbtheit der jüdischen Religion. In Hohenzollern-Haigerloch z. B. wurden die Juden noch Mitte des 18. Jh. gezwungen, jedes Vierteljahr eine Predigt anzuhören.

Mannheim und Karlsruhe bieten im 18. Jh. besondere Entwicklungsmöglichkeiten. 1660 bietet der Kurfürst großzügige Ansiedlungsbedingungen mit der Pflicht zum Hausbau, die Verlegung der Residenz nach Mannheim ab 1720 führt zum höchsten je erreichten jüdischen Anteil an der Bevölkerung. Zur gleichen Zeit versucht der Markgraf in Karlsruhe auf ähnliche Weise die Bauausgestaltung zu fördern. Aber weit über 90% der Juden waren Anfang des 19. Jh., in dem sich ihre Stellung in Deutschland ungeahntem Maße wandeln sollte, Landjuden und nahezu ausschließlich im Handel tätig. Immerhin die Hälfte lebte unter dem Existenzminimum; ein Viertel schließlich bildete sogar die Unterschicht der Betteljuden. Die neuere jüdische Geschichte verläuft in Deutschland territorial und schichtspezifisch recht unterschiedlich.

Die staatliche Umgestaltung der napoleonischen Zeit, die Teilnahme jüdischer Freiwilliger an den Befreiungskriegen und antiemanzipatorische Bestimmungen des Wiener Kongresses charakterisieren die Ausgangslage zunehmender Emanzipation im ersten Drittel des 19.Jh. In Baden wirken Reformideen (wie der 1801 veröffentliche Bericht Holzmanns "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden") früher als in Württemberg: Durch die Restriktionen seien die Juden zu dem gemacht, was sie sind, erlaubte Nahrungszweige sollten ihre wirtschaftliche Existenz ermöglichen, aber noch ohne Zugang zu öffentlichen Ämtern.

Das Konstitutionsedikt von 1807, also zu napoleonischer Zeit, machte sie in Baden zu Staatsbürgern, aber von der Legislative noch ausgeschlossen und am Wohnort blieben sie im Status des Schutzbürgers. 1809 richtete der Staat eine Kirchenverfassung ein, später regelte er auch die Ausbildung der Rabbiner und ihre Amtstracht (sie wurden Staatsbeamte) und versuchte auf die Berufsausbildung Einfluss zu nehmen, indem er, wie ab 1828 dann in Württemberg, landwirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeit fördern wollte. Die Verfassung von 1818 fixierte den praktischen Ausschluss von Staatsämtern und vom passiven Wahlrecht. Die jüdische Bevölkerungszahl in Baden betrug über 17.000, die in Württemberg etwa 10.000.

Synagoge in der Kronenstraße in Karlsruhe

Synagoge in der Kronenstraße in Karlsruhe, erbaut 1798-1806, abgebrannt 1871 (Lithografie um 1830)
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Synagoge in der Karl-Friedrich-Straße in Karlsruhe

Synagoge in der Karl-Friedrich-Straße in Karlsruhe, erbaut 1881, zerstört 1938 (ca. 1900)
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Württemberg musste schon deswegen das formal noch geltende Ausschließungsgesetz durch eine einheitliche rechtliche Festlegung der Stellung der Juden ablösen, weil sein Gebietszuwachs Territorien umfasste, in denen jüdische Gemeinden mit verbrieften Schutzrechten bestanden, die nun Angehörige des neuen Staates waren. König Friedrich stand den Juden positiver gegenüber als seine Beamten. Einzelverordnungen erlaubten den Erwerb selbstbebauten Landes und den Zugang zu bürgerlichen Gewerben (1809) sowie die Aufhebung des Leibzolls, des Schutzgelds, legten aber auch die Beschränkung der Niederlassung auf Orte fest, wo schon vorher Juden ansässig waren, richteten israelitische Konfessionsschulen ein und machten die männlichen Juden wehrpflichtig. Fremden Betteljuden war das Betreten des Landes verboten. Die Identifikation mit dem neuen Staat wuchs in der jüdischen Bevölkerung. Die Mehrheit der christlichen Bevölkerung lehnte Jahrzehnte lang eine rechtliche und soziale Besserstellung der Juden ab, was sich auch bei dem Gesetz von 1828 deutlich zeigte; der Ravensburger Stadtrat sprach gar von der "jüdischen Pest". Das Dilemma der vom Staat ausgehenden Emanzipationsbestrebungen liegt darin, dass die württembergischen Regelungen den Juden den Handel abgewöhnen wollten ohne entsprechende Erweiterung ihrer beruflichen Betätigungsrechte.


