Exkurs in die Sprachwissenschaft

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Bredel 2007 formuliert Sprachstand als „eine eigen­ aktiv aufgebaute Varietät zum Erhebungszeitpunkt [...], [die] einerseits [...] aus sicheren und festen (korrekten und nicht korrekten) Strukturen; andererseits aus spezifischen (korrekten / nicht korrekten) Strategien zur Gewinnung neuen Wissens [besteht] (vgl. Bredel 2007, S. 97f).

Strukturen und Strategien [...] beziehen sich auf ver­schiedene sprachliche Teilqualifikationen. Diese sind nicht unabhängig voneinander; sie werden einander entwickelt und können jederzeit zum Gegenstand von Umbauprozessen werden [...] “ (vgl. Bredel 2007, S. 97f).

Diese Arbeitsdefinition zeigt bereits, wie komplex und veränderbar das Konstrukt Sprachstand ist. Auch Ehlich beschreibt für kompetentes Handeln in einer Sprache die Aneignung und Entfaltung einer Reihe von Einzelfähigkeiten als notwendig und benennt Basisqualifikationen (vgl. Ehlich et al. 2009, S. 18ff und Jeuk 2010, S. 54ff):

  • Phonische Qualifikation (phonetisch-phonologische Qualifikation)
  • Pragmatische und diskursive Qualifikationen 
  • Semantische Qualifikation
  • Morphosyntaktische Qualifikation
  • Literale Qualifikation

Diese Qualifikationen haben jeweils eine rezeptive und eine produktive Ebene. In der Regel entwickeln sich die rezeptiven Fähigkeiten zuerst. Die Qualifi­kationen fächern sich miteinander auf und bedingen sich gegenseitig, sie sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, da sie sich teilweise überschneiden (daher auch als Qualifikationenfächer bezeichnet). Die Entwicklung ist unterschiedlich und hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab.

In der Fremdsprachendidaktik findet sich die Eintei­lung in die vier Grundfertigkeiten Hören und Spre­chen, Lesen und Schreiben. Diese Einteilung kann für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache über­nommen werden. Die einzelnen Bereiche beinhalten die beschriebenen Basisqualifikationen. Es ist klar, dass eine Basisqualifikation nicht eindeutig nur einem Bereich zugordnet werden kann. In den einzelnen Bereichen müssen die verschiedenen Qualifikationen berücksichtigt werden bzw. bearbeitet werden.
Im Bildungsplan von Baden­-Württemberg des Faches Deutsch für die Grundschule findet sich die Eintei­lung in die prozessbezogenen Kompetenzen:

  • Sprechen und Zuhören
  • Schreiben
  • Lesen

und in die inhaltsbezogenen Kompetenzen:

  • Mit Texten und anderen Medien umgehen
  • Sprache und Sprachgebrauch untersuchen

 

Im Folgenden werden für die einzelnen sprachlichen Grundfertigkeiten bzw. Qualifikationen Bereiche benannt, die bei der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache von besonde­rer Bedeutung sind und einer genaueren Betrachtung bedürfen.

Aufgrund bisher vorliegender Forschungsergebnisse geht man davon aus, dass es beim Erwerb des Deut­schen als Erstsprache und dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache „strukturelle Ähnlichkeiten in der Abfolge der Aneignungsstufen gibt“, der Aneignungs­prozess aber keines Falls identisch verläuft, da der Er­werb unterschiedlichen Bedingungen unterliegt. Diese Bedingungen sind vielfältig und wurden zu Beginn der Empfehlung unter dem Stichwort „Hürden überwin­den“ bereits erläutert (s. Abschnitt zu Einflussfakto­ren) (vgl. Landua et al. 2008, S. 172).


Phonologische (phonische) Basisqualifikation:

  • Evtl. Verzögerungen beim Erwerb der Aussprache
  • Beeinflussung des Lautsystems des Deutschen durch Lautsystem der Erstsprache(n), besonders bei sukzessivem Erwerb und wenig Kontakt mit der Zweitsprache
  • Unterscheidung langer und kurzer Vokale, gerade bei Erstsprachen, die diese Unterscheidung nicht kennen
  • Erleichterung von Konsonantenhäufungen durch Weglassen oder Einsetzen von Sprossvokalen
  • Interferenzen im Bereich der Satzintonation


Pragmatische Basisqualifikationen:

  • Verwendung von Deixis (gestisch und sprachlich)
    • als Aufforderung zur Nennung fehlender Wörter
    • um Aufmerksamkeit des Gesprächspartners zu lenken und Referenzbezüge herzustellen
  • Wechsel in Erstsprache
  • Abnahme der Verwendung von Deixis bei zunehmendem Verstehen in der Zweitsprache
  • Mögliche Defizite im Bereich der Pragmatik
  • Schwierigkeiten bei einzelnen Sprechhandlungen insbesondere beim Erklären und Begründen: Verwendung einfacherer Formen in der Zweit­sprache als komplexere in Erstsprache. Problem: Diskrepanz zwischen konzeptualem Wissen des Begriffes und Möglichkeiten der verbalen Umsetzung (nähere Ausführungen siehe unter Prozedurorientierte Didaktik).


