Lateinische Bibliothek
Livius, ab urbe condita 1, 24 und 1, 32
Mit Grasbüscheln und Schweineopfer:
Altertümliche Zeremonien für den Vertragsabschluss
Zum Thema:
Noch in der Zeit der Republik musste die Priesterschaft der Fetialen für Kriegserklärungen und für Vertragsabschlüsse zwischen Rom und anderen Völkern herangezogen werden. Der folgende Textauszug stellt den Beginn dieser Tradition dar. An diesem Beispiel kann man erkennen, wie altertümliche Rituale, die noch zu Ciceros Zeiten Bestand hatten, auf die römische Urgeschichte zurückdatiert wurden. In Ciceros Theorie des gerechten Krieges spielt das Fetialrecht eine Rolle.
Zum Zusammenhang: Die Einwohner Alba Longas waren mit den Römern unter König Tullus in Konflikt geraten; genaue Datierungen für diese Geschichte sind nicht möglich, jedoch kann man sie auf das 7. Jh. v. Chr. datieren. Damit die beiden Völker sich vor dem eigentlich wichtigen Kampf gegen den übermächtigen Feind, die Etrusker, nicht gegenseitig aufreiben, sollten zwei Drillingspaare, die Horatier und Curatier, einen Kampf gegeneinander führen. Der Stamm, dessen Vertreter den Kampf gewinnen, sollte über beide Stämme herrschen. Dieses Vorgehen musste zuerst durch einen Vertrag besiegelt werden.
Andere Dateiformate für dieses Arbeitsblatt:
-
PDF-Dokument ( 135 kb)
-
WORD-Dokument (70 kb)
Dieser Text ist Teil des Lektüreprojekts bellum iustum - der gerechte Krieg (Textsammlung: bellum iustum).
1, 24, 3 Foedera alia aliis legibus, ceterum eodem modo omnia fiunt. |
dimicare: kämpfen foedus, foederis, n.: der Vertrag; foedus icere: einen Vertrag schließen cuiusque: von quisque: wer auch immer, ganz gleich wer (von beiden) imperitare (mit Dativ-Objekt): beherrschen, die Herrschaft über jemanden haben |
1, 24, 4 |
vetustus: alt fetialis: der Fetialen-Priester pater patratus: der Oberpriester der Fatialen foedus ferire: einen Vertrag schließen sagmen, sagminis, n.: ein Grasbüschel pura: ergänze 'sagmina'; tollito: feierlicher Imperativ zu tollere (hier: holen) |
1, 24, 5 |
herba graminis: das Gras Quirites: altertümlicher, aber in Ciceros Zeit noch verwendeter Name für die Römer. vasa: (von vas, vasis, n: das Gefäß): die Gerätschaften (der Priester) |
1, 24, 6 Pater patratus ad ius iurandum patrandum, id est, sanciendum fit foedus; |
fetialis: der Fetialienpriester ad ius iurandum patrandum: zur Bekräftigung des Eides sancire: weihen, unverletzlich machen verbena, verbenae, f.: das Kraut, das Gras effatum: ausgesprochen, rezitiert operae est: es ist der Mühe wert |
1, 24, 7 "Audi" inquit, "Iuppiter; audi, pater patrate populi Albani; audi tu, populus Albanus. Ut illa palam prima postrema ex illis tabulis cerave recitata sunt sine dolo malo, utique ea hic hodie rectissime intellecta sunt, illis legibus populus Romanus prior non deficiet. |
palam: öffentlich cerave: cera, carae, f: das Wachs. Das angehängte -ve bedeutet 'oder'. utique ~ et ut deficere: von etwas abweichen |
Si prior defexit publico consilio dolo malo, tum ille Diespiter populum Romanum sic ferito, ut ego hunc porcum hic hodie feriam; tantoque magis ferito, quanto magis potes pollesque." Id ubi dixit, porcum saxo silice percussit.
|
defexit: altertümliche Form; in klassischem Latein müsste hier 'defecerit' stehen. Diespiter: andere Schreibweise für Iuppiter ferito: altertümlicher Imperativ (Imperativ 2, 3. Person Singular) zu ferire: schlagen, also: er soll schlagen polleo: stark sein, Kraft haben item: ebenso saxum silex: der Kieselstein; hier ist ein Stein gemeint, der im Heiligtum des Iuppiter Feretrius aufbewahrt wurde; es ist nicht sicher, um was für einen Stein es sich handelte - vielleicht um einen Feuerstein. Dieser Tempel auf der Südseite des Kapitol, nach Livius von Romulus gestiftet, wurde von Augustus restauriert. Der Stein hatte eine sagenhafte Bedeutung und wurde die ganze Antike über in Schwurformeln erwähnt. percutere, percutio, percussi, percussum: erschlagen peragere: durchführen |
Römische Münze aus dem Jahr 16 v. Chr.
Vorderseite: Augustus
Rückseite: Zwei Priester opfern ein Schwein.
Quelle: CNG Coins. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von CNG Coins.