Dennoch brachte das "Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen" von 1828, in vielem an der vorangegangenen badischen Gesetzgebung orientiert, gewisse Verbesserungen (Aufhebung des Schutzjudenverhältnisses, einheitliche Landesorganisation mit Oberkirchenbehörde, staatliche Konfessionsschule und Rabbiner- und Lehrerausbildung, allerdings mit Einschränkung der traditionellen Rabbinerbefugnisse); ab 1838 durfte nur in den von der Staatsbehörde anerkannten Synagogen öffentlicher Gottesdienst gehalten werden. Die Niederlassung ist an die Gewährung des Ortsbürgerrechts gebunden. Insgesamt wird von Staats wegen quasi ein neues religiöses Paradigma installiert für eine kirchenanaloge "Cultus-Gemeinde". Die wirtschaftliche Betätigung blieb eingeschränkt; die Eröffnung von Ladengeschäften ist genehmigungspflichtig; v. a. der Schacherhandel wird beschränkt. Immer noch lebten gut 80% vom Schacherhandel, d.h. einem Handel nicht mit speziellen Wirtschaftsgütern, sondern mit allem, was überhaupt Tauschwert hatte. Auch Pfandleihe und Viehverstellen wurden hierzu gerechnet. Auf dem Land waren die Juden quasi der Bankier des verschuldeten Bauern, des schlechten Risikos. Ein Antrag auf Aufnahme ins Bürgerrecht konnte nach 10 Jahren Tätigkeit in Feldbau oder Handwerk gestellt werden. Biografische Selbstzeugnisse existieren aus dieser Zeit kaum.

Für die Mehrheitsgesellschaft war Handelstätigkeit schon deswegen minderwertig, weil ihr Arbeitsbegriff mit physischer Anstrengung verbunden war; Handel galt als unproduktiv und sogar unmoralisch. Bemerkenswert ist auch, dass andererseits Hausieren sich keineswegs auf Juden beschränkte, sondern allgemein eng mit der handwerklichen und der landwirtschaftlichen Produktion verbunden war; aber der jüdische Händler blieb durch den alten Topos der angeblich schlechten Charaktereigenschaften und des "Parasitentums" gebrandmarkt. Wirtschaftlich bedeutend für die südwestdeutschen Landjuden wie für ihre Geschäftspartner war der Viehhandel, teilweise mit Kreditgeschäft verbunden. Pferdehändler stellten die ländliche Elite dar. Der natürliche wirtschaftliche Interessengegensatz in einem Geschäft mit durchaus symbiotischen Zügen wurde immer wieder einseitig dem Kollektiv der Juden angelastet, letztlich bis in die NS-Zeit.

Ehemalige Synagoge in Wallhausen-Michelbach

Ehemalige Synagoge in Wallhausen-Michelbach an der Lücke (2004), erbaut 1757, eines der ältesten erhaltenen jüdischen Gotteshäuser in Württemberg
© www.lmz-bw.de (Weischer)


Betsaal der Synagoge in Michelbach

Betsaal der Synagoge in Michelbach (2004)
© www.lmz-bw.de (Weischer)

Jüdische Viehhändler verhandeln mit einem Bürger
Jüdische Viehhändler verhandeln mit einem Bürger, Figurengruppe (Terrakotta) aus Zizenhausen (frühes 19. Jh.)
© www.lmz-bw.de/Badisches Landesmuseum

Die Berufsumschichtung gelang nicht im erwünschen Maß, zumal die Bedeutung des Handwerks und auch längerfristig die der Landwirtschaft zurückging. Außerdem waren religiöse Vorschriften bei christlichen Meistern oft nicht einzuhalten. Generell standen offensives und retardierendes Wirtschaftsverhalten zunehmend im Konflikt; die Juden entwickelten in der ihnen seit langem zugewiesenen Wirtschaftstätigkeit des Handels die Neuerungen, die ihnen wegen ihrer Distanz zur umgebenden Wirtschaftsgesellschaft leichter fielen und die sie alsbald in Konflikt mit der traditionell orientierten christlichen Konkurrenz brachten. Auch das Gespür für konjunkturelle Entwicklungen und der Grad der zu erwartenden Diskriminierung spielten bei der Berufswahl eine Rolle. So hatten die Juden einen Vorsprung an Modernität und Flexibilität. Universitäten durften Juden in Württemberg seit 1819 besuchen; Baden und Württemberg erlaubten als erste Staaten jüdische Anwälte und Ärzte, von Universitätspositionen blieben sie aber bis in die zweite Jahrhunderthälfte ausgeschlossen.