Semantische Basisqualifikation:
LEXIK

  • Entwicklung des Wortschatzumfangs im Wesentlichen analog zu Erstspracherwerb
  • Wortschatzlücken noch am Ende der Grundschulzeit vorhanden
  • Quantitative Zunahme des Wortschatzes korrespondiert mit Zunahme syntaktischer Kompetenzen
  • Gesamtumfang des Wortschatzes als Indikator für förderdiagnostische Zwecke schwierig, da Zweitsprachlerner/­lernerinnen über zwei sprach­spezifische Wortschätze verfügen und weiterhin eine Unterscheidung in rezeptiven und produktiven Wortschatz vorgenommen wird
  • Wortschatz wird domänenspezifisch erworben
  • Blick auf Teilwortschätze sinnvoll:
    • Zunahme der Verben kann als Indikator genutzt werden ­> Voraussetzung ist Entwicklung von raumbezogener Zeitvorstellung
    • Zunächst Erwerb von Bewegungsverben, dann Handlungsverben und später andere Verbtypen
    • Auch der Erwerb von Adjektiven und Adverbien stellt einen Indikator für einen fortgeschrittenen Wortschatz dar
    • Pronomen als Indikator: hier Anzahl der verwen­deten Untergruppen und beherrschte Kasusformen

 


SEMANTIK

  • Reihenfolge des Erwerbs der Wortbedeutungen hängt von der Erwerbssituation ab, ähnelt dem des Erwerbs des Deutschen als Erstsprache
  • Handlungsfelder der unmittelbaren Umgebung wie Essen, Körper, Kleidung, Möbel, Schule, Spielsachen, Tiere, Freizeit etc. werden zuerst semantisch besetzt
  • Häufig Überdehnungen, besonders im Bereich der Verben (beispielsweise in Kombination mit machen, gehen)
  • Abstracta entwickeln sich später
  • Passivformen schwierig, da die Unterscheidung des statischen sein und des dynamischen werden zunächst erworben werden muss
  • Verwendung bestimmter Strategien zum Schließen semantischer Lücken:
    • Einsatz von Gestik
    • Pausenfüller, Reduplikationen, Lautmalereien
    • Ersetzungen
    • Neologismen
  • Ausweichstrategien: Vermeiden von Themen, Gebrauch von sicher beherrschten Wörtern, Vermeiden von schwierigen sprachlichen Strukturen, Verschlucken von Endungen, schnelles Sprechtempo


Morphologisch-syntaktische Basisqualifikation:

  • Erwerb morphologisch-syntaktischer Strukturen vergleichbar mit dem Erwerb des monolingualen Erwerbs der Erstsprache, einzelne Phasen können jedoch schneller oder langsamer durchlaufen werden
  • Nominalflexion schwierig
  • Kategoriale Unterscheidung von Singular und Plural einfach, da auch in den meisten anderen Sprachen angelegt
  • Pluralmarkierung primär am Nomen selbst, sekundär durch Artikel oder andere Determinanten und durch Kongruenz
  • Pluralmarkierung am Nomen (im Deutschen acht verschiedene Formen, die nur partiell bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen; Voraussetzung ist Wissen über Genuszuordnung):
    • Umlaut
    • Umlaut + -e
    • Umlaut + ­ -er
    • -e
    • -en; Artikel bleibt gleich
    • -n
    • -s
    • Nullmorphem
    • Phase der Nichtverwendung von Artikeln
    • Verwendung von Einheitsformen (beispielsweise die oder der)
  • Danach zuerst die Nominativformen
  • Zuordnung des Genus wird Wort für Wort angeeignet, daher langer Prozess
  • Aneignung der Pluralformen benötigt Zeit, Allomorphe (­e, ­en, ­n, ­er, ­s) werden produktiv erworben, daher auch Übergeneralisierungen
  • Aneignung des Kasus in der Reihenfolge: Nominativ – Akkusativ – Dativ
  • Kasus dann korrekt gebildet, wenn Genuszuordnungen bekannt sind
  • Genitiv tritt spät auf; meist in der Schriftsprache
  • Erwerb der Verbflexion erfolgt bei DaZ-Lernern analog zu dem bei Erwerb des Deutschen als Erstsprache
  • Fortschritt von unflektierten zu flektierten Formen: Zeichen für voranschreitende Sprachaneignung
  • Entwicklung der temporalen Ausdrucksmöglichkeiten zeigt einen Fortschritt in der Sprachaneignung an und kann als Indikator für Entwicklung des Sprachstandes dienen; Reihenfolge ähnlich dem Erwerb des Deutschen als Erstsprache
  • Einfache Satzstrukturen werden ähnlich dem des Erwerbs des Deutschen als Erstsprache erworben
  • Aneignung der Verbstellungsregeln als Indikator
  • Profilstufen geeignet als Indikator
  • Präpositionalkonstruktionen werden in Phasen angeeignet: Auslassung – Verwendung von Einheits­ präpositionen – Verwendung von zwei oder mehreren Präpositionen
  • Verbindung von Sätzen und Satzgefüge als Indikator für Sprachstand
  • Unterscheidung zwischen grundsätzlicher Aneignung der parataktischen (kurze, einfache Sätze) und hypotaktischen (lange, verschachtelte Sätze) Verbindungen von Aussagen und der Aneignung einzelner Verbindungsmittel
  • Gebrauch von Konjunktionen: Zahl der verwendeten Konjunktionen steigt im Aneignungsprozess
  • Subordinierende Konjunktionen besonders geeignet, um qualitative Unterschiede in Lerner­sprachen aufzuzeigen: Verwendung verlangt erhöhte syntaktische und lexikalische Kompetenz


Diskursive Basisqualifikation:

  • Übereinstimmungen mit Erwerb des Deutschen als Erstsprache
  • Ausbildung altersgerechter Diskursfähigkeit (DaZ) kann längere Zeit in Anspruch nehmen, da komplexe Qualifikation, in der Prozesse der kognitiven Entwicklung, der Aneignung sprachlicher Mittel und der institutionellen Bildung eine Rolle spielen
  • Erzählfähigkeit (versch. Bereiche: Thema/Rhema; Makrostruktur, Vollständigkeit, Berücksichtigung der Hörerperspektive, Textform) als Indikator für Sprachstand

 

Literale Basisqualifikationen:

  • Schriftspracherwerb in der Zweitsprache verläuft parallel dem in der Erstsprache: Aufschreiben von Lauten – Berücksichtigung morphologischer Gegebenheiten – Berücksichtigung orthographi­scher Gegebenheiten
  • Alphabetische Schreibung bereitet keine Probleme, erst wenn Texte komplexer werden und grammati­sche Fähigkeiten eine zunehmende Rolle spielen
  • Bei Erstalphabetisierung kann direkter Einfluss aus der Erstsprache vernachlässigt werden (lautliche Erschließung)
  • Bei Lernerinnen und Lernern, die bereits in der Erstsprache alphabetisiert wurden, können Interferenzen häufig beobachtet werden
  • Sogenannte „verdeckte Sprachschwierigkeiten“, die erst auftreten, wenn Sprache und Texte komplexer werden
  • Orthographische Fehler sind sowohl im Erwerbsprozess der Erstsprache als auch der Zweitsprache ein Indikator für förderdiagnostische Zwecke
  • Kinder, die bereits über Text- und Erzählkompetenz in ihrer Erstsprache verfügen, realisieren häufiger narrative Muster
  • Einteilung in Formulierungs-, Text- und Erzählkompetenz eignet sich zur Profilbildung für diagnostische Zwecke
    (gesamte Ausführungen vgl. Landua et al. 2008, S. 171­201).

Für die einzelnen Bereiche sind in der Literatur Beobachtungsbögen zu finden:
Stolpersteine der deutschen Sprache:
Beobachtungsbogen für die gezielte Sprachförderung im Hinblick auf die Stolpersteine der deutschen Sprache. KV 38. In: Rösch, Heidi (Hrsg.) (2003): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung – Grundlagen – Übungsideen – Kopiervorlagen. Aufnahmebogen zur Erfassung des Sprachgebrauchs im Alltag. Schroedel. Braunschweig.
Weitere Möglichkeiten zur Erhebung/Erfassung des Sprachstandes werden unter dem Punkt „Möglichkei­ten der Diagnose“ erläutert.


Weiterführende Literatur

 
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Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

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