Der König Ancus Martius stiftet die Riten für die Kriegserklärung
Die Fetialenpriester waren auch für die Kriegserklärungen zuständig. Nach dem Tod des kriegerischen Köngis Tullus Hostilius wurde sein Enkel Ancus Martius König, der die Regeln für die Kriegserklärungen festsetzte. Diese hatte noch bis in Augustus' Zeit Bestand, d.h. bestimmte Rituale wurden beibehalten. Aus dem folgenden Textauszug kann man erkennen, wie die Machtübergabe in der Königszeit funktionierte. Zu beachten ist hier immer, dass in der Forschung sehr umstritten ist, wie viel historische Wahrheit in den Berichten des Livius zu finden ist.
Die rituellen Formeln in den Abschnitten 1, 32, 7-8 sind hier weggelassen.
1, 32, 1 Quo comitia habente Ancum Marcium regem populus creavit; patres fuere auctores. Numae Pompili regis nepos filia ortus Ancus Marcius erat. |
patres: die Väter oder die Senatoren interrex, interregis, m.: der Zwischenkönig, ein Amt, das für den Übergang zwischen zwei Königen eingerichtet wurde. comitium: die Volksversammlung fuere ~ fuerunt. Auctores esse: die Leitung haben nepos, nepotis, m.: der Enkel |
1, 32, 2
|
avitus: großväterlich, vom Großvater ererbt memor (m. Genitiv): 'eingedenk', in Erinnerung an etwas proximum regnum: die vorangegangene Königsherrschaft, d.h. die Herrschaft des Tullus Hostilius cetera egregium: im Übrigen hervorragend (aber in einem Punkt, der im Folgenden genannt wird, weniger gut) haud ~ non ratus: Partizip Perfekt von reri, reor, ratus sum: meinen. Dieses Partizip Perfekt mit aktiver Bedeutung kann im Deutschen nicht nachgeahmt werden. Es kann wie ein Partizip Präsens Aktiv übersetzt werden omnia ist mit elata kongruent. commentarii regii: die Aufzeichnungen des Königs album: eine weiße Tafel |
Inde et civibus otii cupidis et finitimis civitatibus facta spes in avi mores atque instituta regem abiturum. |
avus: der Großvater (also Numa Pompilius, der als friedlich und religiös bekannt war). abire: hier: sich entwickeln |
1, 32, 3 |
foedus, foederis, n.: der Vertrag; foedus icere: einen Vertrag schließen animos tollere: neuen Mut gewinnen, übermütig werden incursio, incursionis, f.: der Überfall repetere: zurückfordern. Dieses Wort spielt eine Schlüsselrolle im römischen Verständnis des gerechtfertigten Krieges; es wird z.B. am Ende von 1, 32, 5 wieder aufgegriffen. desidem ... rati: dieser Teil des Satzes hängt von dem Partizip 'rati' ab; siehe hierzu die Erläuterung zu 1, 32, 2 (vorangehender Abschnitt). deses, desidis: untätig sacellum: das Heiligtum regnum agere: die Königsherrschaft verbringen oder durchführen |
Hinweis: Der folgende Satz ist etwas schwierig. Für das Verständnis des Folgenden ist er nicht unbedingt nötig. | |
1, 32, 4 temptari patientiam et temptatam contemni, temporaque esse Tullo regi aptiora quam Numae. |
medium est: es liegt in der Mitte, es hält ein Mittelmaß. Hier ist gemeint, dass Ancus Martius einen mittleren Weg zwischen dem kriegerischen Geist des Tullus Hostilius und der friedfertigen Regierungszeit des Numa Pompilius hielt. memor: 'eingedenk',am besten mit einem Verb zu übersetzen: er erinnerte sich an etwas.