In Hohenzollern vollzog sich die bürgerliche Gleichstellung langsamer; die Erteilung bürgerlicher Rechte für die Juden in Sigmaringen wurde wegen des Einspruchs der Landesdeputation in Hechingen nicht übernommen, sodass für sie der anachronistische Status von Schutzjuden mit dem Ausschluss von Gewerbetätigkeit bis zum Übergang an Preußen 1850 erhalten blieb, obwohl Juden ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Auch an diesem Einspruch wird, wie in Württemberg, der vorherrschende hartnäckige ländliche und kleinstädtische Widerstand gegen den sozialen Aufstieg der Juden deutlich. Umso größer ist die wirtschaftliche Dynamik, die jüdische Unternehmensgründer nach der Jahrhundertwende zeigen. Allein zwei Drittel der deutschen Juden lebten übrigens in Preußen, woran greifbar wird, dass unser hier betrachtetes Territorium innerhalb der deutsch-jüdischen Geschichte nur einen relativ kleinen Ausschnitt bildet.

In der Beziehung von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit auf dem Land galt, wie Jeggle betont, allenfalls eine nur vorgetäuschte Eintracht und "bourgeoise Idylle und blutiges Chaos" stehen sich gegenüber; 1819 und die Zeit der 48iger Revolution mit der kurzzeitigen Geltung der Grundrechte sind hier besonders markante Einschnitte. Während der Krawalle 1819 quartierte sich der badische Großherzog als symbolische Geste sogar im Haus eines prominenten Karlsruher Juden ein. Neun der Abgeordneten der Paulskirchenversammlung waren Juden; die Juden wurden sowohl für die Revolution wie für die Reaktion verantwortlich gemacht und die vollständige Emanzipation ließ noch bis 1862 (Baden) bzw. 1864 (Württemberg) wegen des Widerstands der zweiten Kammern auf sich warten. Der badische Minister Lamey argumentierte 1860, eine gänzliche Emanzipation sei nötig, da nicht eine Gruppe von Untertanen wegen der Religion von Rechten ausgeschlossen werden könne. Es sind vier badische Städte, die als letzte in Deutschland jetzt erst Juden die Niederlassung erlauben (Freiburg, Konstanz, Offenburg, Baden-Baden), während Württemberg die Freizügigkeit 1851 anerkennt. In Baden erhält andererseits 1868 der erste Jude in Deutschland ein Ministeramt, nämlich Finanzminister Ellstätter.

Ehemalige Synagoge in Sulzburg

Ehemalige Synagoge in Sulzburg (1995), erbaut 1823
© www.lmz-bw.de

Bei der Auswanderung nach Amerika waren Juden dreifach überrepräsentiert; deutsche Juden hielten der alten Heimat viel länger die Treue als jüdische Einwanderer aus anderen Ländern - ein wichtiges Beispiel ist der Hollywoodpionier Carl Laemmle. Die Binnenwanderung in die größeren Städte und damit der Rückgang des Landjudentums sind die vornehmlichen demographischen Entwicklungsmerkmale, in Süddeutschland allerdings etwas verlangsamt. Für die Mehrheit der deutschen Juden ist die Zeit zwischen 1848 und der Reichsgründung eine Periode des wirtschaftlichen Erfolgs und des sozialen Aufstiegs, verbunden mit der Urbanisierung, bei der Württemberg allerdings unter dem Reichsdurchschnitt lag; so entstehen auch in den ehemaligen Reichsstädten wieder größere Judengemeinden trotz Versuchen, die Ausschließung von Juden auch unter württembergischer Herrschaft beizubehalten. Die Binnenwanderung der auf dem Land lebenden Juden vollzog sich nach Schaffung des Eisenbahnnetzes teilweise in Etappen über einen nahe gelegenen Ort mit Bahnanschluss und die Einrichtung eines Ladengeschäfts.

Die jüdische Bevölkerungsgruppe trägt wie keine andere Gruppe zur Modernisierung der deutschen Wirtschaftsgesellschaft bei; hierbei spielen Aufstiegswille und Bildungsbereitschaft eine wichtige Rolle. Die Reform des Bildungswesens wurde zu einem wichtigen Faktor der umfassenden Akkulturation; dieser kultursoziologische Begriff will das Hineinwachsen in eine gemeinsam gestaltete Lebenswelt verdeutlichen, ohne die Differenz christlicher und jüdischer Lebenswelten aufzuheben. Der bislang herrschende schlechte Bildungsstand der Juden war gleichzeitig Mitursache und Symptom für ihre Isolation. Insbesondere in der Textilbranche war der Übergang vom Handel zur industriellen Produktion aus verschiedenen Gründen einfacher; in Württemberg und Hohenzollern gibt es bestimmte Schwerpunkte für diese Entwicklung (Göppingen, Reutlingen). Zu Beginn des 20. Jh. ist die Zahl der jüdischen Studenten reichsweit fünffach höher. Inwieweit das Urteil von Monika Richarz für die sich herausbildende deutsch-jüdische Oberschicht für unser Territorium allgemein zutrifft, nämlich dass sie nie wirklich gesellschaftlich akzeptiert war, ist schwer zu entscheiden. Das zeigt sich insbesondere an dem persönlich geadelten Kilian von Steiner (1833-1903), der mit anderen jüdischen Bankiers drei Jahrzehnte die Geschäftspolitik der Württembergischen Vereinsbank und somit ihre Rolle bei der Industrialisierung Württembergs und auch Badens maßgeblich mitbestimmte. Steiner gehört außerdem zu den Gründern der liberalen Deutschen Partei und er ist Mitinitiator und erster Mäzen des Schillerarchivs in Marbach. Der Großbürger Steiner ist ein extremer Beleg der These von Elon, die eigentliche Heimat der deutschen Juden sei die deutsche Kultur und Sprache gewesen und ihre eigentliche Religion das bürgerliche Bildungsideal.

Andere wichtige jüdische Persönlichkeiten der südwestdeutschen Wirtschaftsgeschichte sind dann im 20. Jh. Otto Hirsch (u. a. Neckar-AG), Eduard Ladenburg und die Karlsruher Bankiers Homburger und Straus sowie Alfred Blumenstein.

Mausoleum des aus Steinsfurt stammenden Hermann Weil

Mausoleum des aus Steinsfurt stammenden Hermann Weil (+ 1927) in Waibstadt, der mit seinem in Argentinien erarbeiteten Vermögen karitative Projekte im Kraichgau unterstützte.
© Schulenübergreifende Projektgruppe "Judentum im Kraichgau" ( http://www.rsw.hd.bw.schule.de/shal/sha0.htm)


Eigenartigerweise sind aus unserem Land zur Kaiserzeit insgesamt relativ wenige große Namen der deutsch-jüdische Kultur zu nennen, was wohl auch mit der erwähnten quantitativen Gewichtsverteilung innerhalb des Reichs zusammenhängt. Ein bedeutender jüdischer Schriftsteller dieser Zeit aus Württemberg ist Berthold Auerbach aus Nordstetten, der Judentum und Integration in die deutsche Gesellschaft verband. Zu nennen sind auch die Schriftsteller Alfred Mombert und Jacob Picard; ebenfalls aus Baden stammen die beiden Nobelpreisträger Fritz Haber und Richard Willstätter. Albert Einstein stellt im 20. Jh. eine überragende Gestalt des geistigen Lebens dar; in den Angriffen auf seine Person manifestiert sich gleichzeitig der aufkommende Antisemitismus.

Die Stuttgarter Gemeinde, entscheidend geprägt von Oberkirchenrat Joseph (von) Maier, war ausgesprochen fortschrittlich und liberal; Maier hatte bei der Synagogeneinweihung 1861 verkündet: "Stuttgart ist unser Jerusalem", was den Grad der Identifikation mit der Heimat und den Abstand von der Tradition zeigt. Außerdem repräsentiert Maiers Person das - neben der Gleichstellung - zentrale andere Thema des jüdischen Selbstverständnisses dieses Jahrhunderts, nämlich die innerreligiöse Entwicklung. Der Liberalisierungsprozess führte zur Abspaltung der Orthodoxie in den siebziger Jahren. Einige Gemeinden wie etwa Niederstetten blieben orthodox. So spiegelt die Entwicklung in unserem Territorium auch die Herausbildung der religiösen Hauptrichtungen in Deutschland.