cum in novo...: cum ... tum: sowohl als auch; novus (hier): jung; ferox: wild. Die Präposition 'in' kann am besten mit 'bei' übersetzt werden: bei einem sowohl jungen als auch wilden Volk quod illi contigisset otium: ordnen Sie so: etiam (credebat) otium, quod illi [= Numae] contigisset, se sine iniuria haud [~ non] facile habiturum [esse]. temptare: auf die Probe stellen. Man muss hier 'credebat' ergänzen. aptus (m. Dativ): (zu etwas) passend |
1, 32, 5. |
Numa: der König Numa Pompilius, der Großvater des Ancus Martius caeremonia, caeremoniae, f.: die heilige Verehrung, die Zeremonie prodere: hier: festlegen Aequiculi: andere Namensform für 'Aequi', ein italisches Volk. describere, describo, descripsi, descriptum: abschreiben, übernehmen, beschreiben. Hier passt nur die Bedeutung 'übernehmen'. repetere: siehe die Anmerkung zu 1, 32, 3 (vorangehender Satz) |
In den folgenden Absätzen sind einige Einzelheiten in der Darstellung der Zeremonie und der rituellen Formeln weggelassen. Den vollständigen Text findet man in der Latin Library oder in der Bibliothek des Packard Humanites Institute. | |
1, 32, 6 Ego sum publicus nuntius populi Romani; iuste pieque legatus venio, verbisque meis fides sit." Peragit deinde postulata. |
velare: verhüllen lana, lanae, f.: die Wolle fas (indeklinabel): das göttliche Recht, das Göttliche postulata peragere: die Forderungen vortragen |
1, 32, 9 "Audi, Iuppiter, et tu, Iane Quirine, dique omnes caelestes, vosque terrestres vosque inferni, audite; |
sollemnis: feierlich, heilig, vom Ritus vorgeschrieben Ianus Quirinus: römischer Gott des Anfangs (daher der Monatsname 'Januar'); über die genaue Bedeutung und die Formen der kultischen Verehrung dieses Gottes ist wenig bekannt. testari: zum Zeugen aufrufen maiores natu: die Ältesten adipisci, adipiscor, adeptus sum: erreichen, erlangen |
Im folgenden Satz liegt eine Textverderbnis vor. Man kann erschließen, dass nun der Senat um Rat gefragt wurde. Der König richtet an die Senatoren nacheinander diese Frage: |
|
1, 32, 11 |
lis, litis, f: der Streit. 'Rerum, litium, causarum' ist eine Aufzählung. condicere: übereinkommen, sich einigen. Die Person, mit der man eine Vereinbarung trifft, steht im Dativ, die Sache im Genitiv. quas res: die beiden Relativsätze, die mit 'quas' beginnen, sind von 'censes' abhängig; zu übersetzen sind sie mit 'was denkst du über...'. Prisci Latini: die Latiner; hier sind sie die Gegner im Kriegsvertrag. pater patratus: einer der Fetialen-Priester solvere, solvo, solvi, solutum: einlösen |
Tum ille: Inde ordine alii rogabantur; quandoque pars maior eorum, qui aderant, in eandem sententiam ibat, bellum erat consensum. Fieri solitum, ut fetialis hastam ferratam aut praeustam sanguineam ad fines eorum ferret et non minus tribus puberibus praesentibus diceret: |
duellum: altertümliche Form für 'bellum' quaerendas: zu ergänzen ist 'eas res'. Quaerere ist hier gleichbedeutend mit 'petere': verlangen. Die Bedeutung ist also ähnlich wie in 'repetere' (Vgl. oben § 1, 32, 3 und 1, 32, 5). consciscere: förmlich beschließen quando: sobald hasta, hastae, f.: die Lanze ferratus: eisenbeschlagen praeustus: im Feuer gehärtet sanguineus: aus dem Holz einer Kornelkirsche hergestellt puberes: Erwachsene |
"Quod populi Priscorum Latinorum hominesque Prisci Latini adversus populum Romanum Quiritium fecerunt deliquerunt, quod populus Romanus Quiritium bellum cum Priscis Latinis iussit esse senatusque populi Romani Quiritium censuit, consensit, conscivit, ut bellum cum Priscis Latinis fieret, ob eam rem ego populusque Romanus populis Priscorum Latinorum hominibusque Priscis Latinis bellum indico facioque." |
bellum indicere: den Krieg erklären |
Id ubi dixisset, hastam in fines eorum emittebat. Hoc tum modo ab Latinis repetitae res ac bellum indictum, moremque eum posteri acceperunt. |
posteri: die Späteren, die kommenden Generationen |
Anregungen für die Interpretation
-
Stellen Sie alle Aufgaben der Fetialen-Priester zusammen, die in diesem Textauszug genannt werden.
Gestaltende Zusatzaufgabe: Erstellen Sie für jede dieser Aufgaben eine Zeichnung. Sie können sich von dem Münzbild auf dieser Seite anregen lassen. -
Arbeiten Sie die Bedeutung der Götter für die Vertragsschließung heraus. Stellen Sie dafür alle Erwähnungen von Göttern zusammen.
-
In § 1, 32, 4 wird dem Ancus Martius ein 'ingenium medium' zugeschrieben. Erklären Sie, wieso gerade ein König mit dieser Charaktereigenschaft zu dem Entschluss kommen konnte, das förmliche Recht der Kriegserklärung festzulegen.
-
Fassen Sie die Bedingungen zusammen, die vorliegen mussten, damit ein Krieg erklärt werden konnte. Gehen Sie dabei auch auf das Verb 'repetere' ein, das in diesen Textauszügen mehrmals vorkommt. Hierzu gehört auch das Verb 'quaerere' in § 1, 32. Stellen Sie ferner die Wörter aus dem Sachfeld 'Recht', die in diesem Text verwendet werden, zusammen und untersuchen Sie die Funktion dieser Wörter für das römische Verständnis des Krieges.
-
Vergleichen Sie die in diesem Text genannten Bedingungen für einen Vertragsschluss, wie sie in der römischen Frühzeit galten, mit heutigen Auffassungen, und erörtern Sie, welche Bedeutung Riten und Zeremonien in der Politik der Gegenwart besitzen. Sie können dafür auch die Sammlung der Internetadressen zum Thema Gerechter Krieg heranziehen.
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de
Bitte beachten Sie eventuell abweichende Lizenzangaben bei den eingebundenen Bildern und anderen Dateien.