Synagoge in Stuttgart

Synagoge in Stuttgart (Hospitalstraße 38), eingeweiht 1861, abgebrannt 1938 (Federzeichnung/Holzstich um 1861)
© www.lmz-bw.de (Jaeger)

Innenraum der Stuttgarter Synagoge

Innenraum der Stuttgarter Synagoge (1910)
© www.lmz-bw.de (Bothner)

Gesetzestafeln der Stuttgarter Synagoge
Gesetzestafeln der Stuttgarter Synagoge
© www.lmz-bw.de (Jaeger)

Auf dem Land bleibt eine gewisse Distanz zwischen Christen und Juden auch im Zeitalter der Emanzipation bestehen, teilweise verschärft durch Agrarkrisen wie in den siebziger Jahren - trotz Gemeinderats-Tätigkeit und Vereinsmitgliedschaften; sie zeigt sich etwa am traditionellen Verhalten der Partnerwahl und am Wohn- und Lebensstil sowie der Bildungsorientierung der jüdischen Mittelschicht. Konversionen zum Christentum, quantitativ durchaus erheblich und immer noch als "Entreebillet" in die Gesellschaft betrachtet und insbesondere immer noch Voraussetzung für den Offiziersberuf, betrafen eher das großstädtische Bürgertum. (Da das badische Armeekorps dem preußischen Heer eingegliedert war, galten übrigens die diskriminierenden Restriktionen für Reserveoffiziere auch hier.)

Synagoge in Laupheim

Synagoge in Laupheim (Aquarell Stumpp)
© Stadt Laupheim

Schloss Großlaupheim

Schloss Großlaupheim - heute "Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim"
© Stadt Laupheim/Udo Bayer

Man kann feststellen, dass antijüdisches Ressentiment und partielle Kooperation durchaus vereinbar sind. Das zeigt sich auch am politischen Katholizismus; er steht für eine fragwürdige Aufspaltung des Antisemitismus in eine quasi "gerechte", gegen die Moderne generell sowie eine angebliche jüdische Übermacht gerichtete Variante und einen "unchristlichen", v. a. rassisch begründeten Judenhass. Selbst Erzberger zeigt die ambivalente Haltung des Zentrums gegenüber dem Judentum. Dennoch unterstützten die Juden in katholischen Gegenden häufig die Zentrumspartei und schmückten auf katholischen Dörfern ihre Häuser zu christlichen Feiertagen. Schon Steiner war mit antisemitischen Angriffen konfrontiert. Der Antisemitismus des Kaiserreichs ist nicht scharf vom tradierten Antijudaismus abzugrenzen. Neu ist nur das Element des sozialdarwinistisch argumentierenden Rassenwahns. Die Stoßrichtung gegen eine als wesensmäßig fremd gebrandmarkte Gruppe, die jetzt kollektiv für die Negativerscheinungen einer insgesamt oft ungeliebten Moderne verantwortlich gemacht wird, folgt einem tradierten Muster. Erfolgreich ist der Antisemitismus seit der Jahrhundertwende weniger als Bewegung denn als Ideologie von Interessengruppen. Rapide soziale Umwälzungen und Enttäuschungen über unerfüllte Versprechungen des Liberalismus wirken verhängnisvoll zusammen.

Der "Burgfrieden" 1914 gab den Juden möglicherweise mehr moralischen Auftrieb als jedes andere Ereignis seit der Gleichberechtigung von 1869. Ein Zeugnis des Fliegerleutnants Zürndorfer aus Rexingen zeigt den engen Zusammenhang von Kriegsteilnahme und Emanzipationserwartung: "Ich bin als Deutscher ins Feld gezogen, um mein bedrängtes Vaterland zu schützen, aber auch als Jude, um die volle Gleichberechtigung meiner Glaubensbrüder zu erstreiten." Für das Selbstverständnis der deutschen Juden und ihre Identitätskrise war daher ein Ereignis in der Zeit des Ersten Weltkriegs 1916 traumatisch: Die Anordnung des preußischen Kriegsministeriums über eine Erhebung der von Juden im Heer bekleideten Positionen. Das Ergebnis wurde nicht bekannt gegeben. Nach dem Kalkül der Judengegner sollte ihre Rolle im Krieg pauschal diskreditiert werden.

Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg

Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg: "Von unsern Karlsruher Erholungs-Tage!"
© www.lmz-bw.de

Denkmal für gefallene jüdische Soldaten

Denkmal für gefallene jüdische Soldaten des Ersten Weltkriegs auf dem jüdischen Friedhof in Eppingen
© Schulenübergreifende Projektgruppe "Judentum im Kraichgau" (© http://www.rsw.hd.bw.schule.de/shal/sha0.htm)


Der badischen Revolutionsregierung gehören zwei Juden an, Ludwig Haas und Ludwig Marum - auch dies wie andernorts ein Ansatzpunkt für antisemitische Agitation. Die Zeit der Weimarer Republik ist reichsweit einerseits noch einmal gekennzeichnet von einer Hochphase der Teilhabe am öffentlichen Leben, v. a. im kulturellen Bereich, andererseits hat die Aufstiegsbewegung der Juden ihren Zenit überschritten und antisemitische Bedrohungen werden unverkennbar. Der "Centralverein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" hatte sich schon 1913 ausdrücklich gegen den Zionismus gestellt mit einem Bekenntnis zu Deutschland und diese Haltung behielten die meisten nach dem Krieg bei. Der Urbanisierungsprozess setzte sich fort, ebenso der Trend zu akademischen Berufen - 1928 sind beispielsweise 28% der Karlsruher Ärzte und 40% der Anwälte Juden.


Die Maßnahmen des NS-Staats ab 1933 zur schrittweisen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung traf unser Territorium im gleichen Maß wie das übrige Reich. Ein Großteil der Synagogen fiel der Pogromnacht 1938 zum Opfer. Vermögen wurde "arisiert". Einem Teil der Juden gelang die schwierige Emigration. Bei den Deportationen gibt es zwischen beiden Ländern den Unterschied, dass im Oktober 1940 4500 badische (außerdem pfälzische und saarländische) Juden in das Gebiet der Vichy-Regierung deportiert werden, die selbst von der Aktion überrascht wird. Sie weist die Betroffenen in das Internierungslager Gurs ein; zwei Jahre später beginnen Deportationen von Gurs in die Vernichtungslager. Über 70 % dieser ersten Deportation sterben. Das in Baden verbliebene Siebtel wurde wie die Juden Württembergs in Vernichtungslager verschleppt. In Württemberg führte der erste Transport im Dezember 1941 von Stuttgart nach Riga; der weitaus größte Teil wurde direkt ermordet; drei weitere Deportationen folgten 1942. Die Stuttgarter jüdische Gemeinde, seit 1939 einzige noch existierende in Württemberg, wurde 1943 aufgelöst.


Mahnmal für jüdische NS-Opfer

Mahnmal für jüdische NS-Opfer auf dem Stuttgarter Pragfriedhof (1983)
© www.lmz-bw.de (Grenzemann)

Nach Kriegsende stellt sich für die wenigen Zurückgekehrten sowie die infolge des Krieges hier gestrandeten Displaced Persons, meist osteuropäischen Juden, die Frage, ob Juden überhaupt noch in Deutschland bleiben sollten. Jüdische Organisationen außerhalb Deutschlands sind dagegen. Aber die beiden Landesorganisationen, die Israelitische Kultusvereinigung Württemberg und der Oberrat der Israeliten Badens, entschieden sich anders, greifbar auch am Wiederaufbau bzw. Neubau der Synagogen (Stuttgart 1952, Karlsruhe 1971). Was Stern für die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Juden formuliert hat, gilt auch für diesen, dem Territorium unseres Bundeslandes gewidmeten Teil und seiner Behandlung in der Schule: Der jüdische Schmerz an Deutschland bleibt, doch ist er ein jüdischer ebenso wie ein deutscher Schmerz, aus dem nachgeborene Generationen nicht Betroffenheit schöpfen sollten, sondern Nachdenken, Optimismus, kritisches Erinnern und Anregungen für neues Gestalten."

Synagoge Heidelberg

Synagoge Heidelberg (2008)
© www.lmz-bw.de (Weischer)

- Arbeitskreis für Landeskunde/Landesgeschichte RP Tübingen -